Pine Ridge statt Pina Colada. Katja Etzkorn

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Название Pine Ridge statt Pina Colada
Автор произведения Katja Etzkorn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948878122



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später rumpelten sie wieder über die Zufahrt in Richtung Supermarkt. Sannah wackelte in ihren Flipflops zufrieden mit den Zehen. Josh wirkte entspannter als noch am Vormittag, allerdings schien er jetzt über etwas anderes nachzudenken. Er schwieg während der ganzen Fahrt. Sannah kaute auf ihrer Unterlippe. ‚Das hätte nicht passieren dürfen‘, dachte sie, während sie aus dem Fenster starrte und die Landschaft an sich vorbeiziehen ließ. Sein Schweigen sprach Bände, und diesmal war ihr ziemlich klar, was ihn beschäftigte. Die Straße zum Ort Pine Ridge führte an Wounded Knee vorbei. Auf einer Anhöhe lag der Friedhof mit den Opfern des Massakers vom 29. Dezember 1890. An diesem Tag nahm der Freiheitskampf der Sioux ein tragisches Ende, von dem sie sich bis heute nicht erholt hatten. Rund dreihundert wehrlose Männer, Frauen und Kinder wurden hier vom 7. Kavallerieregiment der US-Armee niedergemetzelt. Sannah erinnerte sich noch gut an das Foto des getöteten Häuptlings Spotted Elk, von den Soldaten abfällig Big Foot genannt. Es war das erste Foto eines Toten, das sie als Kind im Geschichtsunterricht zu Gesicht bekommen hatte. Sie fand es damals schon entwürdigend. Heute sah sie darin mehr eine stumme Anklage, stellvertretend für alle Gräueltaten die an den Ureinwohnern verübt worden waren.

      Josh bog ab und fuhr die Anhöhe hinauf. Sannah schnürte es die Kehle zu. Sie fühlte sich gerade nicht dazu in der Lage, sich diesem Kapitel der Geschichte zu stellen. Oben angekommen parkte er den Wagen und öffnete das Handschuhfach. Er nahm zwei Zigaretten aus einer Schachtel und reichte ihr eine davon. Sie fragte nicht, sondern nahm sie nur an. Als er ausstieg, wehten seine langen Haare im Wind. Er hatte sie nach der Wasserschlacht offen gelassen, damit sie schneller trockneten. Sannah folgte ihm zögernd und sah sich um. Der Eingang zum Friedhof war ein großes Portal aus rotem Backstein und weißem Putz. Ein Bogen aus Metall spannte sich über den steinernen Pfosten und wurde von einem Kreuz gekrönt. Dahinter lag, eingezäunt von einem Maschendrahtzaun, das Massengrab, in dem die Opfer damals bestattet worden waren. Viele bunte Bänder und Schnüre mit kleinen Tabakbeuteln waren von Besuchern daran befestigt worden, die jetzt im ewigen Wind der Great Plains flatterten. Ein paar Touristen wanderten umher und machten Fotos.

      Sannah folgte Josh zum Mahnmal, das an der langen Seite des Grabes aufgestellt worden war. Damals in der Schule hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie eines Tages am Grab des Mannes stehen würde, dessen Foto und Schicksal sie so entsetzt hatte. Sie konnte spüren, wie die grausamen Ereignisse dieses kalten Dezembertages plötzlich wieder lebendig wurden. Josh fing an zu beten. Es war kein christliches Gebet, sondern ein altes Gebet seines Volkes.

      „Mein Freund, ich sende meine Stimme zu dir, erhöre mich“, sang er leise. Sannah verstand ihn nicht, denn er sprach sein Gebet auf Lakota. Aber es klang wunderschön und traurig. Er wendete sich nach Westen und hob die Arme zum Himmel. Dem alten Glauben der Lakota zufolge reisten die Geister der Verstorbenen zurück zu den Sternen, um eines Tages wiedergeboren zu werden. Alles war ein immerwährender Kreislauf. Josh betete weiter und wendete sich in alle vier Windrichtungen, zum Himmel und zum Boden. Wieder schnürte sich Sannahs Kehle zu, und sein Anblick trieb ihr die Tränen in die Augen. Er stand mit wehenden Haaren und erhobenen Armen am Grab seiner Ahnen und ehrte die Toten. Ihr war fast, als könne sie die verzweifelten Schreie der Menschen, die hier gestorben waren, hören.

      Die Touristen waren auf ihn aufmerksam geworden und hoben ihre Kameras, um diese Szene festzuhalten. Sannah warf ihnen einen vernichtenden Blick zu. Betroffen ließen sie die Fotoapperate sinken, als wäre ihnen jetzt erst bewusst geworden, wo sie sich befanden. Josh hatte sein Gebet beendet und ließ den Tabak der Zigarette vom Wind davontragen. Sie folgte seinem Beispiel. Als er sie ansah, bemerkte er die Tränen in ihren Augen und streichelte ihr zärtlich über die Wange.

      „Eigentlich müsste ich dich trösten“, sagte sie mit zitternder Stimme.

      Er nahm sie in die Arme und murmelte leise: „Das tust du gerade.“ Sie standen noch einen Moment lang schweigend am Gedenkstein, immer noch beobachtet von den Touristen. Josh ging ein Stück weiter, an den Rand des Friedhofs, wo sich einzelne Gräber befanden. Ein kleiner Trampelpfad führte dorthin. Dort stand ein einfacher Stein, ohne Kreuz, mit einer schlichten Inschrift: Joseph White Cloud.

      Sannah blieb abseits stehen, um Josh nicht zu stören. Der Gedenkstein war öffentlich, das Grab seines Vaters jedoch war etwas sehr Persönliches. Josh hockte sich davor und entfernte ein paar trockene Blätter, legte Salbei und Tabak vor den Stein und hielt stumme Zwiesprache. „Iyótancila“ – Hab dich lieb, flüsterte er seinem Vater zu.

      Sie wartete geduldig, bis er zurückkam.

      Er legte ihr den Arm um die Schulter. „Danke“, sagte er nur, und sie gingen langsam zurück zum Auto.

      Sannah brauchte den restlichen Weg nach Pine Ridge, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Erst der Anblick von genauso erschütternden, maroden Wohnhäusern holte sie zurück in die Gegenwart. Mitten im Herzen der USA fand sie sich in der Dritten Welt wieder. Man hatte diesen Menschen alles genommen. Ihr Land, die Büffel, ihre Kultur und Sprache und nicht zuletzt auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Alles, was geblieben war, war Trostlosigkeit und Resignation. Gemessen an dem, was sie hier sah, war Josh ein reicher Mann. Er verfügte über einen Stromanschluss und fließendes Wasser und musste auch nicht fürchten, dass sein Haus beim nächsten Sturm über ihm zusammenbrechen würde. Das bisschen abgeblätterte Farbe war da bestenfalls nur ein kleiner Schönheitsfehler.

      Sannah kannte die Statistik, aber es mit eigenen Augen zu sehen, erschütterte sie bis ins Mark.

      Josh parkte vor einem Laden für Handys, Computer und ähnlichen technischen Schnickschnack. „Was empfiehlst du mir?“, fragte er und riss sie damit aus ihren Gedanken.

      „Irgendein robustes Outdoor-Modell, wasserdicht, mit Gorilla-Glas und nicht zu groß, damit es in die Hosentasche passt“, riet sie ihm.

      Josh nickte. „Klingt vernünftig“, sagte er und stieg aus.

      Drinnen erlebte Sannah einen kleinen Kulturschock. Der Unterschied vom Elend draußen und der blau-weißen Hightech-Glitzerwelt im Laden erschien ihr geradezu obszön. Hinter dem Tresen stand ein weißer, pickeliger Jung-Yuppie und taxierte seine Kundschaft auf die zu erwartende Provision.

      „Hi!“, begrüßte er die beiden. „Mein Name ist Frank McDonald, Sie sind sicher an den neuesten Modellen unserer Smartphones interessiert.“

      „Nein“, meinte Josh knapp und brachte damit die Verkaufsstrategie des Yuppies gewaltig ins Wanken.

      Sannah grinste in sich hinein. Die gleiche Masche hatte auch sie am Anfang völlig verunsichert. Josh unterbreitete seine Wünsche und der Yuppie machte ein enttäuschtes Gesicht, als er Josh ein paar Modelle zeigte. Nach einem unauffälligen Seitenblick zu Sannah, die ihm zunickte, entschied er sich für ein handliches und solides Gerät der mittleren Preiskategorie.

      „Das kostet mit Prepaid-Karte zweihundertneunundvierzig Dollar“, erklärte McDonald. „Wenn Sie allerdings einen Vertrag mit zwei Jahren Laufzeit abschließen, gibt es das Gerät gratis.“

      Das Wort „gratis“ erweckte, im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen, bei Josh Misstrauen. Der Yuppie legte den Vertrag auf den Tresen und hielt Josh einen Kugelschreiber hin. „Eine Unterschrift, und Sie sind jederzeit und überall erreichbar“, leierte er sein Sprüchlein herunter.

      Josh nahm den Kugelschreiber, legte ihn demonstrativ beiseite und begann den Vertrag zu lesen. Er konzentrierte sich gezielt auf das Kleingedruckte. McDonald wurde sichtlich nervös. Als Josh fertig war, stemmte er seine Hände auf den Tresen. Nun war er mit seiner Statur ohnehin schon beeindruckend genug, da er aber wegen der frühsommerlichen Hitze nur ein Unterhemd trug, war das Spiel seiner Oberarmmuskulatur nur schwerlich zu übersehen.

      „Sie mögen mich vielleicht für einen Hinterwäldler halten, Sir“, lächelte Josh süffisant. „Aber ich bin Geschäftsmann. Also tun Sie mir und sich selbst doch den Gefallen und lassen diesen Knebelvertrag ganz schnell unter dem Tisch verschwinden. Entweder machen Sie mir ein akzeptables Angebot, oder ich sehe mich gezwungen, zur Konkurrenz nach Rapid zu fahren.“

      Der Yuppie schluckte trocken und nestelte an seinem Schlips herum.

      „Das ist doch kein Knebelvertrag,