Der Pascha aus Urnäsch. Abdullah Dur

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Название Der Pascha aus Urnäsch
Автор произведения Abdullah Dur
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302588



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gekauft. Die Frau hat von den Häusern und Geschäften erzählt, da kann man nur neidisch werden! Du weisst das natürlich nicht, weil du so etwas auch noch nie gesehen hast! Du kommst ja höchstens bis auf die Schwägalp und wieder zurück nach Urnäsch. Das ist eben mein Schicksal. Alles, was ich am Leib trage, hab ich selbst genäht, und meine Kleider sind überall geflickt. Ich möchte auch ab und zu ein Stück Fleisch essen! Aber du bist ja nicht einmal imstande, die Wildschweine und Rehe im Wald zu jagen, die Gott uns allen gegeben hat. Wenn mir Gott nicht einen Mann gegeben hätte, der für die anderen umsonst arbeitet, wär mir all das erspart geblieben!»

      Der Grossvater erwiderte die Klagen seiner Frau bloss mit einem leisen Schmunzeln in seinen Bart hinein.

       Die ersten Gehversuche als Zimmermann

      Es war im September 1838. Bei ungewöhnlicher Hitze sammelten Ueli und sein Grossvater im Wald Pilze.

      «Mein Gott, so eine Hitze, und das zu dieser Jahreszeit!», stöhnte der Grossvater. «Das hat nichts Gutes zu bedeuten. Dieser warme Föhnwind dörrt alles aus. Es ist erst eine Woche her, da hat es ununterbrochen geregnet, aber jetzt ist schon alles wie versengt. Dass die Pilze so aus dem Boden schiessen, muss an diesem warmen Wetter liegen.»

      Genau in diesem Moment sahen sie am Horizont dicke Rauchschwaden aufsteigen, es musste im Dorf Heiden sein. Ueli merkte, wie der Grossvater vor Furcht zitterte.

      «Was für ein Qualm! Ich hab mein Lebtag kein so grosses Feuer gesehen.»

      Sofort machten sie sich auf den Rückweg. Einen Korb Pilze hatten sie gesammelt, beim Tragen wechselten sie sich ab. Auf dem Heimweg sprach der Grossvater rhythmisch vor sich hin, als sänge er ein Lied:

      «Meine Damen, meine Herren!

      Die Speisekarte für diesen Winter:

      Pilzsuppe hmmm

      Eingelegte Pilze hmmm

      Gebratene Pilze hmmm

      Graupen mit Pilzen hmmm

      Jawohl, wie man schon sieht

      Diesen Winter gibt’s sonst nichts

      Als lauter Pilze!»

      Ueli fügte hinzu: «Etwas hast du aber vergessen, Pilzgrossvater!»

      «Was denn?»

      «Pilzschnaps!»

      «Du bist doch erst zwölf, du kleiner Pilzkopf, aber du weisst wohl schon alles!»

      «Das liegt vielleicht daran, dass ich dein Enkel bin!»

      Sie kicherten.

      Schlechte Nachrichten verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Heiden lag sieben Stunden Fussmarsch entfernt. Doch jedermann weit und breit wusste bereits, dass in der Werkstatt des Schmieds Konrad ein Brand ausgebrochen war, dessen Flammen auf das ganze Dorf übergegriffen hatten, so dass die aneinander gebauten Häuser sämtlich abgebrannt waren.

      Sofort am Tag nach dem Brand versammelte der Grossvater die ganze Familie Kurt um sich, um zu verkünden: «In einer solchen Lage kann man die Heidener nicht im Stich lassen. Wir gehen gleich morgen dorthin. Niemand weiss, wie lange wir bleiben werden. Für euch hier wird das Leben vielleicht mühselig, solange wir weg sind» – als er das sagte, wandte er den Blick den Frauen zu, um sie eindringlich anzusehen – «aber ihr habt wenigstens ein Bett und ein Dach über dem Kopf. Die Obdachlosen dort haben nicht einmal das. Der Winter steht vor der Tür. Wenn wir ihnen nicht helfen, erfrieren sie. Und in den Augen unseres Herrgotts sind dann auch wir gestorben.»

      Am nächsten Morgen ritten Ueli Kurt, der Grossvater, der Vater und der Onkel auf den fünf Rössern, die es im Dorf gab, nach Heiden. Die Besitzer der Pferde hatten sie der Familie Kurt mit auf den Weg gegeben, denn zu Fuss wäre es unmöglich gewesen, das ganze Zimmermanns- und Maurerwerkzeug bis nach Heiden mitzunehmen, und sie schleppten alles mit, was sie an Werkzeug besassen. Einer der Pferdebesitzer begleitete sie, um die Tiere wieder zurückzubringen.

      Auch viele andere Urnäscher vergassen ihre eigene Armut. Sie packten alles in Säcke, was sie an Lebensmitteln und Kleidung entbehren konnten und machten sich nach Heiden auf.

      Dass Ueli mit seinen zwölf Jahren vom Grossvater mitgenommen und wie ein Erwachsener behandelt wurde, gefiel dem Jungen natürlich sehr und erfüllte ihn mit Stolz. Als sie unterwegs eine Verschnaufpause einlegten, ging Ueli zum Grossvater, um ihn zu fragen: «Was bedeutet es, wenn wir in den Augen unseres Herrgotts gestorben sind?»

      Der Grossvater fuhr sich mit der Ellbogenbeuge über die Nase, um den Schweiss abzuwischen. «Von wem hast du dieses leere Gerede?»

      «Von dir! Erst gestern hast du gesagt, wenn wir den Heidenern nicht helfen, sterben sie alle, und dann sind wir für unseren Herrgott auch tot. Hast du das etwa vergessen?»

      «Das soll ich gesagt haben?»

      «Ja, du, und zwar vor der ganzen Familie! Gestern Abend erst, als du uns alle zusammengerufen hast.»

      Schnell machte der Grossvater sich auf und ging weiter, als liefe er vor etwas davon. Ueli verstand die Antwort trotzdem. Der alte Mann war keiner, der auf jede Frage eine Antwort parat hatte. Fragen, auf die er keine Antwort wusste oder keine geben wollte, überhörte er einfach oder wich ihnen aus.

      Als sie nach Heiden kamen, erstarrten sie. Der Grossvater stammelte: «Um Gottes willen! Was für eine Brandkatastrophe, unglaublich! Ich hatte nicht gedacht, dass es so schlimm wäre.» Er legte Ueli die linke Hand auf die Schulter und deutete mit der rechten auf die Überreste eines Gebäudes. «Das Haus da hat den Steiners gehört. Alles ausser den Grundmauern haben zwei Meister aus Heiden und ich gebaut. Die ganzen Verzierungen an der Fassade habe ich geschnitzt. Du warst damals noch nicht auf der Welt.»

      Das Dorf war kohlrabenschwarz. Vor den Mauerresten sassen verzweifelt blickende Menschen, deren Kleidung, Haare und Gesichter ebenso schwarz waren wie ihre verkohlten Häuser. Auf den Wegen war einfacher, kleiner Hausrat aufgestapelt. Die Dorfbewohner hatten alles, was sie vor den Flammen bewahren konnten, weit entfernt von den Brandherden aufgeschichtet.

      Alte Leute und Kinder lagen ausgestreckt auf Matratzen, die kreuz und quer auf die Wege geworfen waren. Frauen kochten in grossen Kesseln auf offenem Feuer Graupensuppe und Ribelmais. In manchen Kesseln schmorte das Fleisch der verendeten Tiere und wurde Einheimischen wie von weither kommenden Fremden gereicht. Die Menschen hatten sich auf der Strasse versammelt. In ihren Gesichtern erkannte man die schrecklichen Spuren von düsterer Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung. Aus vielen Ruinen stieg immer noch pechschwarzer Rauch auf. Alles war abgebrannt ausser einer Handvoll Häuser, die etwas abseits des Dorfs lagen.

      Als der älteste Sohn von Albert Sonderegger beim Versuch, Mobiliar zu retten, den Flammen zum Opfer fiel, schrie Pfarrer Hohl in einem fort: «Ins Feuer zu gehen bedeutet, sich gegen Gott aufzulehnen, es bedeutet, ihn zu missachten! Das ist eine unverzeihliche Sünde. Wenn ihr überlebt, wird Gott euch wieder Bett und Tisch, Schüsseln und Geschirr bescheren. Aber dazu müsst ihr überleben. Gott, der Allmächtige, gibt euch alles, was ihr braucht, wenn ihr euch nur ehrlich darum bemüht. Geht nicht ins Feuer! Euer Leben ist doch wertvoller als ein hölzerner Milchtopf! Lehnt euch nicht gegen Gott auf!»

      Ein Heidener reichte den vier Ankömmlingen Wasser aus einem Tonkrug. «Seht ihr, genau hundertfünfzig Häuser sind abgebrannt. Nur sieben Häuser konnten erhalten werden. Dafür danken wir Gott. Alles geschieht nach seinem Willen.»

      Genau in diesem Moment stieg Pfarrer Hohl auf eine Erhöhung auf dem Dorfplatz vor der halb abgebrannten Kirche, um eine kurze Rede zu halten: «Euch allen gilt mein Mitgefühl. Dass ich heute diese Ansprache vor einer halb verbrannten Kirche halte, ist vielleicht eine Ehre, die mir und euch von Gott zuteil wird, eine Ehre nicht nur für uns Heidler, sondern auch für all die Menschen, die uns in diesem Moment beistehen. Mit dem Brand wurden uns nicht nur unsere Häuser, sondern auch unsere Erinnerungen genommen. Manchen unter uns war es noch nicht einmal beschieden, einen einzigen Tag in dem Haus zu leben, das sie unter tausend Mühen errichtet hatten. Vielleicht wollte Gott uns lehren, die Schwierigkeiten nachzuvollziehen, mit denen unser Herr Jesus Christus einst zu kämpfen