Der Pascha aus Urnäsch. Abdullah Dur

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Название Der Pascha aus Urnäsch
Автор произведения Abdullah Dur
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302588



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andere Vergleichbares durchmachen müssen. Als ich heute sah, wie unsere Brüder aus St. Gallen, Appenzell, Herisau, Urnäsch und vielen anderen Orten herkamen, um uns zu helfen, verstand ich einmal mehr Gottes Grösse. Gott, unser Herr, hat uns durch Seine geliebten Diener die Hand gereicht. Unsere Brüder sind Gottes Werkzeuge. Im Namen Gottes heisse ich euch alle willkommen. Doch nun möchte ich euch nicht weiter aufhalten. Ich möchte allen unseren Helfern unsere Dankbarkeit bezeugen und Ehrerbietung erweisen. Und nun an die Arbeit! Es gibt viel zu tun, und Gott liebt den Arbeitenden.»

      Sie machten sich sofort ans Werk. Pferdefuhrwerke brachten unentwegt Baumaterialien, Holz und Steine von ausserhalb, verkohltes Holz und verrusste Reste wurden weggefahren. Man fing mit der Reparatur der am wenigsten beschädigten Häuser an. Angesichts des bevorstehenden Winters wurden zuerst die Dächer wiederhergestellt.

      Ueli Kurts Zimmermannslehre begann mit den Aufbauarbeiten an den niedergebrannten Häusern des Dorfs Heiden. Für ihn war es ein grosses Vergnügen, den lieben langen Tag Mass zu nehmen, Bretter zu hobeln und Nägel einzuschlagen. Auf dem Dach war es ihm ein Leichtes, bis an Stellen vorzudringen, an die der Grossvater nur mit Mühe kam. Er riss verbrannte Bretter und Balken herunter, nahm die Masse und rief sie dem Grossvater zu. Dabei spornte es seinen Eifer noch weiter an, wenn er hörte, wie der Grossvater ihn über die Masse lobte und allen rings herum erklärte, dass Ueli mit seinen zwölf Jahren besser arbeite als viele Meister.

      Die vier Männer der Familie Kurt schliefen nachts im Heuschober des Bauern, dessen Haus sie gerade wieder aufbauten. Zeitig standen sie auf, stärkten sich mit einem Zmorge aus altbackenem Brot, das sie im Wasser aufweichten, und einem Stück Hartkäse. Dann ging es an die Arbeit. Ueli und sein Grossvater erledigten die Zimmerarbeiten, Vater und Onkel mauerten. Innerhalb eines Monats wurde viele Dachstühle aufgerichtet, Dächer gedeckt und das Innere der Häuser in einen bewohnbaren Zustand gebracht. Die Familie Kurt arbeitete nach dem verheerenden Brand in Heiden am längsten für Gotteslohn. Als sie fortgingen, hatten die Dorfbewohner beim Abschied feuchte Augen. Nach einem Monat liessen die vier Männer Menschen zurück, deren Augen strahlten und nichts mehr von ihrem anfänglichen schwarzen Pessimismus erkennen liessen. Pfarrer Hohl und die Dorfleute gedachten ihrer noch lange in ihren Gebeten. Etwas anderes als ihre Gebete hätte ihnen in Heiden auch niemand schenken können.

      Unterwegs lobte der Grossvater den Enkel: «Aus dir wird einmal ein guter Zimmermann. Ich hatte Gelegenheit mehr als genug, mich davon zu überzeugen, dass das Handwerk dir liegt, denn ich habe dir beim Sägen und Nageln zugesehen. Die Arbeit kommt dir aus dem Herzen. Du bist noch sehr jung und hast viel Zeit, um alle Feinheiten des Handwerks zu erlernen. Mach so weiter, aber vergiss nie, dir etwas von Leuten abzuschauen, die es noch besser können. Nur so kannst du dich weiterentwickeln.»

      Bis zum traditionellen Silvesterklausen waren es noch drei Tage. Eine Woche vor Neujahr holte man die grossen Schellen oder die kleineren Rollen hervor und polierte sie. An Silvester zogen die Männern in Schuppeln von Hof zu Hof, um den Menschen Glück fürs neue Jahr zu wünschen. Die grossen Hauben und Hüte zusammen mit den Schellen zu tragen, war Schwerarbeit. Auf dem Weg nach Urnäsch hatten die Männer der Familie Kurt beschlossen, dieses Jahr nicht beim Silvesterklausen mitzumachen. Alle vier waren abgekämpft und erschöpft. Inzwischen war auch der Winter hereingebrochen, alles war schneebedeckt, der gewaltige Säntis lag hinter den dicken Schneeflocken verborgen.

      Sechs Jahre nach dem Brand, im Jahr 1844, führte der Weg Ueli Kurt noch einmal nach Heiden. Doch diesmal war er kein kleiner Junge, der helfen wollte, sondern der Vater eines kranken Töchterchens, der Hilfe suchte. Maria war noch keine zwei Jahre alt und ständig krank. Ausser den Schmerzen in den Beinen litt sie unter Atemnot. Sie entwickelte sich schlecht. Ihre Beine waren dünn wie Zündhölzer. Ueli band sich das Kind auf den Rücken und zog von Arzt zu Arzt. Sein bisschen Geld gab er Leuten, die dem Mädchen Heilung versprachen. Bekannte hatten ihm geraten, Maria nach Heiden zum Dorfarzt Hans Leuenberger zu bringen, der für seine Behandlungserfolge bei Knochenerkrankungen bekannt war, und Ueli wäre für Maria jederzeit bis ans Ende der Welt gelaufen.

      Insgeheim dachte er: Sieh an, das muss Gottes Fügung sein. Es war an einem Freitag in der zweiten Septemberwoche. Ueli lieh sich das Pferd des Nachbarn, band sich Maria auf den Rücken und brach noch vor Sonnenaufgang nach Heiden auf. Wie immer nahm er in einem Säckchen seine geschnitzten Kuhfigürchen mit, denn etwas anderes konnte er dem Arzt als Entlöhnung nicht anbieten.

      Als er auf den Dorfplatz von Heiden kam, staunte er über die grösstenteils dicht an dicht aneinander gereihten, prächtigen Häuser. Gerade mal sechs Jahre waren seit dem Brand vergangen, doch keine Spur war mehr davon zu sehen. Vor ihm lag ein nagelneues Dorf. An viele dieser Häuser hatte er selbst Hand angelegt. In ihm stieg die Erinnerung an jene Zeit auf, als er mit dem Grossvater Dachstühle und Fensterrahmen baute, im Heu schlief, als sie miteinander am Dorfbrunnen sassen, um an hartem Brot zu nagen … Mit seinem wuchernden Bart hatte der Grossvater ausgesehen wie ein Waldschrat.

      Ueli ging auf dem Dorfplatz umher, um nach einem bekannten Gesicht oder einem Erinnerungsstück zu suchen. Schliesslich setzte er sich auf die Treppe vor der Kirche. Dann fragte er sich zur Praxis von Doktor Leuenberger durch. Ein paar Mal schlug er mit dem eisernen Türklopfer, der einen Fuchskopf darstellte, gegen die darunter angebrachte Eisenplatte. Es dauerte nicht lange, da tauchte ein junges Mädchen auf, dessen langer Rock über den Boden schleifte. Sein erster Satz war: «Bindet das Pferd nicht hier vor der Tür an, sondern da vorne beim Stall. Wer ist der Kranke?»

      «Ich bringe mein Töchterchen zur Untersuchung. Sie ist krank.»

      «Doktor Leuenberger ist kein Kinderarzt. Ich weiss nicht, ob er das Kind untersucht.»

      «Ich komme von weit her, aus Urnäsch. Sieben Stunden waren wir unterwegs! Schickt mich um Himmels willen nicht fort, ohne dass der Doktor mein Mädli untersucht hat. Ich flehe euch an!»

      «Schon gut. An eurer Sprache hört man schon, dass ihr von dort hinten kommt. Ich bin ja nicht blöd. Wartet vor der Tür!» Mit dieser frechen Antwort schlug das Mädchen Ueli die Tür vor der Nase zu.

      Nur wenig später tauchte der Doktor an der Treppe auf, sein rundes Gesicht war nach oben gerichtet, und auch beide Hände öffnete er zum Himmel, als wolle er sich an Gott wenden. «Mein junger Freund aus Urnäsch! Sei mir willkommen! Ich schicke gleich jemanden, der das Pferd in meinen eigenen Stall bringt», rief er.

      Ueli wollte schon einwenden, das Pferd gebe er lieber nicht aus der Hand, denn es sei nicht sein eigenes, er habe nämlich kein Geld für die Behandlung – das war zwar nicht ganz richtig, denn der Grossvater hatte ihm mit der Ermahnung, er könne den weiten Weg doch nicht ohne einen Heller in der Tasche antreten, zwei Gulden zugesteckt, doch die wollte er sich als letzten Trumpf aufsparen – er habe aber kleine Kuhskulpturen im Gepäck, die er dem Arzt für die Behandlung anbieten könne, doch würde dieser sie als Lohn annehmen?

      Da kam Leuenberger ihm schon zuvor: «Zu welcher Familie in Urnäsch gehörst du denn, junger Mann?»

      «Kurt, zur Familie Kurt», stotterte Ueli.

      Die Augen des Doktors fingen an zu leuchten. Vor Aufregung entglitt ihm das Buch, das er sich unter die Achsel geklemmt hatte, es fiel zu Boden, und mit ihm ergoss sich eine Menge Notizzettel über die ganze Treppe. Doch der Arzt bemerkte das Buch und die Notizen entweder gar nicht oder wollte sie nicht bemerken. «Kurt, die Familie Kurt! Komm, lass dich an meine Brust drücken!» Er legte die ausgebreiteten Arme um Ueli. «Sei mir willkommen, mein lieber, junger Freund!»

      Bei der stürmischen Umarmung erwachte Maria, die auf dem Rücken des Vaters geschlummert hatte. Als sie das Vollmondgesicht des fremden Mannes so nah vor sich sah, fing sie an zu schreien. Der Arzt griff Maria unter den Schultern und half Ueli dabei, sie sich vom Rücken zu schnüren. Dann nahm er Maria auf den Arm. Das Kind hörte auf zu weinen und blickte ihm staunend ins Gesicht. Die Assistentin des Arztes, eine kleine Frau, sah dem Geschehen verständnislos zu. Als sie sich aus der Starre gelöst hatte, machte sie sich daran, die über die Treppe verstreuten Notizen des Doktors aufzulesen.

      Sie gingen zusammen ins Sprechzimmer. Ueli Kurt erzählte kurz seine Lebensgeschichte.

      «In ganz Heiden gibt es niemanden, der nicht wüsste, was die Familie Kurt für