Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit. Barbara Bräutigam

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Название Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit
Автор произведения Barbara Bräutigam
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846349472



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sicheren Bindungsstils gehört die elterliche Feinfühligkeit bzw. die intuitive Elternschaft, die sich bei einem Großteil der Eltern als Anpassungsleistung nach der Geburt einstellt (Papoušek/Papoušek 1987) und auf die im nächsten Abschnitt (2.3.3) eingegangen wird.

      Der Typ C wird als unsicher-ambivalenter Bindungsstil bezeichnet. Die betroffenen Kinder reagieren ebenfalls wie sicher gebundene Kinder deutlich erkennbar auf die Trennung, lassen sich dann aber nicht beruhigen und bleiben auch bei der Wiederkehr der Bezugsperson eher in der negativen Emotion. Häufig korreliert dieser Bindungsstil mit trennungsängstlichen oder zumindest sehr trennungsambivalenten Bezugspersonen.

      Später wurde von Mary Main und Judith Solomon (1986) auch der sogenannte desorganisierte Bindungsstil (Typ D) klassifiziert. Dieser zeigt sich in einem äußerst wechselhaften, nicht eindeutigen Bindungsverhalten und geht z.T. mit plötzlichem Erstarren und eingefrorener Mimik einher. Er taucht bei ca. 5–10% der beobachteten Kinder auf und wird im Zusammenhang mit traumatisierenden Erlebnissen, Misshandlung oder auch chronischer Vernachlässigung gesehen.

      Von den Bindungsstilen zu unterscheiden sind Bindungsstörungen, die in kinderpsychiatrische Diagnosesysteme einzuordnen sind. Hierzu zählt beispielsweise die reaktive Bindungsstörung, die von Angst und großer Zurückhaltung gegenüber Erwachsenen geprägt ist, und die Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung, die sich in Distanz- und Wahllosigkeit in Zuwendungsbezeugungen gegenüber Erwachsenen manifestiert. Letztere tritt des Öfteren bei stark deprivierten und vernachlässigten Kindern auf, die schon viele Wechsel ihrer Bezugspersonen erfahren mussten.

      „Das Muster der sicheren Bindung wird als adaptiv für eine gesunde Entwicklung betrachtet. Trotzdem handelt es sich bei den bisher beschriebenen unsicheren Bindungsmustern und auch bei der Bindungsdesorganisation nicht um pathologische Muster, sondern um Varianten von Bindungsmustern, die innerhalb eines normalen Verhaltensspektrums angesiedelt werden können“ (Spangler 2011, 284).

      Sichere oder unsichere Bindungsstile sind das Ergebnis gemeinsamer und individuell unterschiedlicher Interaktionserfahrungen. Sie können auch von Bezugsperson zu Bezugsperson variieren, sind geronnene Beziehungserfahrungen und nicht als stabile Eigenschaftsbeschreibungen zu betrachten. Frühe Bindungserfahrungen sind zwar für die spätere Entwicklung hoch bedeutsam. Dennoch kann das innere Arbeitsmodell von Bindung sich durch spätere positive Beziehungserfahrungen positiv oder durch das Auftreten schwerer Belastungen im späteren Leben auch negativ verändern (Seiffge-Krenke 2015). Bindungsprozesse werden als mentale Arbeitsmodelle etwa ab Mitte des zweiten Lebensjahres gespeichert – dieses geht auch mit dem Beginn des Spracherwerbs einher; mit fünf Jahren sind sie meist entwickelt und bilden das Bindungssystem.

      Elterliche Feinfühligkeit setzt sich aus drei Komponenten zusammen:

      a. Wahrnehmung der Signale des Kindes

      b. angemessene Interpretation dieser Signale

      c. angemessene und prompte Reaktion auf diese Signale

      Bei einem Säugling sollte im Sinne von Feinfühligkeit auf die Bedürfnisäußerung – beispielsweise Schreien wegen Hungers – direkt geantwortet und sofern möglich auch mit sofortiger Bedürfnisbefriedigung gehandelt werden. Bei einem Kind um das erste Lebensjahr herum würde feinfühliges Handeln dagegen bedeuten, zwar direkt auf die Bedürfnisäußerung des Kindes zu antworten, aber je nach Situation nicht unbedingt gleich zu handeln und das Bedürfnis umgehend zu befriedigen (also nicht sofort unbekleidet und nass aus der Dusche zu springen, wenn das Kleinkind Hunger äußert).

      Zu diesen feinfühligen Kompetenzen gehört es auch, dem Kind markiert seine Gefühle zu spiegeln. Das bedeutet, dem Kind durch Gestik, Mimik und Worte zu verstehen zu geben, dass man seine akute Not (z. B. Hunger, Schmerz, Müdigkeit) versteht, aber nicht teilt, und darum in der Lage ist, das Kind zu trösten. Das Kind bekommt somit seine Gefühle zum einen als seine eigenen und zum anderen als vom Gegenüber aushaltbar gespiegelt. Diese markierte Spiegelung ist zentral für die Ausbildung der Mentalisierungsfähigkeit, auf die unter Kapitel 2.6.1 eingegangen wird.

      Etwa dreiviertel aller Eltern verfügen über derlei intuitive kommunikative Kompetenzen. Auch Geschwisterkinder können etwa ab dem 4. Lebensjahr im Umgang mit dem jüngeren Geschwisterkind Feinfühligkeit zeigen. Einige Eltern, beispielsweise depressiv erkrankte Elternteile, haben jedoch Schwierigkeiten, feinfühlig gegenüber ihren Kindern zu agieren (Murray 2011).

      Lange Zeit ging es bei dem Konstrukt der Feinfühligkeit immer nur um die mütterliche Feinfühligkeit. Heute wird zwischen einem mütterlichen und einem väterlichen feinfühligen Interaktionsstil unterschieden – wobei diese Bezeichnungen insofern missverständlich sind, als dass sie nicht geschlechtsgebunden sind. Der sogenannte mütterliche Interaktionsstil, den aber auch Männer praktizieren können, zeichnet sich eher durch Konventionalität, Fürsorglichkeit und Sicherheit aus. Der sogenannte väterliche Interaktionsstil, den ebenso auch Mütter verfolgen können, manifestiert sich in unkonventionellem, das Erregungsniveau stimulierendem Verhalten (Grossmann/Grossmann 2006).

      Ein wesentlicher Faktor für die Interaktion zwischen Eltern und Kind ist aber nicht nur die elterliche Feinfühligkeit, sondern u.a. auch der Gesundheitszustand und das Temperament des Kindes (Bindt 2003); alle diese Faktoren haben durchaus Auswirkungen auf den jeweiligen Bindungsstil der Kinder. In der Temperamentsforschung werden drei Temperamentsdimensionen unterschieden (Elsner/Pauen 2012):

      a. das einfache Temperament (easy babies): Dazu zählen die sogenannten „Sonnenscheinkinder“ – explorativ, freundlich, mit hoher Selbstregulationsfähigkeit und kontaktsuchend.

      b. das langsam auftauende Temperament (slow-to-warm-up babies): Diese Kinder verhalten sich eher zurückgezogen und beobachtend, verfügen über eine hohe Selbstregulationsfähigkeit und sind wenig reizoffen.

      c. das schwierige Temperament (difficult babies): diese Kinder sind oftmals sehr explorativ, haben aber eine niedrige Selbstregulationsfähigkeit und sind sehr reizoffen; zu ihnen zählen die sogenannten „Schreibabys“.

      Wichtig hierbei zu beachten ist die Passung bzw. das Zusammentreffen der unterschiedlichen Faktoren. So ist es auch für feinfühlige Eltern herausfordernder, eine sichere Bindung mit einem Kind mit einem schwierigen Temperament einzugehen; dennoch kann dieses durchaus gelingen. Wenn jedoch Eltern, die nur über geringe intuitive kommunikative Kompetenzen verfügen, ein Kind mit einem schwierigen Temperament haben, ist das Risiko für eine unsichere Bindung bzw. auch für die Entwicklung einer Bindungsstörung durchaus erhöht.

      2.3.4 Bindungsstile im Erwachsenenalter

      Die autonome Bindungseinstellung von Eltern, die eine realistische und nicht idealisierende Erinnerung an die eigene Kindheit sowie positive und negative reflektierte Gefühle gegenüber Bindungspersonen umfasst, korrelierte überwiegend mit dem sicher gebundenen Bindungsstil ihrer Kinder.

      Eltern mit distanziert beziehungsabweisender Bindungseinstellung haben oft viele Erinnerungen an ihre eigene Kindheit verdrängt, idealisieren diese, betonen ihre eigene Unabhängigkeit und Stärke und beharren darauf, dass es ihnen an nichts gefehlt habe. Dieser Bindungsstil korreliert mit dem unsicher-vermeidend gebundenen Bindungstyp bei Kindern.

      Die präokkupiert-verstrickte Bindungseinstellung ist durch eine übermäßig detaillierte und wenig distanzierte Erinnerung an die eigene Kindheit sowie eine noch starke Abhängigkeit gegenüber den ursprünglichen Bindungspersonen gekennzeichnet. Elternteile mit der präokkupiert-verstrickten Bindungseinstellung haben oft unsicher-ambivalent gebundene Kinder mit erschwerten Ablöseprozessen.

      Menschen