Название | Der Pascha aus Urnäsch |
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Автор произведения | Abdullah Dur |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858302588 |
In der Dunkelheit nahm Ueli das Gesicht des Kindes in seine Hände und küsste es auf die Stirn. Als er das nasse Gesicht spürte, krampfte sich etwas in ihm zusammen. Mit den Lippen ganz nah an ihrem Ohr flüsterte er: «Weisst du, du bist ein sehr kluges und besonnenes Kind. Weinen ist doch kein Lärm! Wenn du nicht geweint hättest, hätte ich dich nicht gehört, und dann hätte ich dir auch nicht helfen können. Warte mal, jetzt überlege ich, was ich gegen deine Schmerzen tun kann. Ausserdem ist heute das Silvesterklausen, da wollte ich sowieso früh aufstehen. Gut, dass du mich aufgeweckt hast.»
In der Dunkelheit tastete er nach der Öllampe. Erst spät fiel ihm ein, dass fast kein Öl mehr da war. Insgeheim stiess er einen derben Fluch aus. Deswegen nämlich sass die Familie seit drei Wochen abends noch eine Weile vor der leuchtenden Glut des Ofens, bevor man zeitig zu Bett ging. Noch nicht einmal Geld für Kerzen war da. Er löste den Riegel am Fenster, um die Läden zu öffnen. Draussen schneite es dicke Flocken. Ein trübes Licht, eiskalte Luft und einige Schneeflocken drangen in den Raum. Eine Weile schaute er dem Treiben der Schneeflocken zu.
«Vater, lass das Fenster auf! Die kalte Luft hat geholfen. Auf einmal tut es weniger weh!»
«Aber das geht doch nicht, mein Blüemli, im Zimmer ist es ja schon eiskalt.»
Ueli hob die Decke und machte sich daran, das Knie des Mädchens zu massieren, wie er es jeden Abend tat. Der Umschlag, den seine Frau Rösli jeden Abend mit Maismehl machte, war im Bett aufgegangen. Er versuchte, ihn wieder anzulegen, aber die Maispaste war zu trocken. Und die Beine des Kindes waren heiss wie Feuer.
«Im Zimmer ist es bitterkalt, aber deine Beine sind glühend heiss. So heiss haben sie sich noch nie angefühlt.»
Maria fragte flüsternd: «Vater, kannst du meine Beine in den Schnee stecken?»
Auf die Idee war er nicht gekommen. Er nahm das Mädchen auf den Arm und ging zur Tür. Draussen rollte er ihr das Nachthemd nach oben, um die verkrüppelten Beine in den Schnee zu stecken. Es war mitten in der Nacht. Maria hatte den Blick an den Vater geheftet. Dann steckte sie auch noch ihre keineswegs verkrüppelten Arme und die geschickten Hände in den Schnee.
«Ah, das tut gut! Wie schön wäre es, hier im Schnee zu schlafen!»
Ueli brachte sein Töchterchen wieder zurück ins Bett. Gleich weichte er die eingetrockneten Maismehlumschläge mit etwas Wasser auf, knetete sie durch und legte sie dem Kind wieder ums Knie. Ihre Beine waren nun recht kalt. Er deckte sie gut zu. Dann beobachtete er noch einmal die Schneeflocken, die vor dem Fenster munter tanzten. Draussen war im Mondlicht alles in ein russiges Weiss getaucht. Wenn im Winter das Spitzli hinter den Häusern so völlig weiss war, hatte er seit seiner Kindheit einen riesigen Schneemann in ihm gesehen. Der Berg direkt hinter den Häusern war der dicke Bauch dieses riesigen Mannes. Nun drückte er die Nase gegen die Fensterscheibe, um auf der Bergkette den Schneemann zu suchen, der lang ausgestreckt am Fuss des Säntis dalag, als sei er müde vom Laufen. Im Mondlicht konnte er den Bauch und die Arme des Schneemanns sehen, aber sein Kopf war hinter den dicken Schneeflocken verschwunden. Maria war inzwischen eingeschlafen. Ueli hörte die ruhigen Atemzüge des Mädchens. Offenbar hatte ihr die Kälte tatsächlich gut getan.
Seit Maria auf der Welt war, mochte sie den Winter sehr. Sie war ja auch in einem Februar im Wald am Kleinberg geboren. Ueli Kurt war in den Wintermonaten, wenn kaum jemand einen Zimmermann brauchte, mit Arbeiten an seinem eigenen Haus beschäftigt. Das Haus, in das er mit seiner Frau frisch eingezogen war, hatten sein Vater und sein Schwiegervater, der zugleich sein Onkel war, für das junge Paar gebaut. Es war klein, aber sehr gemütlich geworden. Zusammen mit seinem Grossvater hatte Ueli sämtliche Zimmermannsarbeiten selbst verrichtet. Und da es sein eigenes Haus war und er Schnitzwerk sehr liebte, hatte er an vielen Stellen des Hauses Verzierungen angebracht. Von den Türzargen bis hin zu den Fensterumrandungen war alles mit geschnitzten und bemalten Rosenmustern verziert. Das Holzhaus stand auf einem gemauerten Sockel von einem halben Meter Höhe, den sein Vater, ein Maurermeister, errichtet hatte. Auch die hölzerne Aussenfassade war mit Bildern von Rosen und Vögeln geschmückt.
Marias Geburt
An jenem Tag war das Wetter sehr schön. Nur der Gipfel des Säntis steckte in den Wolken. Alles strahlte weiss. Ueli holte den Schlitten hervor und machte sich bereit, im Wald nach frischen Kratzbeerblättern für die Lämmer zu suchen. Rösli meinte beharrlich: «Ich habe im Haus nichts weiter zu tun, ich komme mit.» Ihre Hochzeit war gerade neun Monate her, doch nach ihren Berechnungen war es noch etwa einen Monat Zeit bis zur Geburt. Sie war vergleichsweise klein und mit ihrem dicken Bauch nun fast so hoch wie breit – fast so rund wie die Heuballen, die man von den Bergen nach unten rollte. Trotz ihres Zustandes verrichtete sie unermüdlich alle Hausarbeit der gesamten Familie Kurt und noch dazu die des Pfarrers, ohne dass etwas liegen blieb. Und obendrein war heute ihr Geburtstag. Sie wurde siebzehn. Als Einziger hatte Pfarrer Johannes an ihren Geburtstag gedacht. Zeitig früh hatte er Ueli eine Karte gegeben, auf die er ein Gebet und Glückwünsche geschrieben hatte und die Ueli seiner Frau vorlesen sollte. Dadurch wurde Ueli an den Geburtstag seiner Frau erinnert.
«Du bist hochschwanger. Bleib bei dieser Kälte doch lieber zu Hause. Leg dich ein bisschen hin, ruh dich aus. Heute ist ja schliesslich dein Geburtstag!», protestierte Ueli zwar, aber Rösli liess sich nichts sagen. Sie meinte, ein bisschen Bewegung täte ihr gut, und blieb stur. Gemächlichen Schritts machten sie sich in Richtung Wald auf. Teils ging Rösli selbst, auf ebenen Strecken zog Ueli sie mit dem Schlitten. Im Wald lag weniger Schnee. Rösli setzte sich und beobachtete eine Zeit lang ihren Mann dabei, wie er unter dem Schnee die Kratzbeerblätter abschnitt. Dann türmte er das frische Grün auf den Schlitten. Auf einmal bemerkte Rösli Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen und spürte einen heftigen Schmerz. Ueli hörte sie schreien und rannte gleich hin. Rat- und sprachlos stand er da.
«Ueli, ich glaube, unser Kind kommt! Ich hab schreckliches Bauchweh. Jetzt hilft nur, zu Gott zu beten. Lieber Gott im Himmel! Allmächtiger, steh mir bei! Mach, dass unser Kind gesund geboren wird. Nur mit Deiner Hilfe kann ich es hier im kalten Wald zur Welt bringen. Deine Allmacht und Deine Kraft lässt alles nach Deinem Willen geschehen. Hilf mir, dass mein Kind gesund auf die Welt kommt! Lieber Gott, steh mir bei!»
Anfangs flüsterte Rösli ihr Gebet noch, dann schrie sie es plötzlich laut heraus. Das versetzte Ueli noch mehr in Angst und Schrecken. Er schaute sich eilig um und stiess insgeheim einen Fluch aus. Doch dann schämte er sich geflucht zu haben, während seine Frau betete, und bat Gott um Verzeihung. Ueli Kurt war gerade siebzehn Jahre alt geworden. Bisher hatte er bloss miterlebt, wie im Stall Schafe und Ziegen geboren wurden. Und dabei hatte er nur verschämt mit vors Gesicht gehaltenen Händen zugeschaut. Wie verhielt sich eine Frau, wenn sie gebar? Wie konnte man ihr beistehen? Er war da völlig ahnungslos. Einige Zeit stapfte er hilflos im Schnee hin und her wie ein nervöses Pferd. Dann schlug er Rösli vor, sie auf dem Rücken nach Hause zu tragen oder auf dem Schlitten zu ziehen.
Aber Rösli meinte: «Ich kann nirgendwo hingehen, ich bringe mein Kind hier zur Welt. Geh du und hol die Hebamme!» Ihre Stimme zitterte, und ihr Gesicht war knallrot angelaufen. Vor Schmerzen presste sie sich beide Hände fest gegen den Bauch.
«Mein Gott, wie kann ich dich denn hier allein lassen? Lieber Gott, ich fleh dich an, steh mir bei!»
Zwischen den Bäumen hindurch kämpfte er sich durch den Schnee. Als die Bäume aufhörten, wurde der Schnee tiefer. Er kam nur noch mit Mühe voran, aber als er es bis zu einer Stelle geschafft hatte, von der aus man das Dorf sehen konnte, holte er so tief Luft, wie er konnte, und stiess einen schrillen, langen Pfiff aus. Nach kurzer Zeit wurde aus dem Dorf mit einem Pfiff geantwortet. Das war sein Grossvater. Ueli war sich sicher, dass er die Nachricht verstanden hatte. Aus der Ferne konnte er sehen, dass im Dorf plötzlich ein hektisches Gerenne ausgebrochen war. Bald schon machten sich einige Dorfbewohner zum Kleinberg auf. Ueli rannte zu Rösli zurück.
«Alles in Ordnung. Sie kommen. Grossvater hat mich gehört. Er hat ganz bestimmt verstanden, was los ist.»
Er zog Jacke und Pullover aus und breitete beides über den frisch geschnittenen