Einführung in die Psychomotorik. Klaus Fischer

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Название Einführung in die Psychomotorik
Автор произведения Klaus Fischer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348024



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psychopädagogische Ansatz nach Picq und Vayer

      Für die Sportlehrer Louis Picq und Pierre Vayer (1965) ist Psychomotorik Folgendes: „Psychomotorische Erziehung ist eine pädagogische und psychologische Handlung, die die Mittel der Leibeserziehung braucht, um das Verhalten des Kindes zu normalisieren und zu verbessern“ (zit.n. Heintz 1983, 112). Ihre Bezugsgruppe sind verhaltensauffällige Kinder, die Zielrichtung eine bessere Integration in der Schule über „eine systematische Erziehung motorischer und psychomotorischer Verhaltensweisen“ (Heintz 1983, 112). Der Ansatz geht von der Untrennbarkeit von Motorik und Psyche aus und versteht sich eher als erzieherische denn als therapeutische Maßnahme. In der Praxis haben motorische Übungen bei „unangepassten Handlungen“ in den Entwicklungsbereichen Koordination, Raumorientierung, räumlich-zeitliche Strukturierung, Lateralität, Rhythmusgefühl etc. vor allem die vorschulische Erziehungspraxis (école maternelle) erobert.

      Der sportpädagogische Ansatz von Le Boulch

      Als Sportlehrer und Psychologe entwickelt Le Boulch einen persönlichkeitsorientierten Ansatz und nennt diesen „Psychokinetik“ (1977, 1983). Es handelt sich dabei „um eine allgemeine Konzeption der Bewegung als Mittel der Gesamterziehung der Persönlichkeit“ (1983, 4). Le Boulch betont die Wichtigkeit der Förderung der Entwicklung perzeptiver, motorischer und kommunikativer Funktionen in Verbindung mit mentalen Prozessen. Dieser Ansatz weist viele Parallelen zum kindzentrierten Ansatz von Volkamer/Zimmer (1986) auf. Es ist beachtlich,dass Le Boulch schon in den 1960er-Jahren erkannte, dass der Sportunterricht in den Schulen verändert werden muss. Eine reine Stoffvermittlung und Leistungsorientierung lehnte er ab; der Ansatz an der Persönlichkeit des Kindes ist ihm wichtig. Das Körperschema als Grundvoraussetzung für das Selbstbewusstsein steht im Vordergrund.Dabei findet das Prinzip der Autonomie zur Förderung der Selbsttätigkeit des Kindes eine Berücksichtigung.

      Der tiefenpsychologische Ansatz nach Aucouturier und Lapierre

      Ein neuerer Ansatz ist der von Bernard Aucouturier und André Lapierre.Das psychoanalytische Konzept findet mittlerweile Anhänger in ganz Europa und in Südamerika. Aucouturier, wie sein Kollege Lapierre Sportlehrer, arbeitete in den 1960er-Jahren als Leiter am Centre d’Éducation Physique specialisée in Tours mit Kindern unterschiedlicher motorischer Auffälligkeiten. Durch seine Arbeit erkannte er sehr bald den Zusammenhang von physischen und psychischen Störungen.Er wandte sich psychomotorischen Ansätzen zu und stieß dabei auf die Arbeiten von Le Boulch, Wallon, Piaget und Vayer. Die klassische symptomorientierte praktische Arbeit erzeugte jedoch Widerstände bei den Kindern; diese hielten – bewusst oder unbewusst – an ihren Störungen fest, was sie durch Verweigerung und Passivität ausdrückten. Die Analyse des Problems mündete in dem Eingeständnis, dass die fachliche Aufmerksamkeit sich mehr auf die Störung richtete als auf das Kind selbst. Aucouturier veränderte das Konzept seiner Arbeit und betont jetzt die Ganzheit des Körpers (unité corporelle). Das Kind soll in seiner Gesamtpersönlichkeit unterstützt werden, es ist als ein ganzheitliches Wesen (être global) zu betrachten, das seine motorischen, affektiven und kognitiven Strukturen miteinander verbindet.Der Körper vereint all diese Strukturen und kann sie zum Ausdruck bringen. Er wird hier nicht als ein rein funktionales Instrument betrachtet, er ist vielmehr „Bezugs- und Orientierungspunkt in der Welt“ (Esser 2011, 19).

      Entfaltung der kindlichen Kreativität

      Der Ansatz orientiert sich an der individuellen Entwicklung eines Kindes durch Förderung der kindlichen Kreativität. Dem Kind wird genügend Freiraum gegeben, sich selbst Übungen und Geschichten in Praxissituationen auszudenken. Der Therapeut versucht dabei die spontanen Handlungen und deren „innewohnende Symbolik“ zu verstehen. Aucouturier spricht in seiner Förderstunde drei Bereiche an und stellt im Raum die entsprechenden Materialien zur Verfügung, deren Auswahl den Kindern selbst überlassen wird:

      ■ Den sensomotorischen Bereich: Das Kind verwendet Material, um elementare sensomotorische Aktivitäten zu erleben. Gleichgewichtssinn, Tiefensensibilität und Tastsinn werden angesprochen. Das Kind soll mit seinem Körper experimentieren, um seine Bedürfnisse und Stärken, aber auch Grenzen zu erfahren.

      ■ Den symbolischen Bereich: Die verwendeten Materialien lassen Freiraum für die kindliche Phantasie. Mit Hilfe von Tüchern,Schaumstoffblöcken oder Kleidungsstücken soll das Kind zum symbolischen Spiel/Rollenspiel angeregt werden. Es kann in andere Rollen schlüpfen, Erfahrungen aufarbeiten oder Wunschvorstellungen ausleben. Die Rolle des Therapeuten ist eher begleitend und passiv.

      ■ Den Konstruktionsbereich: Über Bautätigkeiten oder Spiel mit Knete etc. soll das Kind zu Ruhe und Konzentration kommen.

      Schlüsselbegriffe

      Als Grundvoraussetzungen der Therapie gilt, das Kind in seiner Einzigartigkeit zu akzeptieren, von seinen Fähigkeiten auszugehen und es in seinen Möglichkeiten zu unterstützen. Es sollen „die Handlungsfähigkeit, Eigenständigkeit und die Autonomie gestärkt und die Beziehungen zur Umwelt stabilisiert werden“ (Esser 2011, 84). Auch die französische Psychomotorik identifiziert sich über Schlüsselbegriffe: Körperschema (schéma corporel), Tonus als Kommunikationsmittel (de dialogue tonique) im Rückgriff auf Entspannungsmethoden (relaxation), Bewegung (le mouvement) und die Beziehungserfahrung im tonisch-emotionalen Dialog.

      Als deutschsprachige Überblicksdarstellungen sei auf Amft (1990), Guillarmé (1990) und Prévost (1990) verwiesen.

      Die französische Psychomotorik verfügt über kein einheitliches Konzept. Neben der Früherkennung und Vorbeugung in der école maternelle hat sich der Arbeitsschwerpunkt französischer Psychomotoriker auf den klinisch-psychiatrischen Bereich verlagert. Hier ergeben sich jedoch Identifikationsprobleme, da die Psychomotorik als ganzheitliches Konzept auf ein symptomorientiertes medizinisches System trifft (Contant/Calza 1994). Trotz der Widersprüche hat sich die Psychomotorik in Frankreich als anerkannte Therapieform etabliert. Auch wenn es der französischen Psychomotorik im Vergleich zur deutschen an Strukturiertheit im wissenschaftlichen Diskurs mangelt (vgl. Bathke 2007, 91), ist es ersterer letztlich konzeptionell gelungen, die Dichotomie von Geist und Körper aufzuheben.

      Italien, Spanien, Portugal

      Von Frankreich ausgehend werden psychomotorisch orientierte Ausbildungen in den romanischen Ländern (Italien, Spanien, Portugal) initiiert, unterliegen aber sehr schnell eigenen Entwicklungen. Die italienische Berufsausbildung folgt noch relativ eng dem französischen Modell einer klinisch-therapeutischen Schwerpunktsetzung. Allerdings existiert eine konkurrierende Strömung, die psychomotorische Inhalte eher als Bestandteile pädagogischer und psychologischer Hochschulausbildungen vermittelt sehen möchte (Caliari 2004). In Italien sind Berufsausbildungen in Psychomotorik lediglich auf der Ebene privater Fachschulen organisiert und haben eine Dauer von drei Jahren (180 ECTS).

      Wurden in Italien, Spanien und Portugal in der ersten Entwicklungsphase viele Literaturübersetzungen aus dem Französischen verwendet, so ändert sich dieses seit den 1980er Jahren. Mit dem südamerikanischen Sprachraum hat dabei die spanische Fachliteratur die größte Verbreitung. Die spanische Fachzeitschrift Psicomotricidad: Revista de Estudios y Experiencia erscheint seit 1981 als erste, die italienische Revista Psycomotrictà ReS (ab 1993) und A Psicomotricidade (Portuguese Review of Psychomotricity) (seit 2003) folgen und zeugen von einer lebhaften Fachdiskussion.

      In Spanien ist die Psychomotorik im therapeutischen Feld nicht offiziell anerkannt; psychomotorische Inhalte haben in vielen klassischen Berufsausbildungen (Psychologie, Logopädie, Sondererzieher) eine stärker pädagogische Ausrichtung erfahren. In den 1990er-Jahren wurde der spanische Dachverband der Psychomotoriker gegründet, dem fünf Teilorganisationen angehören. Auch wenn die staatliche Anerkennung der Psychomotorik als Fachberuf noch nicht erreicht ist, sind psychomotorische Inhalte in den Curricula von 10 spanischen Universitäten und zahlreichen weiteren Instituten und Ausbildungsstätten ausgewiesen.

      Einen sehr guten Überblick (in spanischer Sprache) zur Psychomotorik im Erziehungfeld gibt der Revisionsband von Pescador et al. (2000).

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