Название | Einführung in die Psychomotorik |
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Автор произведения | Klaus Fischer |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846348024 |
Der Begriff Psychomotorik betont innerhalb der Fachdiskurse über die menschliche Motorik den engen Zusammenhang von Wahrnehmen,Erleben, Erfahren und Handeln in sozial-ökologischer Einbettung. Es sind dies die Schlüsselbegriffe und Gegenstandsbereiche, über die Selbstbildungsprozesse, Entwicklungsförderung und psychomotorische Gesundheitsförderung über die Entwicklungsspanne in vielen Anwendungsfeldern unseres Bildungs-, Hilfe- und Gesundheitssystems wirksam werden. In diesem Verständnis hat sich das Fach seit den 1950er Jahren als pädagogisch-therapeutisches Konzept entwickelt,das ebenfalls von der Wechselwirkung psychischer und motorischer Prozesse ausgeht und diese in einen Bezug zur menschlichen Persönlichkeitsentwicklung stellt (Eggert 1994/2008; Reichenbach 2011; Zimmer 2012; Fischer 2015a; Krus 2015a; Kuhlenkamp 2017).
Das neue Lehrbuch gibt einen Überblick über die zahlreichen Mosaiksteine der psychomotorischen Konzeptdiskussion in der Theorie und den Praxisfeldern und leistet somit einen Beitrag zum Implementationsprozess des Faches. Die Kapitelfolge bearbeitet die Historie und Quellenbezüge des Faches, die Schlüsselbegriffe, die entwicklungstheoretische Grundlegung und die Ausrichtung zwischen Pädagogik und Therapie einerseits sowie die Anwendung auf die verschiedenen Handlungsfelder von der Frühförderung bis zur Psychomotorik im Alter (Motogeragogik) andererseits. Das Kapitel Motodiagnostik, Evaluation und Wirkungsforschung sowie eine Adressenliste von nationalen und internationalen Vereinigungen, Hoch- und Fachschulausbildungen und Weiterbildungsakademien beschließen die Fachübersicht. Die Grundstrukturder vorliegenden Einführung ist gegenüber der letzten Ausgabe beibehalten, alle Teile aktualisiert und um diese Themen ergänzt worden:
■ die Embodimentdebatte
■ die Spielthematik in der Psychomotorik
■ den Stellenwert der psychomotorischen Diagnostik
■ Naturerfahrung und Spielraumgestaltung
■ Bewegung in der Kindheitsforschung
■ das Konzept der Bewegungsbaustelle
■ Wirksamkeitsforschung in der Psychomotorik
■ viele Bezüge und Quellen aus dem reichhaltigen Repertoire psychomotorischer Publikationen zu den Handlungsfeldern
Die Praxisthemen der Psychomotorik und ihre theoretischen Begründungszusammenhänge sind heute fester Bestandteil zahlreicher Ausbildungsgänge auf Fachschul-, Hochschul- und Universitätsebene. In vielen Studienschwerpunkten zur Kindheits-, Sozial-, Heil- und Sportpädagogik, aber auch zur Physio-, Ergo- und Sprachtherapie finden psychomotorische Themen Berücksichtigung; an vier Universitäten des deutschsprachigen Raumes (Köln, Marburg, Wien, Zürich) sind forschungsorientierte Masterschwerpunkte entstanden.
Dieses Lehrbuch möchte verschiedene interdisziplinäre Diskussionsstränge und Zusammenhänge verdeutlichen und mit dem psychomotorischen Fachdiskurs in Beziehung setzen. Sie eröffnet damit Möglichkeiten, dem gewachsenen Bedarf an fachlich-wissenschaftlicher Grundlegung für Abschluss- und Prüfungsarbeiten (z.B. Bachelor, Master) zu entsprechen.
Köln, im November 2018 Klaus Fischer
1 Historie und Entwicklung der Psychomotorik
1.1 Ursprünge
Konzeptbildung
Ein Konzept entsteht nicht plötzlich aus dem Nichts heraus, sondern es erwächst aus einem praxeologischen Hintergrund. Praxeologisch heißt praxisbezogen: Das Erkenntnisinteresse des Wissenschaftlers ist primärer fahrungs- und praxisfeldbezogen. Erst in einem zweiten Schritt wird der Versuch unternommen, durch Theorieanleihen eine Stimmigkeit des Theorie-Praxis-Verhältnisses herzustellen und das eigene fachliche Handeln zu begründen (Hölter 1998). Ein Konzept entwickelt sich also prozesshaft aus verschiedenen Ideen, Erfahrungen und Theoremen, die zusammengefasst, geordnet und weiterentwickelt werden.
Einen solchen Entwicklungsweg hat das psychomotorische Konzept genommen. Versucht man die Quellen der Psychomotorik zu beleuchten, so wird man feststellen, dass das Ideengut, das in die Psychomotorik eingeflossen ist, einer langen Tradition heil-, sonder- und sportpädagogischer Vorstellungen über die Bedeutung der Bewegung für die Förderung von Kindern, insbesondere entwicklungsbeeinträchtigten Kindern, entspricht. Das ursprüngliche Konzept der psychomotorischen Übungsbehandlung von Kiphard und Hünnekens nimmt also Anleihen bei der Leibeserziehung und Gymnastikbewegung, der Sinnes- und Bewegungsschulung und der rhythmischen Erziehung und macht Elemente für die individuelle Förderung motorisch beeinträchtigter Kinder nutzbar.
„Die großen Erfolge der Psychomotorischen Übungsbehandlung und Erziehung in der Förderung beeinträchtigter Kinder, die zu der großen Verbreitung dieser Methode führten, sind sicherlich darauf zurückzuführen, daß sie in besonderer Weise die enge Verbindung von Wahrnehmen, Bewegen, Denken und Erleben betonte und in das Zentrum praktischer Arbeit stellte“ (Irmischer 1993, 9).
Sinneserziehung
Kiphard beobachtet in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinikpraxis, dass viele seiner Patienten Beeinträchtigungen in ihren Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern aufweisen und versucht ihnen die Möglichkeit zu geben, Entwicklungsprozesse nachzuholen. Praktische Anregungen und theoretische Begründung holt er sich aus den Arbeiten von Maria Montessori sowie Itard und Seguin. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts publizieren diese ihre Ideen, dass die Förderung von Wahrnehmung und Bewegung einen entscheidenden Einfluss auf die Erziehung von Kindern nehmen kann. Aus seinen erzieherischen Experimenten mit Victor, einem „wilden“ Jungen, der in den Wäldern Südfrankreichs aufgewachsen ist, entwickelt der französische Arzt Jean Itard eine Erziehungsmethode, bei der die Sinneserziehung einen wichtigen Platz einnimmt. Er versucht die „scheinbare Idiotie des Kindes“ zu heilen, indem er über gezielte Übungen die Entwicklung der Sinnesfunktionen, der intellektuellen und der affektiven Fähigkeiten des Jungen fördert. Itard findet heraus, dass eine isolierte Stimulation der Sinne sich positiv auf deren Entwicklung auswirkt.Dieses Prinzip der Förderung empfehlen später auch Maria Montessori und Kiphard. Seguin greift die Ideen von Itard auf und erweitert das Anwendungskonzept: Er vermutet, dass die intellektuellen Fähigkeitendes Menschen auf der Wahrnehmungsentwicklung aufbauen. In der Konsequenz entwickelt er ein Fördersystem spezieller Übungen (etwa Tast- und Geschicklichkeitsübungen, Übungen zur Förderung des Gehörs, des Gesichts- und des Geschmackssinns) und besondere Materialien zur Schulung von Nerven, Muskeln und der Sinne als Grundlage der Entwicklung von Intellekt und Wille.
„Wenn Seguin als Voraussetzung für eine gezielte Förderung die Analyse der psychologischen und physiologischen Voraussetzungen der Kinder fordert, so erkennt er bereits den Wert dessen, was später als Diagnostik beschrieben wird“ (Irmischer 1993, 10).
Maria Montessori greift die Ideen der beiden Franzosen auf und integriert sie in ihr differenziertes Erziehungskonzept. Sie stellt die Erziehung der Sinne und der Bewegung in den Vordergrund und entwickelt dazu vielfältige Sinnesmaterialien. So betont sie die Wichtigkeit der Selbsttätigkeit und des Selbstlernens des Kindes, was später von Kiphard aufgegriffen wird. Während jedoch Montessori das Spiel als unnütze Tätigkeit ablehnt, dient es in der Psychomotorik als eine wichtige Ausdrucks- und Tätigkeitsform sowie als therapeutisches Medium (Irmischer 1993, 11). Kiphard entlehnt aus der Montessori-Pädagogik wertvolle Beiträge zur Sinnesschulung und auch einige Ideen über Fördermaterialien.
Geistigorthopädische Übungen
In Auseinandersetzung mit der Arbeit von Maria Montessori entsteht in Deutschland das System der geistig-orthopädischen Übungen von Lesemann (1925, 1972), das die Sonderpädagogik in der Bundesrepublik bis in die fünfziger Jahre beeinflusst. In der reformpädagogischen Tradition stehend weist Lesemann schon sehr früh der motorischen Förderung seiner Hilfsschulkinder einen besonderen Stellenwert zu, um mit einem gezielteren Entgegenwirken