Philosophien der Praxis. Группа авторов

Читать онлайн.
Название Philosophien der Praxis
Автор произведения Группа авторов
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783846351345



Скачать книгу

praktische Vernunft ist demnach jedem Menschen als ein inneres Gesetz gegeben, das mit den Begriffen „gut“ und „schlecht“ verbunden ist. So bestimmt sich der Mensch deswegen zu bestimmten Handlungen, weil er sie als gut oder schlecht ansieht. Hierbei wird der Begriff „gut“, ähnlich wie bei Aristoteles, |27|strebenstheoretisch gedeutet: „Gut ist das, was alle anstreben“, formuliert Thomas mit Aristoteles (I-II 94, 2 resp.). Insofern bedeutet der Imperativ „das Gute ist zu tun“ zunächst nicht mehr als, das, was für mein Leben zuträglich ist, ist zu tun‘, und erlangt auf diese Weise seine lebenspraktische Dimension. (Vgl. hierzu Grisez 1965, 186; Merks 1990, 40–42)

      Das, was für ein menschliches Leben zuträglich ist, ist allerdings nicht beliebig, sondern es wird auf allgemeine Weise vom Naturgesetz der Vernunft bestimmt. Das bedeutet aber nicht, dass die menschliche Lebensführung auf ein Ziel reduzierbar wäre. Ganz im Gegenteil betont Thomas: „In vielfachem Sinn spricht man von Natur“ (Natura multipliciter dicitur: I-II 10, 1 c.a.). Er erläutert diesen Gedanken anhand einer Rangfolge von natürlichen Neigungen (inclinationes naturales), die seiner Meinung nach sämtlich solche natürlichen Strebensziele darstellen, die grundsätzlich für jeden Menschen Bedeutung haben und daher in der individuellen und allgemeinen menschlichen Vernunft regelmäßig reflektiert werden: Zum einen das natürliche Streben jeder Substanz nach Selbsterhaltung, zum zweiten das allen Lebewesen gemeinsame Streben nach Fortpflanzung und der Erziehung von Kindern; zum dritten solche Strebensziele, die sich insbesondere aus der Natur des Menschen als eines rationalen Lebewesens ergeben, wie der Erwerb von Erkenntnis sowie ein Leben in Gemeinschaft (I-II 94, 2). (s. zu einer Übersicht der Ziele Lippert 2000, 124f.)

      Kennzeichnend für die Selbstbestimmung des individuellen Menschen ist hierbei, wie diese Güter von ihm erstrebt werden. Denn kraft seiner Rationalität zeichnet sich der Mensch dadurch aus, dass er sich der Vielfalt dieser Ziele bewusst ist und zwischen ihnen abwägen kann. Nur mithilfe seiner Vernunft kann sich jemand für ein bestimmtes Ziel entscheiden, und zwar auch dann, wenn dieses Ziel für den Willen prinzipiell erstrebenswert ist (I-II 17, 1), wie es von den Zielen des Naturgesetzes gilt (vgl. Grisez 1965, 191f.). Jeder einzelne Mensch kann daher verschiedene Ziele in Beziehung zueinander setzen, sie auf eine persönliche Weise bewerten und für sich bestimmte Ziele auswählen. Dabei kann er auch auf die Erfüllung bestimmter Ziele ganz verzichten (s. die theoretische Rechtfertigung in I-II, 10, 1, ad 1–3). Der letztere Punkt wird von Thomas an dem Beispiel verdeutlicht, dass Menschen häufig freiwillig darauf verzichten, sich selbst fortzupflanzen, um sich Zielen zu widmen, die ihrer Meinung nach höherrangig sind – zum Besispiel dann, wenn jemand, wie Thomas selbst, ins Kloster geht. Thomas differenziert konsequenterweise zwischen naturgesetzlichen Anweisungen, die jeder einzelne Mensch realisieren muss – etwa das eigene Überleben – und solchen, die die Menschheit als ganze, nicht aber jeder Einzelne realisieren muss – etwa körperliche Arbeit (II-II 187, 3 ad 1) oder auch die Fortpflanzung. Die Möglichkeit, dass jemand sich gegen ein solches Lebensziel entscheidet, bedeutet aber nicht, dass dieses Ziel für ihn nicht natürlich wäre – auch für den Mönch ist die Fortpflanzung ein natürliches Ziel, und der Verzicht auf sie ist durchaus eine Einschränkung, selbst wenn er selbst gewählt ist. Zu beachten ist auch, dass das Naturgesetz als Habitus der praktischen Vernunft in weit |28|geringerem Maße von Natur aus vorgegeben ist als die theoretischen Prinzipien, die sich automatisch aus der Erkenntnis ihrer Termini ergeben. Von einem Habitus des Strebevermögens, wie es der menschliche Wille ist, gibt es nur „bestimmte Prinzipien, so wie man sagt, dass die Prinzipien des allgemeinen Rechts samenhafte Anlagen zu Tugenden darstellen“ (I-II, 51, 1). Demnach muss ein praktischer Habitus als ganzer erst erworben werden, so dass die Ziele einer jeden Person sich gemeinsam mit den menschlichen Strebenszielen im Allgemeinen und innerhalb von deren Rahmen nach und nach herauskristallisieren (vgl. Schröer 1995, 46–54), wenn sich der Mensch auf der Grundlage rationaler Überlegungen zu einer Person mit einem festen Willen entwickelt (vgl. Frankfurt 2004). Auch von diesem Gesichtspunkt her muss man Thomas’ Naturgesetzlehre als eine Rahmentheorie für individuelle Lebensentwürfe verstehen, in denen das Naturgesetz auf historisch und sozial vermittelte Weise wirksam wird.

      Vor dem Hintergrund dieser Mannigfaltigkeit begründbarer Lebensentwürfe muss man Thomas zufolge bei der Angabe der Ziele des Willens die Vielfalt der menschlichen Vermögen und Bedürfnisse im Blick behalten. „Deswegen will der Mensch auf natürliche Weise nicht nur das Objekt des Willens, sondern auch anderes, das anderen Vermögen entspricht“ (I-II, 10, 1 c.a. Vgl. I-II, 94, 2 ad 2). Aus diesem Grund sind für Thomas alle genannten Güter – Selbsterhaltung, Fortpflanzung, Gemeinschaft – natürliche Ziele des Willens. Das ergibt sich auch aus der engen Bindung, die den Willen in Thomas’ Konzeption an die praktische Vernunft koppelt: Insofern der Wille ein rationales Strebevermögen ist, ist er darauf angewiesen, dass ihm alle seine möglichen Ziele von der Vernunft vorgegeben werden. Das betrifft in besonderem Maße die natürlichen Ziele des Willens bzw., anders gesagt, „die Vorschriften des Naturgesetzes, von denen die praktische Vernunft auf natürliche Weise erkennt, dass sie praktische Güter sind“ (Sth I-II, 94, 2). Für den Willen spricht man also deswegen sinnvollerweise von einer Vielzahl von Gütern, weil jede menschliche Vernunft sich mit einer Vielzahl derartiger Güter konfrontiert sieht, die sie zu gewichten hat.

      Diese Annahme ist für Thomas von weitreichender Bedeutung und bestimmt seine Handlungstheorie wesentlich mit: Nur im Ausnahmefall kann die Vernunft den Willen vollständig bestimmen, denn stets gibt es weitere partikuläre Gesichtspunkte, die das individuelle Urteil nicht berücksichtigt hat; was ein Mensch tut, entscheidet sich daher letztlich dadurch, wie sein durch seine Interessen geprägter Wille seine Überlegungen beeinflusst, und wie er andererseits wieder auf die Anweisungen der Klugheit reagiert (ausführlich in Perkams 2013). Trotz der engen Verflechtung von willentlichem und emotionalem Streben mit den deliberativen Überlegungen praktischer Rationalität, hebt Thomas die Eigengesetzlichkeit beider nicht auf und nimmt eine prinzipielle Revidierbarkeit auch verfestigter habitueller Gewohnheiten an. (Vgl. zu diesem umstrittenen Punkt Kent 2013, 91–109; s. zur Kritik von Zeitgenossen: Heinrich von Gent Quaestiones quodlibetales, 90–115.) Rationale Selbstbestimmung ist demnach sowohl eine Möglichkeit als auch eine Notwendigkeit für jeden einzelnen Menschen, und das |29|rationale ‚Naturgesetz‘ ist die Grundlage, vor der diese Vielfalt selbstbestimmter Lebensentwürfe als sinnvoll verständlich wird, von der her aber auch misslungene Entwürfe kritisierbar bleiben.

      4.4. Das Naturrecht und die Begründung von Moralität

      Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und wie Thomas das Gute als das im Allgemeinen Sinne Erstrebenswerte vom Guten im moralischen Sinne abgrenzt. Grundsätzlich ist klar, dass viele naturgesetzliche Vorschriften bzw. Verstöße gegen sie, wie sie eben zusammengestellt wurden, keine spezifisch moralischen Normen im Sinne von Anweisungen zu gerechtem Handeln oder von universalen Verboten bedeuten. Verstöße gegen einige von Thomas angeführte Beispiele – Selbsterhaltung, Wissenserwerb, gemeinschaftliches Leben – würde man im Normalfall nicht im moralischen Sinn als schlecht ansehen. Genauso wenig ist es automatisch moralisch gut, wenn wir uns fortpflanzen oder mit anderen zusammenleben. Wenn Thomas selbst alle diese Handlungen auf „moralische“ im Unterschied zu „zeremoniellen“ Handlungsregeln zurückführt (I-II, 100, 1), zeigt dies, dass er den Begriff „moralisch“ in einem sehr weiten Sinn gebraucht, der keine Konzentration der Ethik auf besonders verpflichtende Verhaltensnormen bedeutet. Der Zusammenhang seiner Naturgesetzlehre mit dem, was man heute moralische Normen nennen würde, ist also nicht unmittelbar klar (vgl. Grisez 1965, 185f.).

      Das hängt mit der eudaimonistischen Perspektive zusammen, die Thomas von Aristoteles übernimmt: Anders als utilitaristische und deontologische Ethiken, denen zufolge bestimmte Taten im moralischen Sinn geboten oder verboten, andere aber indifferent sind, ist Thomas zufolge jede einzelne Handlung eines Menschen (I-II 18, 9) gut oder schlecht, insofern sie zum Leben dieses Menschen bzw. zum höchsten Ziel des menschlichen Lebens beiträgt, glücklich zu werden, oder eben nicht. In dieser Perspektive ist es für ihn weniger wichtig, die Besonderheit normativer Ansprüche herauszuarbeiten, als diejenigen Werte darzustellen, die für ein glückliches Leben im Allgemeinen wichtig sind. Andererseits steht es natürlich auch für Thomas als christlichen Theologen außer Zweifel,