Название | Der Pascha aus Urnäsch |
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Автор произведения | Abdullah Dur |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858302588 |
Ueli konnte sich noch gut erinnern, dass der Vater früher oft in Appenzell gearbeitet hatte und von dort immer Süssigkeiten mitbrachte; beim Gedanken daran lief ihm jetzt noch das Wasser im Mund zusammen. Er und seine vier Geschwister warteten ungeduldig und voller Vorfreude auf seine Rückkehr. Wenn sie ihn aus der Ferne kommen sahen, rannten sie ihm entgegen und warfen sich ihm in die Arme. Der Vater gab jedem von ihnen ein, zwei Bonbons, und die Kinder setzten sich auf einen Stein, um sie glücklich zu lutschen. Diese Momente gehörten zu Uelis glücklichsten Kindheitserinnerungen.
Nun war gar nicht mehr an solche Freuden zu denken. Er war sechzehn Jahre alt und würde bald heiraten. Wer weiss, vielleicht bekomme ich bald selbst Kinder und bringe ihnen Süssigkeiten, dachte er. Zu heiraten hätte er sich schon vorstellen können, nur dass es Rösli sein sollte, machte ihn wütend. Der einzige Mensch, mit dem er über das Thema sprechen konnte, war seine Mutter, doch als er ihr eröffnete, dass er Rösli nicht zur Frau haben wolle, bekam er zur Antwort: «Das eigene Kupfer ist besser als fremdes Gold.»
Uelis Mutter Anna Maria hatte eine Sprachbehinderung, deshalb ging sie Gesprächen mit Fremden aus dem Weg. Die Worte stolperten und holperten ihr in Bruchstücken über die Lippen. Die Familie verstand zwar auch nicht immer, was sie meinte, konnte es aber meist erraten. Manchmal, wenn sie sich gar nicht auszudrücken vermochte, verkroch sie sich in einen Winkel und hing düsteren Gedanken nach. Märchen konnte sie ihren Kindern nie erzählen. Aber sie machte Faxen, um die Kinder aufzuheitern, bemalte sich das Gesicht mit Kohle, verkleidete sich und imitierte die Tiere. Immer morgens, wenn sie zum Melken in den Stall ging, sprach sie lang mit den Tieren. Es war, als erzählte sie den Kühen, Schafen, Ziegen und Hühnern im Stall all das, was sie ihrer Familie nicht sagen konnte.
Der Vater spottete darüber: «Dieses Weib versteht sich am besten mit dem Vieh, soll sie doch gleich im Stall schlafen!» Die Mutter hörte stumm zu, wenn er solche gefühllosen, überheblichen Angriffe machte.
Wenn man dem Vater widersprach oder ungehorsam war, setzte es eine gehörige Tracht Prügel. Den grössten Teil davon bekam die Mutter ab. In den Augen des Vaters war sie ein wertloses, nichtsnutziges Geschöpf, das nichts anderes als Schläge und Verachtung verdiente. Der Anlass für Hiebe und Ohrfeigen konnte sein, dass zu wenig Salz in der Suppe war, die Kinder beim Spiel lärmten oder er einen seiner Socken nicht fand. War die Mutter schwer geschlagen worden, ging sie zum Kleinberg, um dort im Wald zu verschwinden, damit die Kinder ihr Schluchzen nicht hören sollten. An solchen Tagen sassen Ueli und seine Geschwister stundenlang am Fenster und warteten auf sie.
Oft betete Ueli dann: «Lieber Gott, bitte mach, dass die Mutter nicht mehr wiederkommt. Rette sie vor diesem Grobian. Versteck sie im Wald. Mach, dass nur wir sie sehen können, wenn wir sie brauchen. Nur so ist sie vor der Grausamkeit des Vaters geschützt.»
Eine Weile glaubte er dann, Gott hätte die Gebete erhört, die Mutter würde nicht wiederkommen und wäre erlöst. Unvergleichliche Seligkeit erfüllte ihn, wenn er sich vorstellte, wie er die Mutter im Wald besuchte, wo sie den ganzen Tag mit den Vögeln und wilden Tieren sprach und sich nicht mehr grämen musste.
Wenn die Mutter viel später mit einem Bündel Holz auf dem Rücken heimkehrte, liefen die Geschwister freudig zur Tür und fielen ihr um den Hals. In solchen Momenten bemerkte Ueli erst richtig, wie sehr er die Mutter liebte. Es war ihm doch lieber, wenn sie nicht im Wald, sondern zu Hause lebte.
Dann betete er noch einmal: «Lieber Gott, ich habe etwas Falsches gebetet, aber du hast mich verstanden. Eigentlich wollte ich, dass der Vater nicht mehr heimkommt. Bitte lieber Gott, mach, dass er nicht mehr heimkommt!»
Als er der Mutter einmal von diesen Gebeten erzählte, ermahnte sie ihn: «Aber, mein Junge, wie kannst du Gott um so etwas bitten? Wovon sollten wir denn leben, wenn dein Vater nicht mehr da wäre? Wir hätten noch nicht einmal Brot im Haus! Ich will nicht, dass du Gott noch einmal um so etwas bittest.»
Nun war es also beschlossene Sache, dass Ueli seine Cousine heiraten würde. An den Gedanken musste er sich erst gewöhnen. Bei den Schreinerarbeiten mit seinem Grossvater wendete sich Ueli noch stärker den feinen Details zu. Er hatte gelernt, viele verschiedene Dinge anzufertigen: Holzvertäfelungen, Fensterrahmen, mit Reliefs beschnitzte Haustüren, Tische, Bänke, Schränke, Käseformen. Sogar die Tür der Dorfkirche machte er. Sorgsam fügte er auf der Werkbank Bretter aus Kirschbaumholz aneinander, dann stellte er im Kopf lange Berechnungen an und murmelte dazu, als spräche er mit dem Holz, schliesslich setzte er mit dem Bleistift viele Markierungen, um dann die Motive, die der Grossvater auf braunes Papier gezeichnet hatte, mit grösster Sorgfalt in das Holz zu schnitzen. Stundenlang stach er Vertiefungen ins Holz, betrachtete das Schnitzwerk mit halb zugekniffenen Augen aus verschiedenen Blickwinkeln, strich mit den Fingerspitzen über das entstehende Relief, blies die Späne fort und liess so die einzelnen Motive des Reliefs hervortreten. Diese Arbeit tat er mit grosser Freude.
Als die Kirchentür fertig war, strich der Grossvater mit der flachen Hand zärtlich über deren Oberfläche und lobte ihn: «Sehr schön. Nicht einmal ich hätte das fertig gebracht. Die Reliefs sind makellos. Die Proportionen stimmen genau. Dabei bist du erst sechzehn. Aus dir wird einmal ein sehr guter Schreiner. Wie sehr habe ich mich abgemüht, deinem Vater das beizubringen! Dieser Steinemann konnte in deinem Alter noch nicht einmal einen Nagel gerade einschlagen. Gut, ich geb’s zu, ein guter Maurer ist schon aus ihm geworden, aber Stein ist schwerer als Holz, und man braucht beim Mauern viel Kraft. Nun schau ihn dir an, er ist schon ganz verbraucht und sieht beinahe älter aus als ich. Na ja, lassen wir das. Diese Tür wird dir ein Tor zur jenseitigen Welt und in der diesseitigen viele Türen öffnen. Gott lässt gute Taten nicht unbelohnt. Wenn du in Gottes Diensten Gutes tust, gibt er es dir vielfach zurück. Jesus kam nach einer langen Wanderung einmal durch ein Dorf und war sehr erschöpft und hungrig. Da kam ein Hirte zu ihm und gab ihm eine Schale Milch. Jahre vergingen, bis Jesus wieder durch dieses Dorf kam. Der Bauer lief eilig zu ihm und sprach: ‹Herr, vor vielen Jahren habe ich Euch eine Schale Milch zu trinken gegeben, das entspricht einem Tageslohn. Seit dieser Zeit gibt meine Kuh drei Schalen Milch am Tag.› Jesus wandte sich zu dem Hirten und sprach: ‹Was du Gott Gutes tust, wird dir tausendfach vergolten.› Dann ging er weiter.»
Das Lob des Grossvaters für die Kirchentür, die Ueli mit Bravour vollendet hatte, gab ihm Selbstvertrauen. In seinem Streben, ein guter Schreiner zu werden, war er ein grosses Stück vorangekommen. Die Arbeit lag Ueli, doch der Hauptgrund seines Erfolgs war, dass der Grossvater nimmer müde wurde, ihn in alle Geheimnisse dieses Berufs einzuweihen. Der Grossvater war der beste Schreiner und Zimmermann in der ganzen Umgebung. Er tat seine Arbeit hauptsächlich für Gotteslohn und mit dem Herzen. Ständig betonte er, dass auch Jesus Schreiner gewesen sei. Wenn es eine gute Sache zu tun gab, eilte er unverzüglich hin.
Die Grossmutter hingegen beklagte sich. «Wir haben noch nicht einmal Mehl im Haus, und du arbeitest für nichts. Du bist doch nicht der Herrgott, so dass du jedermann helfen musst. Wie oft gehst du zur Arbeit und kommst mit leeren Händen heim. In der ganzen Gegend gibt es kein Haus, in dem du nicht gearbeitet hast. Du arbeitest Tag und Nacht für Leute, die haben zehnmal mehr Mehl in der Vorratskammer als wir. Die Leute nutzen dich aus, weil sie wissen, dass du ein weiches Herz hast: Schreib es auf, ich komme später und zahle. In deinem Heft über die offenen Beträge ist bald keine Seite mehr frei!»
Der Grossvater nahm sich diese Nörgeleien seiner Frau niemals zu Herzen. «Ihr Weibsbilder sitzt den ganzen Tag auf der Ofenbank und häkelt Spitzen oder lasst die Spindel surren. Von dort aus schaut ihr auf die Welt, aber es gibt so viel, was ihr da nicht sehen könnt.»
Die Grossmutter war nicht auf den Mund gefallen und legte nach: «Nun hör mir mal gut zu, du grosser Kindskopf! Ich habe von ganz oben auf dem Säntis auf die Welt heruntergeschaut. Ich war sogar auf dem Hohen Kasten und hab von dort aufs Rheintal und nach Österreich geschaut. Und was hab ich gesehen? Überall nur Berge und Wald. Hast du mich einmal in eine Stadt ausgeführt? Von welcher Welt redest