Einführung in die Psychomotorik. Klaus Fischer

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Название Einführung in die Psychomotorik
Автор произведения Klaus Fischer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348024



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Erfahrung und der Sozialerfahrung. Die Körperlichkeit des Kindes ist das Zentrum seiner Persönlichkeit, der Dreh- und Angelpunkt seiner Existenz. Handeln schließt immer die körperliche Bewegung mit ein. Im Bewegungshandeln lernt das Kind seinen Körper kennen, mit ihm umzugehen, ihn einzusetzen und auf die Umwelt einzuwirken. Die Orientierung am eigenen Körper ist die Basis jeder Orientierung im Raum. Zugleich ist der Körper der Spiegel psychischen Erlebens; über seinen Körper erlebt das Kind seine Befindlichkeit und bringt seine Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck. Das Lernfeld Körpererfahrung in der Motopädagogik will Körper- und Bewegungserfahrungen vielfältigster Art ermöglichen und gestaltet seine Angebote adäquat dem Entwicklungsalter der Zielgruppen entsprechend.

      Materiale Erfahrung

      Der Lernbereich der materialen Erfahrung strukturiert schwerpunktmäßig die kognitiv-emotionalen Entwicklungsimplikationen der räumlich-gegenständlichen Umwelt. Der Umgang mit Materialien wird zum Medium der Erkenntnisgewinnung. Im Spiel mit unterschiedlichsten Objekten gewinnt das Kind Informationen über Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten der dinglichen Umwelt: Es erweitert seine Sach- und Handlungskompetenz. Entscheidend für die Förderung kindlicher Handlungskompetenz sind Materialien, die die Selbstständigkeit und das kreative Spiel des Kindes provozieren. Bevorzugt werden Alltagsmaterialien in die Angebote einbezogen, um sinnvolle Bezüge zur Alltagsrealität herzustellen. Materialgestaltete Spielsituationen im Kindesalter wären etwa die Benennung, Kategorisierung, Unterscheidung von Gegenständen, der sach- und zielgerichtete Einsatz von Material, die Kombination unterschiedlicher Spielobjekte, das Transportieren, Bewegen und Verändern von Material. Auch die Natur (Wald, Wiese, Wasser, Schnee etc.) bietet aus motopädagogischer Perspektive ein reichhaltiges Feld materialer Erfahrungen.

      Sozialerfahrung

      Nur im Kontakt mit den Mitmenschen lernt der Mensch sich zu verständigen und auszudrücken. In geeigneten Situationen lernen Kinder mit Partnern zu kooperieren, Rücksicht zu nehmen, Verantwortung zu tragen, Einfühlungsvermögen zu zeigen, aber auch sich durchsetzen zu können. So sind z.B. Wagnis und Abenteuerlust psychisch erlebbare Zustände, die pädagogisch viel zu selten im Sinne der Stärkung von Selbst- und Sozialerfahrungen genutzt werden. Dabei ist es durchaus legitim und pädagogisch sinnvoll, etwa durch das Arrangement eines Geräteparcours in der Turnhalle oder die Aufgabenstellung der Überwindung eines Hindernisses in der Natur (Erklimmen eines Hanges oder Überqueren eines Baches), bei Kindern Prozesse in Gang zu setzen, die das Selbstwertgefühl des Einzelnen stärken und die Anerkennung in der Gruppe sichern. Die Erfahrungen gemeinsam durchlebter Abenteuersituationen und der kooperativen Bewältigung komplexer Aufgabenstellungen erweisen sich für die besondere Klientel beeinträchtigter Kinder als persönlichkeitsstärkende Lebenshilfe.

      Abgrenzung von Mototherapie und -pädagogik

      In der Anfangszeit der Verwissenschaftlichung der Meisterlehre sind die Übergänge zwischen Motopädagogik und Mototherapie fließend und lassen sich nur unscharf voneinander abgrenzen. So spielen in der Mototherapie pädagogische Grundlagen eine wichtige Rolle, während in der Motopädagogik auch therapeutische Elemente zum Tragen kommen. Dieses ändert sich in den 1980er-Jahren mit der Notwendigkeit, eine klare Definition und Indikationsstellung zu formulieren, will die Mototherapie die Verordnungsfähigkeit durch das medizinische System erreichen. Die wissenschaftliche Fundierung dient dazu, die damalige Psychomotorik zu legitimieren. Es zeigt sich, dass motorische Schwierigkeiten des Kindes immer in Verbindung mit anderen emotionalen und sozialen Persönlichkeitsbereichen stehen. Erstere werden als „zentrales Problem der Persönlichkeitsentwicklung“ interpretiert. Dies führt zu dem theoretischen Grundaxiom der „Sekundärstörungen“ (Schilling 1984, 102), wonach psychische Auffälligkeiten als sekundäre Kompensationsphänomene zu verstehen sind. Die weiteren Überlegungen führen zu einer dynamischen Betrachtungsweise von Störungen, da sich die behinderten Kinder trotz gleicher Ursachen ihrer Behinderungen im Verhaltens-und Leistungsbereich erheblich voneinander unterscheiden.

      Wissenschaftliche Grundlagen

      Da die Motologie zu diesem Zeitpunkt über keine eigene Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorie verfügt, die individuelle Entwicklungsförderung jedoch zentrales Anliegen von Motopädagogik und -therapie ist, wird in der Theoriebildung auf allgemeine Theorien zurückgegriffen. Für den wissenschaftlichen Hintergrund der Motologie der 1970er-und 1980er-Jahre sind insbesondere die Gestaltkreistheorie von v. Weizsäcker (1947), die materialistische Handlungstheorie von Leontjew (1973) und die kognitive Entwicklungstheorie Piagets (1975)bedeutsam, wobei Theoriebezüge üblicherweise zu Grundlagen hergestellt werden, die von Piaget und seinen Mitarbeitern in der Zeit von 1936 bis 1948 erarbeitet wurden (Fischer 1996a, 19) (zur Vertiefung s. Kapitel 3 und 4). Für die motologische Theoriekonstruktion steht die Handlungs-und Kommunikationsfähigkeit des Menschen im Vordergrund. Entwicklung vollzieht sich danach „in der tätigen, wechselseitigen Interaktion mit der Umwelt in Abhängigkeit von biologischen Bedingungen“. Dem Bewegungsfachmann – auch dem Forscher – kommt dabei die Aufgabe zu, „Differenzierungsprozesse zwischen Reifen, Wachsen und Lernen als umfassende adaptive biologische Aneignungsprozesse zu verstehen“ (Schilling 1986b, 59; 1993, 55).

      Die klassische Theorielegung der Motologie ist ein Beitrag zur Verwissenschaftlichung der Psychomotorik, dennoch ein Kind ihrer Zeit und gerät aus diesem Grund mit dem sich wandelnden Wissenschaftsverständnis der 1990er-Jahre in die Kritik. Diese bezieht sich im Wesentlichen auf die ursprünglich linear-kausale Modellvorstellung der Psychomotorik (Motologie) und den nur schleppenden Übergang zu einem ressourcenorientiert-kontextuellen Wissenschaftsverständnis des Ansatzes.

      1.5 Paradigmenwechsel in der Fachdiskussion

      Der Mensch als Subjekt

      Darüber hinaus trifft die Fachdebatte auf einen internationalen und interdisziplinären Fachdiskurs, der Bewegung und Körperlichkeit (Embodiment) zur tragenden Thematik in den Kognitions- und Entwicklungswissenschaften erhebt und ein (radikal) ganzheitliches Wissenschaftsverständnis formuliert (Shepherd 2017)(siehe Kap. 3.2).

      In der Begriffswahl hat sich seit einiger Zeit der Terminus Psychomotorik gegenüber dem der Motologie durchgesetzt (Fischer 2001a, 2015a, b; Krus/Jasmund 2015; Reichenbach 2011; Zimmer 2012). Zum einen weil Motologie enger das von Schilling (1976a) konzipierte und von Seewald (2007) modifizierte Fachgebiet und den Studiengang in Marburg repräsentiert, zum anderen weil der Begriff Psychomotorik sich als Leitbegriff des von Kiphard begründeten Fachdiskurses über die Einheit von Bewegen, Wahrnehmen, Erleben, Erfahren und Handeln als Basis von Bildung, Förderung und Therapie versteht. Zudem ist Psychomotorik der international gebräuchliche Fachterminus (s. Kap. 1.6).

      Vier Perspektiven

      In der Konzeption der Psychomotorik der letzten Jahre gibt es verschiedene Diskussionslinien oder Perspektiven, die prinzipiell gemeinsame Leitmotive erkennen lassen