Название | Wenn Schattenmächte weichen |
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Автор произведения | Judith Berger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783946435112 |
„Ja. Natürlich.“ Er kniff die Augen zusammen. „Die Sonne ist weg. Du solltest vor Sonnenuntergang hier sein?“
Mit dem Böser-Zwerg-Spiel konnte er sie nicht schrecken. „Du warst nicht da und ich hatte Wichtiges zu tun. Jetzt bin ich hier.“
„Mädchen, wir haben gesagt vor Sonnenuntergang und meine Frau war die ganze Zeit über im Laden. Du bist zu spät.“
„Möchtest du nun Tinkturen und Salben tauschen oder nicht?“
„Ja“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „aber nach Sonnenuntergang ist meine Ware teurer – nur, dass du’s weißt.“
Mila seufzte und folgte ihm.
Sie freute sich nicht auf den Laden, selbst wenn ihr die rosa getünchten Wände des Hauses immer gefallen hatten. Doch sie freute sich auf die Kammer unterm Dach. Dort, wo Hedwig wohnte. Die Freundin ihrer Oma. Bei jedem Gang ins Dorf waren Oma und sie nach oben gestiegen und hatten Hedwig besucht. Hedwig. Ihr Lächeln hatte in jeder der unzähligen Falten geruht. Sie hatte Mila die schönsten Zöpfe geflochten, ihr heimlich Zuckernüsse zugesteckt und ihr immer und immer wieder das Lied der kleinen Lerche vorgesungen das Mila so geliebt hatte. Sie hörte ihre Stimme noch heute. „… Drum sei getrost mein Lerchenkind, so sicher wie der Frühlingswind, kehrst du wieder zurück.“
„Lebt die alte Hedwig noch?“, fragte sie vorsichtig.
Ignaz antwortete nicht. Machte keinen Mucks. Sie wusste nicht einmal, ob der Zwerg sie gehört hatte.
„Hedwig, die bei euch unterm Dach wohnt.“
Stapf – stapf, machten seine Schritte und sein Bart schwang dazu hin und her.
Ein kleiner Schatten stieb vor ihnen davon und verschwand in eine Mauerspalte. War das eine Ratte gewesen? Sie war das einzige Lebewesen, das sich auf die Straße traute – außer ihnen.
Sie bogen in eine enge Gasse ab. Auch hier waren alle Fensterläden dicht geschlossen.
„Wovor haben die Leute Angst?“, fragte Mila. Ihre Stimme wurde von den Häuserwänden zurückgeworfen. „Weshalb sind die Straßen leer? Warum sitzt das Dorf hinter verschlossenen Läden?“
Ignaz blieb stehen. Starrte sie an.
„Wovor haben sie Angst, Ignaz?“
„Ha.“ Sein Lachen klang wie ein Kanonenschuss. „Ha, ha. Du weißt es nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Das kann nur einem Weibsbild passieren. Einem furchtbar dummen.“
In Mila brodelte es. So als ob viele Pferde mit den Hufen scharrten. Böse funkelte sie den Zwerg an.
Der schien es nicht zu bemerken. Er rieb sich eifrig die Hände. „Wieviel ist dir meine Antwort wert?“
„Gar nichts“, stieß Mila hervor. Sollte ihr der Zwerg mit seinen Beleidigungen doch vom Leibe bleiben. „Überhaupt gar nichts!“
Stapfend setzte sie sich in Bewegung. Schnell. Absichtlich. Doch der Zwerg konnte marschieren. Seine Beine bewegten sich schnell wie ein Wasserrad. Und genauso unermüdlich. Stapf, stapf, stapf, stapf. Er musste nicht einmal schwer atmen. Marschierte einfach eifrig neben ihr her, als wäre nichts gewesen.
Unruhig schnaubten die Pferde in ihr. Mila ballte die Hände zu Fäusten und presste die Lippen zusammen. Kein Wort würde sie mehr sagen.
Vor ihnen tauchte der Laden auf. Natürlich hatte er geschlossen, doch so einen Anblick hätte Mila nicht erwartet. Sie stoppte. Das Haus sah regelrecht zugenagelt aus. Wo früher rot gestreifte Gardinen die Fenster geziert hatten, waren nun dicke Bretter. Statt ausgestellter Waren auf der Straße, sah sie eine stinkende Pfütze. Und statt einer herzlich offenstehenden Tür, hing da ein Schild mit einem Pfeil, man solle zum Seiteneingang gehen. Alles war zu. Mit Angst dichtgemacht. Der Laden, die Straße, das ganze Dorf. Die Angst lag in jedem Winkel, schaute aus jeder Mauerspalte und hockte in jeder Ecke. Sie beherrschte das Dorf mit kaltem Atem.
„Komm mit.“ Der Zwerg marschierte um die Ecke, in die Seitengasse. Mila folgte ihm.
Ein Bündel lag am Boden. Mila stockte. Es sah beinahe aus wie ein Mensch, der am Boden saß. Sie blinzelte. Es war ein Mensch, zusammengekauert am kalten Straßenrand.
„Wer ist das?“, stieß Mila aus und machte einen Schritt auf die Gestalt zu. Es musste eine Frau sein. Ihr Kopf war gesenkt. Bedeckt von einem dicken Tuch.
„Das ist nur die verrückte Hedwig“, klang die Stimme des Zwerges. „Sie sitzt immer hier. Komm jetzt.“
„Wer?“ Mila fuhr herum. Erst zum Zwerg, dann zurück zu der Frau. War das ihre Hedwig? Dieselbe, die in der Kammer wohnte?
„Hedwig?“ Mila flog beinahe hinzu und legte die Hand auf die Schulter der Frau. Ihre Kleider waren klamm. Die Knochen standen mager und spitz heraus. Gleich würden sie zerbrechen.
„Hedwig.“
Langsam hob sich der Kopf. Milchige Augen sahen an Mila vorbei ins Nirgendwo. Es war ihre Hedwig. Die Frau, die Mila auf die Knie genommen und mit ihr im Schaukelstuhl hin und her geschwungen war. Die Frau, die nach Veilchen geduftet hatte und deren Gesicht so warm geleuchtet hatte wie die Sonne selbst.
Das Leuchten war erloschen. Elend saß in jeder Falte. Sie war nur noch ein Häufchen.
„Hedwig.“ Ein bitterer Schreck wallte durch Milas Herz.
Zitternd griff die alte Hand nach Mila. Knorrige Finger legten sich um ihren Arm. „Du hast mich gesehen“, knarzte eine dünne Stimme. „Man sieht mich und sieht mich nicht, doch du hast mich gesehen.“
„Wie …?“ Mila schluckte. Wie hatte es passieren können, dass die gute Hedwig schmutzig, stinkend und zitternd im Dreck saß?
Mila hob den Blick zum Zwerg, der breitbeinig in der Gasse stand.
„Wie kannst du das nur zulassen. Vor deinem eigenen Haus!“
Er zuckte mit den Schultern. „Sie hat ihre Miete nicht bezahlt.“
„Sie hat … was? Du hast sie einfach auf die Straße gesetzt? Bist du verrückt?“ Da waren die Pferde wieder in ihr. Sie bäumten sich auf, schnaubten und wieherten. „Du bist völlig durchgedreht! Jemand muss dir den Verstand gestohlen haben. Hilf mir sofort, Hedwig hinein zu bringen!“ Mila umfasste vorsichtig die dünnen Schultern der Frau.
„Stopp!“, donnerte der Zwerg. „Keinen Schritt macht sie in mein Haus. Diese Jauchegrube hat hier nichts verloren.“
„Du wirst mich nicht aufhalten sie nach oben zu bringen!“ Kampfbereit schlugen Milas Pferde mit den Hufen. Rauch stieg aus ihren Nüstern auf. Mila konnte sie kaum zurückhalten.
Der Zwerg stemmte die Arme in die Seiten. „Wenn du sie irgendwohin bringst, dann eine Straße weiter, damit meine Kunden diesen Kothaufen eines alten Esels nicht ansehen müssen.“
Nun donnerten sie los. Hundert Pferdehufe. Flammenroter Rauch stieb aus ihren Nüstern. Schwarze Blitze in den Augen. Mila sah nur den Zwerg. Diesen grässlichen, abscheulichen Zwerg!
Mit unbändiger Kraft stießen ihre Hände gegen seine Brust. Er wankte nach hinten. „Das sagst du nie wieder!“ Mila holte aus. Sie hob ihre Hände, sammelte alle Kraft, fuhr nach vorn und schlug ins Leere. Der Zwerg war ausgewichen und Mila fiel ins Nichts. Sie knallte auf Hände und Knie. Schnell rappelte sie sich auf, doch bevor sie sich umdrehen konnte, wurde ihr Arm gepackt, auf ihren Rücken gelegt und nach oben gezogen. Die Finger des Zwerges lagen mit eisernem Griff um ihr Handgelenk. Sie stand hilflos da. Schmerzensblitze durchfuhren ihre Schulter, als der Arm weiter nach oben gebogen wurde. Sie schnappte nach Luft.
Vor ihr, in der Tür des Ladens, sah sie Kriemhild mit großen Kulleraugen stehen. Die Hände vor den Mund geschlagen.
„Mach das nie wieder“, zischte es in Milas Ohr. „Schubse nie mehr einen Zwerg. Hast du mich