Название | Einführung in die Psychomotorik |
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Автор произведения | Klaus Fischer |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846348024 |
1.3 Etablierung der Psychomotorik als Wissenschaftsdisziplin (Motologie)
Aktionskreis Psychomotorik e.V.
Die Verwissenschaftlichung der Meisterlehre Kiphards ist in der Anfangsphase eng an die Gründung des Aktionskreises Psychomotorik (e.V.) gebunden. Dieser wird 1976 als gemeinnütziger Verein in Hamm/Westfalen gegründet. Der Begriff Psychomotorik betont innerhalb der menschlichen Motorik den engen Zusammenhang von Wahrnehmen, Erleben, Erfahren und Handeln. Damit ist der Gegenstandsbereich als Ausdruck der gesamten Persönlichkeit des Menschen programmatisch gesichert, der Zielbereich von Anfang an als interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft von Bewegungsfachleuten aus den Disziplinen Pädagogik, Psychologie und Medizin ausgewiesen (Kiphard 2004a; Müller 2001, 2002; Schilling 2001).
Internationale Motorik-Symposien
Vorausgegangen ist der Vereinsgründung ein erhöhtes Interesse der Fachöffentlichkeit an den Themen und Erfolgen der psychomotorischen Arbeit. Im Jahre 1968 findet das 1. Internationale Motorik-Symposium auf Initiative von Kiphard in Hamm statt. Es folgen das 2. Internationale Motorik-Symposium 1971 in Frankfurt zum Thema Die Bedeutung der Motorik für die Entwicklung normaler und behinderter Kinder und das 3. Symposium 1973 in Luxemburg zum Thema Motorik im Vorschulalter. Letzteres wird vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft (Köln) durchgeführt und dokumentiert das gewachsene nationale und internationale Interesse an Ergebnissen der Motorikforschung in der Entwicklungsspanne der Kindheit. Der Kongressbericht wird dreisprachig (deutsch, englisch, französisch) von Müller et al. (1975) herausgegeben und wird zu einem Anknüpfungspunkt interdisziplinärer Fachgespräche.
Zeitschriften-publikationen
In der Folgezeit häufen sich die wissenschaftlichen Publikationen zur Psychomotorik (für einen Rückblick s. Fischer/Behrens 2012). Im Jahre 1976 gibt der AKP die Zeitschrift Psychomotorik heraus. F. Schilling (Marburg) übernimmt die Funktion des verantwortlichen Redakteurs und vertritt fortan den inhaltlichen Schwerpunkt Motologie und Motodiagnostik. E.J. Kiphard wird Fachredakteur für Mototherapie und G. Neuhäuser wird zuständig für die medizinischen Grundlagen. Ab 1978 ändert sich die Zeitschriftenpublikation durch Herausgabe von zwei Zeitschriften, der eher praktisch orientierten Praxis der Psychomotorik und der eher theoretisch orientierten Motorik. In der Folge erscheinen psychomotorisch orientierte Beiträge in zahlreichen pädagogischen, psychologischen und medizinischen Fachzeitschriften.Mehrere wissenschaftliche Buchreihen mit psychomotorischen Themenschwerpunkten werden herausgegeben.
Grundlagenkommission
Nach der Gründung des Aktionskreises entsteht das Problem, das von Kiphard und seinen Mitstreitern geschaffene Gedanken- und Übungsgut lehrbar zu machen und weiter theoretisch zu fundieren. Zu diesem Zwecke wird eine Grundlagenkommission einberufen, die in den Jahren 1977 bis 1979 die theoretischen Grundlagen der deutschen Psychomotorik entwickelt. In der Folge werden diese zum Fundament für
■ die erste Motopädenausbildung (ab 1977 in Dortmund). Heute existieren in Deutschland mehr als ein Dutzend Fachschulausbildungen von ein- bis dreijähriger Dauer mit pädagogischen und therapeutischen Schwerpunktsetzungen (Borgmeier 2002);
■ den ersten post-gradualen Studiengang Motologie (seit 1983 an der Universität Marburg mit einer wissenschaftlichen und berufspraktischen Doppelqualifikation in den Bereichen Motopädagogik und Mototherapie sowie zahlreiche Neukonzeptionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wer sich in der Aus-, Fort- und Weiterbildungslandschaft (auch akademisch ausgebildeter)Psychomotoriker/Psychomotorikerin nennen darf stellt Späker (2012) überblicksartig zusammen. Es ist das Verdienst von Friedhelm Schilling (Abb. 2), mit seiner wissenschaftlichen Grundlegung des Fachgebietes Motologie (1976) sowie einigen wissenschaftlichen Projekten an der Universität Marburg die Voraussetzungen für die universitäre Etablierung und Entwicklung des Wissenschaftsgebietes Motologie geschaffen zu haben.
Das Fachgebiet der Motologie beschäftigt sich mit der „Lehre von der Motorik als Grundlage der Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit des Menschen, ihrer Entwicklung, ihrer Störungen und deren Behandlung“ (Schilling 1981, 187). Es gliedert sich in die Teilgebiete der Motogenese, der Motodiagnostik und der Motopathologie sowie in der Anwendung von Fördermaßnahmen in Motopädagogik und Mototherapie. Abbildung 3 gibt einen Überblick über den Aufbau der Motologie im Entwurf der 1980er-Jahre (erste Fachsystematik).
Abb. 2: F. Schilling, der Initiator des 1. Studiengangs Motologie bei seiner Festrede aus Anlass des 15-jährigen Jubiläums des Studiengangs im November 1998
Motopädagogik und Mototherapie gestalten die angewandte Motologie und beinhalten die abgeleiteten Ziele und Methoden der Grunddisziplin zur Persönlichkeitsbildung und -therapie über das Medium der Bewegung. Basis für motopädagogisches Handeln sind die Erkenntnisse über die Entwicklung des Menschen (Motogenese) mittels diagnostischer Maßnahmen und Ableitungen aus Theorien (Motodiagnostik). Dabei steht das Prinzip einer ganzheitlichen Sichtweise der Motorik im Mittelpunkt des Fachinteresses. Schilling versteht Motopädagogik als Konzepterweiterung der psychomotorischen Erziehung und definiert sie als „ganzheitlich orientiertes Konzept der Erziehung durch Wahrnehmung, Erleben und Bewegung“. Mototherapie wird dagegen als
Abb. 3: Aufbau des Fachgebietes Motologie (1. Fachsystematik) (Schilling 1981, 187)
„bewegungsorientierte Methode zur Behandlung von Auffälligkeiten, Retardierungen und Störungen im psychomotorischen Verhaltens- und Leistungsbereich“ verstanden (Schilling 1986a, 728).
Motopädagogik ist präventiv bedeutsam, so in der Frühförderung oder als bewegungserzieherisches Konzept der Vorschulpädagogik; Mototherapie wirkt eher rehabilitativ und ist u.a. dem klinischen Bereich der Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie zuzuordnen. Auch für das mototherapeutische Handeln bilden die Grundlagen der Motogenese, der Motodiagnostik und Motopathologie die Voraussetzung.
1.4 Ziele und Inhalte
Erfahrungen in Handlungssituationen
Motopädagogik will den Menschen anregen, sich handelnd seine Umwelt zu erschließen, um seinen Bedürfnissen entsprechend auf sie einwirken zu können. Sie versucht dies zu erreichen, indem sie vielfältige Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen in Handlungssituationen vermittelt. Motopädagogik ist auf die Ganzheit der menschlichen Persönlichkeit gerichtet, weil sie nicht die Verbesserung bestimmter motorischer Fertigkeiten in das Zentrum ihrer Bemühungen stellt, sondern weil sie Bewegungshandeln als Verwirklichungsmöglichkeit der kindlichen Persönlichkeit und als wesentliches Mittel der Förderung betrachtet (Irmischer 1987, 13; im Überblick s. Zimmer 2012, 19–25; Krus 2015a; Schneider 2015). Als Richtziel ihres Förderungsbemühens formuliert die Motopädagogik die Kompetenzerweiterung des Kindes, sich sinnvoll mit sich selbst, mit seiner materialen und personalen Umwelt auseinander zu setzen und entsprechend handeln zu können. Daraus lassen sich folgende, nur analytisch trennbare Kompetenzbereiche ableiten:
■ sich und seinen Körper wahrzunehmen, zu erleben, zu verstehen, mit seinem Körper umzugehen und mit sich selbst zufrieden zu sein (Ich-Kompetenz);
■ die materiale Umwelt wahrzunehmen (= sie zu erleben und zu verstehen) und in und mit ihr umzugehen (Sach-Kompetenz);
■ Sozial-Kompetenz zu erwerben, d.h. zu erfahren und zu erkennen, dass sich alle Lernprozesse im Spannungsfeld zwischen den eigenen und den Bedürfnissen anderer vollziehen.
Körpererfahrung