Название | Philosophien der Praxis |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846351345 |
In der heutigen Situation ist eine Skepsis gegen Vollständigkeit anstrebende Rekonstruktionen von Grundgütern ebenfalls geboten, da sie stets in der Gefahr stehen, ein historisch gewachsenes Regelsystem metaphysisch zu verabsolutieren (s. May 2004, 142–146). Trotzdem gibt es gute Gründe für die Ansicht, dass gewisse Ge- und Verbote in jeder Kultur, auf eine hinreichend konkretisierte Weise, gelten sollten. Hierdurch erhält man auch ein nützliches Konzept zur Begrenzung von nicht mehr akzeptablen ethischen Ansprüchen. Dafür ist es jedoch nicht entscheidend, eine genaue Liste natürlicher Güter anzugeben, sondern es genügt, die Notwendigkeit der Annahme solcher Güter anhand bestimmter Beispiele deutlich zu machen, um im Falle der anzunehmenden Verletzung solcher Rechte darauf verweisen zu können, dass bestimmte Praktiken einer für alle Menschen geltenden Sittlichkeit widersprechen.
3. erkennt Thomas’ Position an, dass die von Menschen anerkannten ethischen Regeln sich aus naturgesetzlichen und kulturell variablen Vorschriften zusammensetzen, die jeder Mensch aufgrund seiner Erziehung und sozialen Beeinflussung aufnimmt. Vor diesem Hintergrund liefert die naturrechtliche Perspektive überhaupt erst eine Begründung dafür, dass die Bildung von Normen individuell verläuft, da der Einzelne, der über sein Urgewissen (synderesis) einen Zugang zu den naturgesetzlichen Regeln hat. hierin über ein nicht ausschließlich gesellschaftlich bestimmtes Bezugssystem für moralische Regeln verfügt, so dass ihn als falsch erkannte Regeln nicht gewissensmäßig binden (I-II, 96, 4). Das Naturrecht ist also kein Hindernis, sondern eher eine Bedingung dafür, dass das Individuum in seiner eigenen Lebensführung gesellschaftliche Werte nicht einfach rezipieren muss, sondern sie kritisch aufnehmen, entwickeln und sich zu ihnen verhalten kann (vgl. Perkams 2005, 45f.). Dass sich Menschen für eigene Lebensentwürfe entscheiden und sich dabei von ihren eigenen Werten und persönlichen Interessen leiten lassen, ergibt sich für Thomas aus der Vielfalt der innerweltlichen Güter, die es nie zulassen, dass ein Einzelner alle für den Menschen sinnvollen Lebensziele voll realisiert. Von einem einheitlichen Ziel des Lebens aller Menschen lässt sich dagegen nur aus theologischer Perspektive sprechen, nämlich der Schau Gottes, die tatsächlich ein einheitliches Ziel des menschlichen Lebens darstellt (I-II 1, 5. 3, 8). Im gegenwärtigen Leben kann eine solche Einheitlichkeit immer nur von einer bestimmten Perspektive her gegeben sein, |34|wobei freilich verschiedene den Menschen erreichbare Güter für den Menschen sinnvoller sein können als andere (Kluxen 1964, 150f; Schröer 1995, 77–90).
4. In der Fortsetzung solcher Überlegungen versteht Thomas die Tätigkeit der Klugheit als das Auffinden der jeweils richtigen Konkretisierung der Regeln in einzelnen Fällen (vgl. Perkams 2018). Um diesen Prozess, also die Wirkung praktischer Vernunft im aristotelisch-thomasischen Sinne, zu charakterisieren, skizziert Thomas die Tätigkeit eines Architekten: Unter Beachtung dessen, was ein Haus im Allgemeinen ist und leisten muss, erstellt er einen Entwurf, der für die konkrete Situation, unter Berücksichtigung der Ziele, der Umstände (z.B. der Bodenbeschaffenheit) und der zur Verfügung stehenden Materialien des Baus, eine funktionale Leitlinie für das Bauen darstellt (I-II 95, 2 resp.). Auf dieselbe Weise müssen die universalen Gebote des Naturgesetzes durch eine kreative Tätigkeit der Gesetzgeber in konkreten Staaten realisiert werden, in denen die Gesetze gelten sollen (I-II 95, 3f.).
Freilich meint Thomas nicht, dass der Standard der Universalität bei solchen partikulären Entscheidungen grundsätzlich verlassen werden soll: Anhand des Beispiels von jemandem, der sich fragt ob er einem Vaterlandsverräter eine geliehene Waffe zurückgeben soll, formuliert er das Prinzip „Geliehenes ist unter dieser und dieser Zusatzbedingung zurückzugeben“, um gleich darauf hinzuweisen, dass die Zusatzbedingung bedeuten wird, dass das Prinzip, das den Einzelfall trifft, in umso mehr Fällen nicht gelten wird, je konkreter es ist (I-II 94, 4 resp.). In ähnlichem Sinne betont er, dass sich in komplexen Fällen das obiectum der Handlung, d.h. deren passendste Beschreibung, aufgrund zusätzlicher Umstände ändern kann, wenn z.B. ein Diebstahl dadurch ein noch schlimmeres Sakrileg wird, dass er aus einer Kirche erfolgt (I-II 18, 10 resp.). Diese Beispiele weisen darauf hin, dass die kreative Aktivität, die sowohl ein guter Gesetzgeber in einem Staat als auch jeder Einzelne in seiner jeweiligen Situation vollziehen muss, darin besteht, die richtige, möglichst allgemeine, aber zugleich hinreichend konkrete Beschreibung einer Situation zu finden, die deren Bewertung aufgrund der allgemeinen Regeln des Naturgesetzes ermöglicht.
Auf diese Weise kann, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt, jedes „objektive“ Urteil darüber, was richtig oder falsch ist, in Einzelfällen durch die subjektive praktische Vernunft eines kompetenten, d.h. tugendhaften und informierten, Individuums geändert werden, da diese Vernunft die unmittelbar verpflichtende Handlungsregel ist (I-II 19, 4; 21, 1). So können verschiedene Menschen aufgrund derselben Prinzipien zu einander entgegenstehenden praktischen Einzelentscheidungen kommen, so wie es unterschiedliche gerechte menschliche Gesetze auf der Grundlage des Naturgesetzes geben kann: Thomas verdeutlicht das am Fall eines Richters, der jemanden verurteilt, und der Frau des Verurteilten, die dessen Befreiung fordert: Beide verfolgen ein unterschiedliches, aber jeweils gerechtfertigtes Gut, das aus ihrer partikulären Perspektive für die Beurteilung der Situation entscheidend wird – so dass sie Gegenläufiges wollen (I-II 19, 10). Folglich fällt keine transzendentale, sondern eine situative praktische Vernunft |35|das jeweils perspektivische partikuläre Urteil über eine bestimmte Situation. Hieraus geben sich wichtige Folgen für Thomas’ Gewissenstheorie, die hier nicht zu diskutieren sind (vgl. Perkams 2005).
5. Schlussfolgerungen: Die bleibende Bedeutung der aristotelisch-thomasischen Ethik als Praxistheorie
Die hier dargestellten antiken und mittelalterlichen Ansätze der Praxis kommen in mehreren Punkten überein:
1. Zentral für die Auseinandersetzung mit der Praxis ist es, eine Form von Wissen bzw. Erkenntnis auszubilden, die die konkrete Situation vor dem Hintergrund der jeweiligen Zielsetzung in adäquater Weise beurteilen kann. Diese Position bildet sich Schritt für Schritt weiter aus: Während Platon versucht, die für die Praxis relevante Wissensform an ein allgemeines Ideenwissen, insbesondere die Idee des Guten, zurückzubinden, betont Aristoteles den spezifischen Charakter der Klugheit als einer Erkenntniskompetenz, Einzelfälle aus einem tugendhaften, auf gute Ziele gerichteten Habitus konkret zu beurteilen. Bei Thomas von Aquin schließlich wird diese Fähigkeit wieder an das im Intellekt erkennbare ‚Naturgesetz‘ als universale Norm des Praktischen zurückgebunden, so dass die Klugheit aus den allgemeinen Zielen des menschlichen Lebens die Ziele konkreter Aktivitäten selbständig definieren kann. Aus der somit gegebenen Fähigkeit, Ziele in diesem Rahmen selbst zu definieren und zu entwickeln, entwickeln sich aus