Einführung in die Psychomotorik. Klaus Fischer

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Название Einführung in die Psychomotorik
Автор произведения Klaus Fischer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348024



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sind diese Sichtweisen doch ein Beleg für die defektologische Grundlegung der Heilpädagogik der damaligen Zeit und ein Quellennachweis für Parallelen des psychomotorischen Konzepts der Anfangszeit.

      Rhythmik

      Die Entwicklung der Psychomotorik wird von Anbeginn stark durch die Rhythmik geprägt; Elemente der Rhythmik sind bis heute wichtige Bestandteile psychomotorischer Arbeit. Mimi Scheiblauer (1956) und Charlotte Pfeffer (1958) versuchen, phantasievoll und einfühlsam durch Rhythmik die ganzheitliche natürliche Bewegungsentwicklung ihrer behinderten Kinder zu fördern. Kiphard übernimmt beispielsweise Teile aus dem Orff-Schulwerk und Orff-Instrumente, um das rhythmisch-musikalische Angebot zu erweitern (Schäfer 1993, 21).

      Individuelle Zielsetzung

      Das Verdienst des Psychologen Löwnau ist es schließlich, die Bewegungserziehung entwicklungsbeeinträchtigter Kinder um gezielte (psycho-)therapeutische Akzente bereichert zu haben. Kennzeichen seiner therapeutischen Überlegungen ist es, stärker individualisierte Zielsetzungen in den Förderprozess zu integrieren. Kein fremdbestimmter Lehr- oder Stoffplan (etwa der Leibeserziehung) solle Problemkindern „übergestülpt“ werden, um durch körperliche Ertüchtigungeine Verhaltensregulation zu erwirken, sondern gehemmte, ängstliche,aber auch unruhige und triebhafte Kinder bräuchten vielmehr einen möglichst behutsamen, nicht direktiven Weg, bei dem die Anerkennung der Persönlichkeit des Kindes im Vordergrund steht (Irmischer 1993, 16). Es sind dies bereits konzeptionelle Strukturelemente, die heute unter dem Begriff kindzentrierte Bewegungserziehung diskutiert werden und die Wesenszüge des psychomotorischen Konzepts ausmachen.

      Einflüsse der Leibeserziehung

      Wesentliche Impulse erhält die Psychomotorik aus der Leibeserziehung. Vertreter wie Liselott Diem (1935), die bereits 1935 für den Primarbereich eine ganzheitliche Bewegungserziehung fordert, Ludwig Mester, der das Ziel der Leibeserziehung in der Grundschule 1954 in der „Erziehung durch Bewegung“ sieht und Konrad Paschen, der dem Sportunterricht fachübergreifende Erziehungsaufgaben zuweist, sind nur einige Vertreter, die die Entstehung und Entwicklung der Psychomotorik beeinflussen. Von Seiten der Psychomotorik sind diese Quellen und Bezüge nicht hinreichend aufgearbeitet worden; allenfalls Irmischer (1984, 1993) beschäftigt sich mit einer historischen Perspektive. Sie sind jedoch wichtig für die Entstehungsgeschichte und wissenschaftliche Einordnung des Ansatzes sowie die Begründungslinien der aktuellen Annäherung von Psychomotorik und Sportpädagogik im Begriff der Bewegungserziehung. Wichtige Hinweise finden sich bei Röthig (1966) und Größing (1993), die die Quellen der Reformpädagogik und der Gymnastikbewegung – insbesondere des rhythmischen Prinzips – für eine sportpädagogische Grundlegung nachzeichnen. Als Überblicksdarstellung für den Elementar-, Primar- und Förderschulbereich unter einer inklusiven Perspektive ist auch das Werk von Stabe (1996) zur Rhythmik als ganzheitliche Entwicklungsförderung wertvoll. Erst in jüngerer Zeit wird das Thema des Rhythmisch-Musikalischen als wesentliches Element der psychomotorischen Entwicklungsförderung wiedererkannt (Röthig 2002; Wehle 2003; von Dreusche/Graul-Mayr 2006; Bankl 2016).

      E.J. Kiphard

      Der Begriff Psychomotorik ist in Deutschland eng mit dem Namen Kiphard (1923–2010) verbunden; dieser wird nicht selten als „Urvater“und „Seele“ bezeichnet (Abb. 1). Kiphard entwickelt die wesentlichen Grundzüge der Psychomotorik im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit am Westfälischen Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik in Hamm. Kiphard und Hünnekens (als ärztlicher Leiter) verknüpfen im klinischen Kontext die gerade bei dieser besonderen Klientel deutlich zu Tage tretende „diagnostische Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Entwicklungsstörungen/seelischen Behinderungen und motorischen Retardierungen mit dem Ansatz von Therapie über Bewegung, Förderung der Entwicklung über Motorik, der „Psychomotorischen Übungsbehandlung“ (Jarosch et al. 1987, 12). Am Anfang der konzeptionellen Entwicklungen in Deutschland steht in den fünfziger und sechziger Jahren nicht die Theorie, sondern die Praxis.

      Abb. 1: E. J. Kiphard, der Begründer der deutschen Psychomotorik

      Erste Effizienzüberprüfung

      Durch einen Forschungsauftrag des Sozialministeriums Nordrhein-Westfalen im Jahre 1957/58 kommt es zu einer ersten Effizienzüberprüfung der damaligen Psychomotorischen Übungsbehandlung.Die Ergebnisse werden 1960 im Jahrbuch der Jugendpsychiatrie (Band 2) veröffentlicht und im gleichen Jahr erscheint die erste Auflage des Büchleins „Bewegung heilt“, in dem Kiphard versucht, die Grundzüge seiner praktischen Arbeit in systematisierter Form darzustellen. Er setzt sich zum Ziel, über die Motorik eine leibseelische Harmonisierung und Stabilisierung der Gesamtpersönlichkeit der ihm anvertrauten jungen Patienten zu bewirken. So werden Übungen zur Sinnesschulung, Körper-, Raumwahrnehmung, Behutsamkeit, Selbstbeherrschung, rhythmisch-musikalischen Schulung und zum Körperausdruck spielerisch motivierend in Kindergruppen durchgeführt.

      „Die besondere Faszination, die von der Persönlichkeit Kiphards über Zauberkünste, Gags, akrobatische Einlagen, Einsatz des Schifferklaviers ausging, darf nicht unerwähnt bleiben. Verhaltensänderungen waren bei den Kindern nach einer ca. 6-wöchigen psychomotorischen Übungsbehandlung deutlich beobachtbar: Die Kinder waren aufmerksamer, strukturierter, sozial integrierter, fröhlicher, mutiger und ausgeglichener im Verhalten“ (Schäfer 1998, 82).

      Entwicklung der Motodiagnostik

      Ein Forschungsauftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)im Jahre 1965/66 soll die ausgewiesenen Effekte belegen; jedoch erweisen sich die bekannten psychomotorischen Testbatterien als wenig effektiv. Forschungsanliegen wird es nun, neben der Erweiterung motometrischer Tests vor allem motoskopische Verfahren zu entwickeln. So entstehen in mehrjähriger interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Kiphard (unterstützt durch seine Mitarbeiter Ingrid Schäfer und Georg Kesselmann), dem Jugendpsychiater Helmut Hünnekens und dem Psychologen Friedhelm Schilling

      ■ der Trampolin-Körperkoordinations-Test (TKT); Veröffentlichung 1970,

      ■ der Körperkoordinations-Test für Kinder (KTK); Veröffentlichung 1974,

      ■ das Sensomotorische Entwicklungsgitter; Veröffentlichung mit Filmdokumentation 1975 (Schäfer 1998, 82).

      Für die Anfangszeit der Psychomotorik konstitutiv – und wesentlich für ihre interdisziplinäre Anerkennung – ist somit ein diagnostisches Fundament (Schilling 1973, 2002; Schäfer 1993), das sich im Laufe der Ausdifferenzierung des Fachgebietes zu einem umfassenden (aber nicht einheitlichen) motodiagnostischen Konzept entwickelt hat. Dennoch bleibt die ursprüngliche psychomotorische Übungsbehandlung als Meisterlehre kiphardscher Prägung bekannt; sie gilt als Inbegriff der praxeologisch ausgerichteten Entwicklungslinie der Psychomotorik. Kiphards Verständnis zufolge handelt es sich um eine „Ermutigungspädagogik mit zirzensischen Mitteln“ (Seewald 1997, 4). Eine kategorische Zuordnung zu Pädagogik oder Therapie ist nicht erkennbar, vielmehr soll mittels einer spielerischen und darstellenden Methodik eine Hilfe zur Selbsterziehung ermöglicht werden. Kiphard selbst hat in seinem Werk eine Wandlung vollzogen, die die paradigmatischen Veränderungen der Psychomotorik widerspiegelt. Von einer medizinisch-psychiatrischen Sichtweise ausgehend hat er sich später verstärkt einem ganzheitlichen Paradigma verschrieben. Hierbei beruft er sich u.a. auf den Gestaltkreis von V. von Weizsäcker, auf die Reformpädagogik und die Rhythmikerziehung. Insgesamt ist die Meisterlehre (Kiphard 1998) jedoch vornehmlich als praxeologisches Konzept zu verstehen, da sie das Selbstverständnis aus der Praxis und weniger aus theoretischen Begründungszusammenhängen gewinnt. Kiphard bleibt sich im Grundkonzept seines Ansatzes ein Leben lang treu. In den persönlichen Rückblicken von Kiphard selbst (Kiphard 2002, 2004a und b) und in einem Schwerpunktheft