Название | Philosophien der Praxis |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846351345 |
Hegels Vorschlag, die Form und die Ansprüche der Vernunft als derart situiert zu begreifen, verdankt sich einem skeptischen Problem der zeitgenössischen Reflexionsphilosophie: Ist die Idee eines objektiven Gegenstandsbezugs des Denkens einmal fraglich geworden, dann lässt sich diese Irritation durch keine „dogmatische“ Metaphysik mehr reparieren. Das war Kants Entdeckung: Es reicht nicht, das Bestehen solchen Gegenstandsbezugs unter Voraussetzung einer vermeintlich wohlbestimmt vorgegebenen Objektivität (der Objekte des sinnlichen und des noumenalen Erkennens ebenso wie der Normen des Handelns) einfach zu behaupten; seine Möglichkeit lässt sich nur mehr aus der Form der subjektiven vernünftigen Fähigkeit selbst begründen. Denkt man über das Denken nach, dann muss sich dabei auch die Möglichkeit seines Vernünftigseins zeigen lassen – andernfalls wäre die Vorstellung, man dächte, unsinnig. Die Kritische Philosophie entwickelt so das transzendentale erkenntnistheoretische Argument, dass für ein vernünftiges Subjekt ein objektiver Gegenstandsbezug notwendig möglich ist (sofern es sich eingedenk seiner Endlichkeit amphibolischer Selbstüberhebung enthält), und dass ein vernünftiges Subjekt durch Einsicht in die Form seines Wollens bereits über das Prinzip sittlichen Handelns verfügt, nämlich die Idee der reinen (und damit allgemeinen, transsubjektiven) Selbstbestimmung subjektiven Wollens überhaupt.
Kants Modell der Spontaneität der Verstandestätigkeit macht zwar verständlich, wie gelingender Sachbezug möglich ist; es erklärt aber nicht, ob er, wenn er wirklich besteht, vernünftig gestiftet ist, oder nur beiläufig besteht. Dafür müsste man die Spontaneität der Verstandestätigkeit als eine echte, den Sachbezug produktiv stiftende Aktivität verstehen; und der Grund und die Quelle dieser Aktivität kann nur Subjektivität im Allgemeinen sein. Das meinen Fichte und Schelling (und streiten über die Ausgestaltung solcher Subjektivität – individualistisch bei Fichte, überindividuell bei Schelling). Hegel übernimmt als aufregendsten zeitgenössischen Vorschlag diese Vorstellung, das Denken (und damit unser ganzes menschliches Tätigsein) als eine für die menschliche Welt konstitutive Aktivität aufzufassen. Weil die zeitgenössische Diskussion diese Auffassung stets im Bild der erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Beziehung entwickelte, lag es nahe, eine solche konstitutive Aktivität allgemein dem Subjekt zuzuschreiben. Deshalb interessiert sich Hegel so für die Grammatik des Ausdrucks „leben“: „Leben“ ist das Urbild einer Tätigkeit, die ihren Ursprung und ihre Norm in sich selbst hat, und sich durch ihren Vollzug selbst erhält und reproduziert. Auch hier ist umstritten, wie wörtlich man Hegels Erläuterung des Lebendigen als Form des Geistes verstehen darf (vgl. bejahend Riedel 1965, Kap. III, und vorsichtiger Pinkard 2012). Versteht man sie nicht wörtlich, dann beschreibt „Leben“ analogisch den subjektiven Modus geistiger Vollzüge und die Art und Weise, in der wir im geistigen Tun mit den unverfügbaren Voraussetzungen unseres Tuns – der Natur – umgehen (vgl. Menke 2005 und Khurana 2017, v.a. Kap. IV.).
|49|3.1. Konstitutionstheorie oder Formreflexion: Wie lässt sich die „Wirklichkeit der Vernunft“ verstehen?
Auf den ersten Blick führt die Frage, wie man „den Geist“ als „bei sich im Anderen“ versteht, direkt in eine Sackgasse. Man kann unsere menschlichen Angelegenheiten nicht einfach auf eine subjektive Konstitution zurückführen. Man müsste sich dann die Normen, an denen sich die Güte subjektiver Aktivität vernünftigerweise beurteilen lassen muss, als von derselben Aktivität konstituiert vorstellen, die sie bemessen – so würden vernünftiger Vollzug und eitle Selbstermächtigung ununterscheidbar. Die geistphilosophische Umformulierung ändert an dieser Folgerung scheinbar nichts: Zwar bezieht sich der Ausdruck „Geist“ nicht mehr (einfach und nur) auf individuelle „Subjekte“, sondern ist ein sachliches Scharnier zwischen der Rede über „je mein“ geistiges Tun, und der Rede über überindividuelle „soziale“ Vollzügen aus einer generischen „Wir“-Perspektive (vgl. exempl. Stekeler-Weithofer 2005, 48f.). So ermächtigt sich aber lediglich ein anderes, höherstufig-generisches eitles Subjekt selbst – nämlich „das geistige Tätigsein“, das beständig seine eigene Praxis schafft. Man hätte zwar die Vernunft situiert (im Verhältnis zwischen individuellen Vollzügen und den normativen Institutionen), alle vernünftigen Geltungsansprüche aber relativiert. Denn die Normen, unter denen unsere individuellen geistigen Vollzüge „besser“ und „schlechter“ sind, wären nach diesem Bild das Produkt der gemeinsamen Praxis: bloße Konventionen, deren „Geltung“ in ihrer Genese gründete.
Diese Konsequenz ergibt sich aus einer Lesart der hegelschen Situierung der Vernunft, die verlockend, aber weder notwendig noch (letztlich) überzeugend ist. Man kann sie konstitutionstheoretisch nennen: Sie versteht Hegels Modell der „Aktivität des Geistes“ als Antwort auf die Frage, wie die Vernünftigkeit unserer Vollzüge zustandekommt. Diese Frage nach dem Zustandekommen vernünftiger Vollzüge ist aber nicht dieselbe wie die nach der Form, in der sie wirklich sind (nach ihrer „Seinsweise“).
Diese konstitutionstheoretische Lesart Hegels erklärt seine Attraktivität für moderne Praxistheorien. Sie beschreibt Vernunft – ihre Gestalt, ihre interne Normativität, ihren Zusammenhang – als das Produkt sozialer Praktiken, und erklärt die Konstitution begrifflicher Gehalte wie die Konstitution praktischer Gründe, indem sie die sozialen Praktiken rekonstruiert, die ihre notwendigen und hinreichenden Bedingungen sind; und sie erklärt die normative Gestalt dieser Praktiken, indem sie sie als durch die individuellen Vollzüge bedingt versteht, aus denen die Praktiken fortwährend hervorgehen (vgl. exemplarisch Pippin 2008 und 2010). Diese Beschreibung der „Performativität“ von Praxis (s. Volbers 2014, Kap. 3.4) macht klar, dass das Mitwirken anderer Subjekte eine Bedingung für das Gelingen subjektiver Vollzüge ist; sie erklärt, wie die Ansprüche einer situierten Vernunft uns nicht wie „von außen“ betreffen, sondern dadurch, dass sie in dieser Praxis eine Rolle spielen, die ihrerseits durch „unser“ Tun und Handeln bewirkt |50|ist. Es wäre sinnlos, von der Vernunft und ihren Ansprüchen unabhängig von dieser sozialen und geschichtlichen Situiertheit zu reden.
Damit erbt die konstitutionstheoretische Lesart als Variante des hergebrachten Modells konstitutiver Subjektivität aber auch deren doppeltes Defizit (vgl. Cassirer 1920, 280f.): Erstens entgeht sie dem geltungstheoretischen Zirkel nicht, sondern deutet ihn nur zur „Performativität“ um. Die Idee „vernünftiger Ansprüche“ geht dabei aber entweder im Kollaps in einen relativistischen Historismus verloren, oder muss einen vorkritischen Gegebenheitsdogmatismus reaktivieren. Zweitens macht die konstitutionstheoretische Lesart die neue, durch das „Geist“-Modell ermöglichte Perspektive wieder rückgängig: Sie fragt nicht nach der wirklichen Form unserer geistigen Vollzüge, sondern übersetzt diese Frage in die nach der (faktiven oder logisch bedingenden) Herkunft dieser Wirklichkeit zurück. So zu fragen heißt aber, als Prinzip unserer geistigen Vollzüge eben gerade nicht sie selbst, sondern etwas anderes aufsuchen: das, was sie „konstituiert“ und worauf zurückbezogen sie gedacht werden müssen.
Diese Umformulierung der Frage unterläuft der konstitutionstheoretischen Lesart, weil sie die Radikalität der geistphilosophischen Umstellung unterschätzt. Sie schließt aus (erstens) dem Gedanken, dass die Idee von Vernünftigkeit nicht unabhängig von einer Vorstellung ihrer Wirklichkeit in geistigen Tätigkeiten gefasst werden kann, und (zweitens) der Einsicht, dass die Vorstellung von einer Ausübung geistiger Tätigkeiten allemal an unsere menschlichen Angelegenheiten gebunden bleibt, weil unsere Praxis eben (wirklich und unhintergehbar) das Medium jeder Vorstellung von „Vernunft“ ist, dass (folglich) vernünftige Ansprüche an unser Denken und Handeln als letztlich kontingente, jedenfalls willkürlich veränderliche Produkte unserer Praxis verstanden werden müssten (vgl. Schürmann 2015b, 170ff.). Die Alternative zur Frage nach der Konstitution der Vernunft ist die Frage nach ihrer Form: danach, was die Vernünftigkeit unserer Vollzüge ist. Statt nach den Gelingensbedingungen faktischer, einzelner geistiger Vollzüge wird gefragt, was es überhaupt heißt,