Philosophien der Praxis. Группа авторов

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Название Philosophien der Praxis
Автор произведения Группа авторов
Жанр Философия
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Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783846351345



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die Frage nach dem praxisrelevanten Wissen mit der Suche nach Tugenden, die auch die emotional-charakterliche Dimension des Menschen für die Erfordernisse der Praxis bereit machen. Gerade in diesem Bereich sucht Platon erkennbar nach dem rechten Verständnis: Mal betont er im Anschluss an Sokrates, dass rechte Erkenntnis gute Handlungen hervorbringt, mal löst er das menschliche Arbeiten am Angenehmen von dieser Bindung und entwickelt differenzierte Seelenmodelle. Bei Aristoteles werden diese auf das Strebe- und das Erkenntnisvermögen fokussiert, die wiederum durch die ethischen Tugenden und die diaonetische Tugend der Klugheit auf die Praxis ausgerichtet werden. Bei Thomas wird schließlich die Klugheit als ein Vermögen dargestellt, das auf der Grundlage allgemeiner Regeln guten Handelns sowohl individualethisch als auch politisch den jeweiligen Einzelfall adäquat im Hinblick auf die Frage, wie hier Gerechtigkeit hergestellt wird, beurteilen kann.

      Diese Beobachtungen lassen die Bedeutung ermessen, die gerade die aristotelischen Theorien für jede Beschreibung von praxishafter Aktivität erhalten können. Diese ergibt sich im Grunde direkt aus der Struktur ihrer Handlungsbeschreibung selbst, stellt diese doch immer wieder klar, dass jegliche erfolgreiche |36|Praxis die Internalisierung angemessener Ziele voraussetzt, vor deren Hintergrund das konkrete Agieren erst seinen Nutzen und seinen Wert gewinnen kann; nicht zu vergessen ist dabei, dass ein Lebensvollzug stets auch von einem allgemeinen Verständnis vom menschlichen Glück her zu bewerten ist. Das Verdienst der thomasischen Ausarbeitung ist es, diese Einsicht vor dem Hintergrund differenzierterer Überlegungen zu den mannigfaltigen allgemeinen Zielen menschlichen Lebens und zu verschiedenen Formen von Rationalität so auszuarbeiten, dass die Wirkung der allgemeinen Prinzipien im Einzelfall und deren Grenzen deutlich wird.

      Diese Überlegungen können ohne große Umwege zur kritischen Reflexion jeder Art von konkreter Praxis angewandt werden: Beispielsweise entscheidet sich der Nutzen einer didaktischen Methode daran, in welchen konkreten Unterrichtssituationen die Methode zu welchen konkreten Zielen überhaupt geeignet ist. Dies kann im Grunde nur von der individuellen praktischen Vernunft des Lehrers, der die Situation kennt, im Einzelfall beurteilt werden; dagegen wird, wie man gerade von Thomas von Aquin lernen kann, eine allgemeine Methodenreflexion nur zu Ergebnissen kommen, die in bestimmten Fällen nicht zutreffen und daher vom Handelnden variiert werden müssen, um gute Ergebnisse zu erzielen. Das gleiche gilt für politische Gesetzgebungs- oder Verhandlungsprozesse, die ebenfalls stets an der Erreichung der von ihnen realisierten Ziele im Einzelfall zu messen sind und oft gerade daran scheitern, dass für die Praxis wesentliche Momente nicht beachtet werden (wozu ja häufig auch die fehlende Bereitschaft der Umsetzenden gehört, z.B. von DozentInnen, welche die Ansprüche z.B. des Bologna-Systems überhaupt nicht erfüllen wollen, was nicht zuletzt auf ihrer habituellen Kenntnis guter Lehrpraktiken beruhen dürfte). Insgesamt implizieren die genannten Ansätze eine Aufwertung der Entscheidungskompetenz im Einzelnen tätiger Akteure gegenüber Strukturen mit universalen Regelungsansprüchen der Praxis.

      Damit soll keineswegs bestritten werden, dass eine normative Dimension, die allgemeine Ansprüche stellt, jeder Praxis inhärent ist. Diese wird von den hier diskutierten Ansätzen nicht so entfaltet, dass richtige Handlungen gleichsam aus allgemeinen Vernunftprinzipien deduziert würden. Für alle drei hier diskutierten Denker ist es nämlich nicht vorstellbar, Moralität in einem universalen Sollen zu fundieren, das per definitionem nicht Bestandteil des Strebens von Individuen und menschlichen Gemeinschaften zu einer erfüllenden, glücklichen Lebensführung ist. Bei den genannten Autoren werden also nicht nur thematisch andere Akzente gesetzt als z.B. bei Kant, sondern da die hier vorgestellten Ansätze strukturell ganz anders Vorgehen als dessen Theorie, sind sie, um ein Wort von Otfried Höffe umzudrehen, weniger korrespondierende als vielmehr konkurrierende Ethiken (Höffe 1971, 42). Allerdings scheint der Versuch interessant, die die thomasischen Überlegungen zur Vermittlung universaler Ansprüche und konkreter Praktiken zur Grundlage einer Untersuchung zu machen, wie ausnahmslos gültigen moralischen Normen der angemessene Platz in der dynamischen und |37|partikulären Entfaltung menschlicher Lebenswirklichkeit gegeben werden kann. Doch dies wäre Teil eines anderen, größer angelegten Projekts.

      Lektüreempfehlungen

      Die aristotelische Ethik ist ein steter Referenzpunkt praktisch-philosophischer Forschung, so dass es sehr viele gute Sekundärliteratur und Einführungen gibt. Auf Deutsch kann beispielsweise Wolf (2002) empfohlen werden, auf Englisch Pakaluk (2005). Für Platon, bei dem die Situation ähnlich ist, ist Kauffmann (1993), ein geeigneter Einstieg. Für die praktische Philosophie Thomas von Aquins ist das Material weniger uferlos. Hierzu können unter anderem Schröer (1995) sowie Perkams (2018) empfohlen werden. Thomas’ Verhältnis zu Aristoteles wird aus verschiedenen Warten diskutiert in Hoffmann/Müller/Perkams (2013).

       [Zum Inhalt]

      |39|G.W.F. Hegel. Geistphilosophie als Nachdenken über die Situiertheit vernünftiger Praxis

      Jan Müller

      1. Einleitung

      Das philosophische Projekt Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) ist einer der Ursprünge des modernen Nachdenkens über menschliches Tätigsein im Allgemeinen („Praxis“) und die Formen und Gestalten, die es stützen und prägen. Hegel greift einerseits das antike Nachdenken über „Praxis“ auf und gibt ihm ein neues Gepräge (vgl. Pinkard 2012, Ilting 1963); andererseits ist Hegel der vielleicht wichtigste Bezugspunkt für die „Philosophien der Praxis“ des 19. und 20. Jahrhunderts.

      Dabei ist notorisch unklar, welche Motive und welche Argumentationen jeweils als weiterführend oder zurückzuweisen beurteilt werden; wie bei nur wenigen anderen Figuren der westlichen Geistesgeschichte sind Hegels Überlegungen in ihrer genauen Absicht, ihrem Status und ihrer Reichweite umstritten. Seine (freilich schwierigen, „dunklen“) Formulierungen erscheinen, je nach den systematischen Bedürfnissen seiner Interpreten, als „idealistisch“, „metaphysisch“ und „subjektphilosophisch“, oder umgekehrt als Vorbereitungen pragmatistischer und materialistischer Modelle von Praxis. Derartig interessierte Aneignungen sind unvermeidlich. Hegels Philosophie und die Geschichte ihrer Rezeption konfrontiert die Interpretin indes mit einer besonders verzwickten Variante solcher hermeneutischen Schwierigkeiten: Hier liegen die systematische Aneignung einerseits, die den historischen Argumentationsbestand im Hinblick auf gegenwärtige Problemlagen rekonstruiert, und andererseits die Doxographie, die Autoren – oft im Licht zeitgenössischer Diskussionen und mehr oder weniger plausibler „Einflüsse“ – Meinungen und Auffassungen zuschreibt, bisweilen fast ununterscheidbar nahe beieinander (vgl. Stekeler-Weithofer 2006).

      Man kommt an die hegelsche Argumentation nur durch die konfliktbeladene Geschichte ihrer Auslegungen heran. Deshalb ist es nötig, den hier vorgestellten Interpretationsvorschlag schon vorab ungefähr in der umfänglichen und kontroversen Forschungslandschaft zu situieren. Im Versuch, Hegels Überlegungen nicht unmittelbar auf geläufige sekundärliterarische Zuschreibungen zu reduzieren, lässt sich die „Brille der Rezeptionsgeschichte“ aber auch nicht einfach ablegen oder ignorieren. Wie jede andere, so ist auch die Inanspruchnahme Hegels für eine Praxisphilosophie interessiert, und es wäre unanständig, sie als einen Beitrag zum (jenseits echter Philologie ohnehin fruchtlosen) Streit um „den wahren Hegel“ auszugeben. Die inhaltliche Annäherung begleitet so stets die Mitteilung darüber, welche Deutungsoptionen bestehen und ausgeschlagen werden.

      Der „kleinste gemeinsame Nenner“ der ansonsten denkbar unterschiedlichen Deutungstraditionen dürfte die Bedeutung des gemeinsamen Tätigseins für Hegels Beantwortung der Frage nach der „Natur menschlicher Subjektivität und ihr[es] Verhältnis[ses] zur Welt“ sein (Taylor 1975, 3). Hegel übernimmt diese |40|Frage nach der Form, den Grenzen und der Wirklichkeit der Vernunft aus der sogenannten „klassischen deutschen Philosophie“. Sein originärer Beitrag besteht darin, die Vernunft, nach der gefragt wird, zu situieren (vgl. zu dieser Charakterisierung u.a. Henrich 1991, Pinkard 1994, Stekeler-Weithofer 2005, Förster 2010): Man verstehe Subjektivität und ihr Verhältnis zur Welt und zur Natur erst richtig, wenn man auch das Medium und Milieu versteht, in dem diese Verhältnisse auftauchen – das menschliche Zusammenleben mit seinen Institutionen, Gepflogenheiten, Sitten und Gebräuchen.