Название | Wenn Schattenmächte weichen |
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Автор произведения | Judith Berger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783946435112 |
Er konnte nicht sprechen. Nicht wie die wilden Tiere im Wald. Damals, vor langer Zeit, hatte er sich entschieden ein Bussard zu werden. Hatte seine Gestalt ausgetauscht mit der eines Tieres. Eines Bussards, der den Menschen viel zu nah gewesen war und wie alle Tiere, die den Menschen zu nahe waren, die Sprache verloren hatte. Tunai konnte nicht sprechen. Und er war selbst schuld daran. Er hatte damals am See der Wahrheit entschieden sich zu wandeln. Die Welt der mächtigen Wesen zu verlassen und ein Bussard zu werden. Er hatte sich gegen die Macht entschieden und sein Herz behalten. Nun war er ohne Sprache und musste zusehen wie Mila unaufhaltsam weitermarschierte. Schritt um Schritt auf das Dorf zu.
In Tunais Herzen brannte es. Er durfte nicht zulassen, dass dieses Licht ins Verderben lief. Dass das Kind von den dunklen Schatten erstickt wurde. Sie musste stehenbleiben. Sofort.
Wie ein Pfeil schoss er hinab zur Erde. Im Sturzflug. Landete mit Wucht vor ihr im staubigen Gras. Seine Krallen bohrten sich in die trockene Erde. Schnell drückte er die Beine durch. Er war so klein.
Mila stoppte. Erstaunen spiegelte sich in ihren Augen.
Kehre um, Kind, warnte sein Blick.
Und da sah er es. Wie hinter einem Schleier verborgen. In ihren grünen Augen war ein winziger Hauch des Erkennens. So dünn, nicht zu erhaschen. Und doch war er da.
Wärme durchspülte Tunais Herz. Ich bin es, Tunai. Dein Begleiter, der schon so lange über dich wacht. Du kennst mich. Ich war all die Jahre da. Habe dich vom Himmel aus begleitet. Mila, ich bin dein Begleiter.
Sie stand ganz still. Sah ihn an. Ihre Augen versunken in den seinen. „Was … tust du hier?“
Ihre Stimme war klar und hell wie Wasser.
Ich warne dich. Geh nicht ins Dorf.
„Ich habe dich schon gesehen. Oben, am Himmel.“
So ist es. Und du sollst umkehren.
Sie lachte auf. „Bamper hat dich auch schon gesehen. Deshalb hockt er meistens im Gebüsch. Er hat eine Heidenangst vor dir.“ Ihr Blick glitt über seinen Körper. Ein Flüstern schwebte aus ihrem Mund. „Du bist wunderschön.“
Dann sieh noch tiefer in mich hinein. Höre, was ich dir sage. Kehre um.
Tunai flatterte mit den Flügeln.
„Was ist mit dir? Brauchst du Hilfe?“
Nein, Kind, du brauchst Hilfe. Geh schnell in den Wald. Erneut stieß er einen Schrei aus. Laut und warnend.
Bedauern in ihren Augen. „Es tut mir leid. Ich muss ins Dorf. Dringend. Aber ich verspreche dir, ich komme zurück.“
Nicht ins Dorf! Tunais Herz waberte heiß gegen seine Brust. Sie werden dich zerstören, Mila.
„Ich komme zurück.“ Mit diesen Worten ging sie an ihm vorbei, als wäre er irgendein bedeutungsloser Flattermann. Er war ein bedeutungsloser Flattermann. Nicht mehr als ein Vogel, der aufgeregt auf dem Boden herum hüpfte. Und er musste mitansehen, wie Mila weiter schritt. Die ersten Häuser ragten drohend vor dem Kind auf.
Das heiße Wabern in Tunai zerbarst beinahe seine Brust. Er schwang sich in die Luft, flatterte Mila nach. Schnell griffen seine Krallen nach ihrem Gewand bei der Schulter.
Ihr Kopf fuhr herum. Schreckgeweitete Augen. „Lass das. Bist du verrückt geworden?“
Nein, nicht verrückt. Verzweifelt. Tunai zog und zerrte. Sie musste einfach umkehren!
Aus ihrem Gesicht schlug ihm Panik entgegen. Wie ein Messer fuhr ihre Angst in sein Herz. Schnell ließ er los, als hätte er sich verbrannt.
Der Korb traf ihn hart am Kopf. Tunai wurde zu Boden geschleudert. Dreck und Staub spritzten auf. Sein Schnabel grub sich in die Erde.
Benommen blieb Tunai liegen. Er konnte nur noch den Blick heben um zuzusehen, wie Mila ins Dorf rannte. Mitten in ihr Ende. Schon sogen die ersten Häuser das Mädchen auf. Es war zu spät. Tunai hatte versagt. Er war nur ein hilfloser Vogel.
Still lag er am Boden. Spürte, wie der Wind durch seine grauen Federn blies. Sanft, beinahe spielerisch. Es zupfte und zippelte am weichen Flaum. Ließ die feinen Federhärchen hin und her tanzen. Und der Wind brachte eine Botschaft. Wehte sanft einen weit entfernten Ruf in Tunais Herz. Einen Ruf, von dem er nie gedacht hätte, dass er noch da war. Den Ruf aus einer anderen Welt, einem anderen Leben. Es war der Ruf seiner wahren Gestalt. Einst war er ein Wesen gewesen, großartig und stark. Mit riesigen Schwingen, kräftigen Beinen. Er war mächtig gewesen und von ihm war eine Kraft ausgegangen, die genauso stark gewesen war wie Ludetta. Einst war er ein Wesen gewesen mit einer wunderschönen Stimme, die Mila hätte warnen können. Er hatte gelebt, geliebt und dann hatte er gelitten. Damals, als er den größten Schritt seines Lebens getan hatte. Er hatte sich für sein Herz entschieden und gegen die Macht. Damit hatte er alles verloren, was ihm wichtig und wertvoll gewesen war. Alles, sogar die Liebe. Er hatte seine Gestalt abgelegt und mit der des Bussards getauscht. Doch nun rief sie ihn zurück. Es schien wie der Ruf seines Herzens.
Tunai blickte zu den Häuserschluchten, zwischen denen Mila verschwunden war. Die Hexe würde das Strahlen des Mädchens zerstören. Das sprudelnde Leben für immer ersticken.
Nein, schrie es in Tunai, als er die Krallen in den Boden stemmte. Nein, hallte es durch seinen Kopf, als er sich aufrappelte. Nein, schlug sein Herz, als er seine Federn ausschüttelte. Er war vielleicht nur ein Bussard, doch er würde fliegen. Die Vogelgestalt würde ihn tragen bis zum See der Wahrheit. Er würde den Bussard ablegen und als machtvolles Wesen hervortreten. In seiner ureigensten Gestalt. Mit aller Kraft und Stärke. Er würde Ludetta die Stirn bieten. Er konnte die Hexe nicht zerstören, genauso wenig wie sie ihn. Das war der bittere Hohn des Schicksals, der sie beide verband. Doch er würde sich vor Mila stellen und verhindern, dass Ludetta ihre Klauen um sie legte. Die Hexe würde schreien, wüten, toben, doch sie würde dem Mädchen nichts antun können.
Nur schnell genug musste er sein. Prüfend glitt sein Blick zur Sonne, die sich Richtung Horizont schob. Es war ein weiter Weg zum See der Wahrheit. Tunai musste zurück sein bevor die Nacht fortgeschritten war. Bevor die Versammlung in vollem Gange war. Sonst wäre Mila verloren.
Tunai breitete seine Schwingen aus und stieß sich ab. Mit kräftigen Flügelschlägen hob er sich in den Himmel. Mila, rief sein Herz, als er sich auf den Wind legte und über ihm dahin sauste. Halte durch, mein Kind. Ich komme!
Sie würde nicht mehr weit gehen müssen bis zu den großen Buchen. Sie befanden sich am Eingang des Dorfes. Nur noch die Straße entlang, über die kleine Brücke und dann zur Tränke. Dort standen die Buchen und in einer Wurzel der mittleren Buche musste eine Kerbe eingeschnitzt sein. Unter der Kerbe befindet sich ein Schatz, hatte Oma geschrieben. Nimm ihn an dich, bevor du 16 Jahre bist, dann wird dir nichts geschehen. Mila blickte zum Himmel. Die Sonne näherte sich dem Horizont. Morgen war ihr 16. Geburtstag. Sie musste den Schatz finden. Heute. Jetzt. Der Schatz war ein Schutz, hatte Oma geschrieben. Oh, sie brauchte den Schutz. Heute schon, um in den Dorfladen zu Ignaz zu gehen. Ein Schauder lief über ihren Rücken, als sie an den Zwerg dachte. Schnell verscheuchte Mila die Gedanken. Der Schatz war nun wichtiger. Das Vermächtnis ihrer Mutter.
Milas Herz schlug schnell. Sie wusste nicht viel über ihre Eltern, die beide früh gestorben waren. Nur, was Oma ihr erzählt hatte. Dass ihre Mutter wunderschön gewesen war. Mit langen, dunklen Haaren und grünen Augen. Dieselben Augen wie Mila, hatte Oma gesagt, und dasselbe zierliche Gesicht.
Was war es wohl, dass ihre Mutter versteckt hatte? Was verbarg sich unter der Kerbe? Ihr Herz klopfte und ihre Schritte wurden schneller.
Das Dorf sah beinahe aus wie vor drei Jahren. Hier war die Mauer auf der sie früher balanciert war, fast ohne Hilfe. Und dort waren die Häuserreihen, in denen die Frauen von Fenster zu Fenster gequatscht hatten. Wenn sie vorbeigegangen waren, hatten sie ihnen fröhlich zugewinkt. Heute