Der Pascha aus Urnäsch. Abdullah Dur

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Название Der Pascha aus Urnäsch
Автор произведения Abdullah Dur
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302588



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verstand Ueli überhaupt nicht, was sein Grossvater sagen wollte. Trotzdem nickte er zustimmend mit dem Kopf. «Hm, ja. Wenn wir das Holz nicht im Wald holen, bestraft uns Gott, indem er uns vor Kälte erfrieren lässt. Wenn wir einen gesunden Baum fällen, bestraft Gott uns auch. Hast du das gemeint?»

      Der Grossvater klemmte sich den Stumpen zwischen die Zähne und murmelte kaum verständlich etwas Zustimmendes: «Genau so hab ich das gemeint.»

      Im Ofen knisterten die Tannenscheite. Der alte Mann schnitzte nun wieder an der kleinen Kuhfigur, die er fest mit der linken Hand umklammert hatte.

      Auch Ueli Kurt zog das Klappmesser hervor und machte sich daran, eine Kuh aus den Tannenholzstücken zu schnitzen, die der Grossvater bereitgelegt hatte. Es machte ihm grossen Spass, die kleinen Holzstücke in der Hand zu halten und daraus eine Kuh entstehen zu lassen. Beim Schnitzen mit dem kleinen Klappmesser konnte er stundenlang die Gedanken schweifen lassen. Doch eine seiner allerliebsten Beschäftigungen war es, je nach Lust und Laune etwas in das braune Heft zu notieren, das er ständig bei sich trug. Manchmal brachte er viele Stunden damit zu, die treffenden Worte zu suchen, um seine alltäglichen Erlebnisse dem Heft zu überantworten.

      Sein Grossvater hatte einmal gesagt: «Dieses Heft ist dein Zwillingsbruder. Es weicht dir nicht von der Seite und denkt vielleicht dasselbe wie du. Mich würde schon sehr interessieren, was da für Geschichten drinstehen. Warum lässt du es niemanden lesen?»

      Uelis Antwort war immer gleich: «Lass gut sein, Grossvater. Das ist eine kleine Welt, die ich mir auf dem Papier gebaut habe. Ich möchte nicht, dass jemand dort eindringt, und das kann sogar der Mensch nicht ändern, den ich am meisten lieb hab, nämlich du.»

      Mit der Zeit akzeptierte der Grossvater Uelis Entscheidung und gab die Hoffnung auf, in dem Heft lesen zu dürfen. Er wurde sogar – neben Ueli selbst – zum grössten Beschützer des Tagebuchs. Wenn der Enkel es einmal an einem Ort liegen liess, an dem sie zusammengearbeitet hatten, war die erste Tat des Grossvaters, das braune Heft an sich zu nehmen und es dem Enkel auszuhändigen.

      Auch Rösli war sehr neugierig auf den Inhalt des Hefts. «Was hast du bloss davon, den ganzen Tag etwas in das Heft zu schreiben? Manchmal denke ich, du schreibst von deiner Liebe zu Julia! Woher soll ich wissen, dass das nicht stimmt? Los, sag, hab ich etwa Unrecht? Oder stimmt es nicht, dass du dieses hochnäsige, herausgeputzte Mädchen mehr liebst als mich? Mich liebst du ja gar nicht. Anstatt in diesem Heft herumzukritzeln würdest du besser in der Heiligen Schrift lesen! Dann würdest du wenigstens von Gott erleuchtet und könntest auch mich erleuchten. Für mich ist es schwer, dass ich nicht in die Schule gegangen bin und nicht lesen kann. Dabei würde ich so gern in der Bibel lesen. Und ich möchte wissen, was du in das Heft kritzelst. Der einzige Grund, warum ich so im Hintertreffen bin, ist mein Vater. Wenn er nicht gedacht hätte, wozu soll ein Mädchen denn lesen und schreiben lernen, das hilft ihr doch nicht bei der Arbeit, sondern mich zur Schule geschickt hätte, könnte ich die Heilige Schrift und dein Heft lesen», beklagte sie sich.

      Nach Marias Geburt begann eine schwere Zeit für das junge Paar. Maria entwickelte sich schlecht, wuchs nur langsam und war ständig krank. Sie bekam schwer Luft. Uelis Mutter kochte Tee aus allen möglichen Kräutern, die sie in den Bergen sammelte, und flösste ihn Maria ein. Ueli versuchte, die Leiden des Töchterchens zu lindern, indem er in den nächstgelegenen grösseren Ortschaften, Appenzell und Herisau, von Arzt zu Arzt lief und keinen Mönch oder Naturheiler ausliess. Jeder, an den er sich in seiner Not wandte, meinte, er hätte als Einziger das Patentrezept, um das Kind zu heilen. Ihnen allen musste Ueli Geld geben, und das war schwer. Deswegen schleppte er neben dem Kind noch Stühle und Schemel, geschnitzte Kühe und andere Tierfiguren auf dem Rücken mit, um sie den Heilern als Lohn anzubieten. Es gab sowieso wenig Arbeit für Zimmerleute und Schreiner, und die paar Gulden, die er verdiente, reichten nicht einmal, um die Familie satt zu bekommen.

      Der Tod des Grossvaters war für Ueli Kurt ein schwerer Schlag. Er war ihm Freund und Meister, einfach alles gewesen. Ihm kam es vor, als sei ihm die Orientierung im Leben abhandengekommen. Der Ast war gebrochen, an dem er sich festhielt, der Pfad verschwunden, auf dem er ging; es war, als sei er mutterseelenallein in einer Einöde zurückgeblieben.

      Als Ueli klein war, versammelten sich an kalten Wintertagen alle Kinder der ganzen Sippe um den Grossvater, um atemlos den Geschichten zu lauschen, die er erzählte. Uelis Mutter konnte ihren Kindern keine Geschichten erzählen, weil sie stotterte. Aber der Grossvater imitierte beim Erzählen die Stimmen von Mensch und Tieren aller Art und zog die Zuhörer in seinen Bann. Doch der Grossvater hatte Ueli nicht nur Geschichten erzählt und sein Handwerk gelehrt, sondern ihn auch in allen Facetten in die Geheimnisse des Lebens eingeführt. Zeitlebens hatte Ueli alles Erdenkliche von ihm gelernt. Der Grossvater wurde niemals müde, sein ganzes Wissen wieder und wieder vor dem Enkel auszubreiten. Wenn er über die Geheimnisse des Handwerks sprach, pflegte er zu sagen: «Was du bei mir lernst, sind keine unverrückbaren Gesetze der Zimmerei und Schreinerei. Es liegt in deiner Hand, das Handwerk weiterzuentwickeln, und das kannst du so tun, wie es dir richtig erscheint. Das ist der goldene Weg zum Erfolg. Führe das, was du von anderen gelernt hast, so aus, wie es dein Gespür dir sagt. Lass nicht zu, dass andere sich da einmischen. Aber vergiss nicht: Wir sind nicht die besten Experten auf unserem Gebiet. Es gibt Leute, die es noch besser können. Hör auf sie und nutze ihr Wissen und Können für dich. Und tu deine Arbeit nicht nur für Geld. Tu sie mit deiner ganzen Seele und werde glücklich dabei. Sei mit Freude bei der Arbeit. Und vergiss auch das nicht: Du musst dich daran gewöhnen, dass deine Arbeit dir nicht viel Geld ins Haus bringt. Deine Frau wird dann meckern und dir den Kopf voll schwatzen, daran musst du dich gewöhnen. Du musst lernen, dass dir solches Genörgel zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgeht.»

      Der schlagende Beweis dafür, dass der Grossvater lebenslang nicht um des Geldes willen gearbeitet hatte, war der Menschenauflauf anlässlich seiner Beerdigung. Nicht nur aus den nahe gelegenen Dörfern, auch aus entfernteren Ortschaften strömten die Menschen herbei. In Urnäsch erlebte man einen solchen Andrang zum ersten Mal. Kutschen und Pferde fanden keinen Platz mehr zum Halten.

      Pfarrer Johannes eröffnete seine lange Ansprache mit den Worten: «Zum ersten Mal erlebe ich, dass jemand in solch einer grossen Trauergemeinde beigesetzt wird. Der Grund dafür ist, dass es in der ganzen Gegend kein Haus gibt, in das der Zimmermann Kurt keinen Nagel geschlagen hätte, und dass der materielle Gewinn für ihn nicht im Vordergrund stand. Das ist die höchste Gnade, die man von Gott empfangen kann. Möge Gott uns allen gnädig sein. Trotz dieses Regenwetters seid ihr aus grosser Ferne zu dieser Trauerfeier gekommen. Gott hat euch mit den Wohltaten des Zimmermanns Kurt beschenkt, und Gottes Lohn ist der höchste Lohn. Möge Er uns allen einen solchen Abschied bescheren.» Da der Pfarrer nun schon einmal einer so grossen Gemeinde gegenüberstand, nutzte er die Gelegenheit für eine sehr, sehr lange Predigt.

      Maria war gerade vier, Ueli zwanzig Jahre alt geworden. Zuletzt hatte Ueli zwei Jahre zuvor im kleinen Ort Heiden den Doktor Leuenberger aufgesucht. Dank des Sirups, den der Arzt dem Kind gegeben hatte, waren ihre Atemwegprobleme verschwunden. Lediglich die Schmerzen in ihren verkrüppelten Beinen nahmen von Zeit zu Zeit ein unerträgliches Ausmass an. Die beste Behandlung waren Umschläge aus Maismehl nach dem Rezept von Uelis Grossmutter. Sobald die Schmerzen häufiger auftraten, wurden diese Umschläge gemacht.

      Maria war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Das kräftige, blonde Haar fiel ihr über die blauen Augen und die gerade Nase wie ein Vorhang, der ihr Gesicht verbarg. Trotz ihrer Gehbehinderung konnte sie – dank der Knieschoner, die Doktor Leuenberger ihr gegeben hatte – auf Berge rutschen, Brennholz sammeln, die Kuh melken und ihrer Mutter bei Hausarbeiten aller Art zur Hand gehen. Morgens stand sie in aller Herrgottsfrühe auf und noch bevor ihre Eltern aus den Federn kamen, beobachtete sie die Umgebung, um später in allen Einzelheiten zu berichten, wer vorbeigegangen war und wessen Kühe oder sonstiges Vieh schon in den Wald getrieben worden war. Am liebsten hätte sie den ganzen Tag im Freien verbracht. Wenn es regnete und sie nicht nach draussen konnte, sass sie vor dem zum Bach gelegenen Küchenfenster und sah stundenlang dem dahinfliessenden Wasser zu. Gab es Hochwasser, schrie sie jedes Mal auf, wenn Baumstämme vorbeitrieben, womit sie ihre Mutter heftig erschreckte. Hinter dem Haarvorhang spielte stets ein heimliches Lächeln um ihren Mund. Sie hatte einen unglaublichen Verstand.