Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit. Barbara Bräutigam

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Название Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit
Автор произведения Barbara Bräutigam
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846349472



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      Es folgt mit Eintritt des Schulalters – so Piaget – das konkretoperatorische Stadium, das mit der Entwicklung von Zahl- und Zeitbegriffen einhergeht. Die logischen Operationen von Verknüpfungen, wie z.B. Addition und Reversibilität (9 + 5 = 14 und 14 – 9 = 5), werden möglich.

      In Bezug auf die kindliche Persönlichkeitsentwicklung können Kinder im Alter zwischen zweieinhalb und fünf Jahren beobachtbare Züge des Selbst konstruieren (ich habe blaue Augen, bin kitzlig und mag Eierkuchen). Diese Selbstbeschreibungen stehen aber weitgehend unverbunden nebeneinander. Kinder entwickeln bereits ab dem 3. Lebensjahr eine soziale Identität, d.h., ein Gefühl für „ihre Gruppe“, und favorisieren diese. Bereits mit vier Jahren entwickeln Kinder einen differenzierten Zeitbegriff und sind in gewisser Hinsicht in der Lage vorausschauend zu denken. Ab dem sechsten Lebensjahr können Merkmale der Selbstbeschreibung miteinander verknüpft werden. Das Kind kann sich und andere mit Hilfe von Gegensatzpaaren beschreiben (Mathilde hat grüne Augen und ich blaue, Mattis kann gut rennen und ich gut zeichnen). Der egozentrische Standpunkt verringert sich noch weiter und der Standpunkt anderer beginnt wirksam zu werden. Das Kind vermag sich nun vorzustellen, was ein Anderer über einen Dritten oder es selbst denkt. Kinder verfügen in etwa ab diesem Zeitpunkt über ein differenziertes und relativ stabiles Selbstkonzept, das mit zunehmendem Alter immer realistischer wird. Ebenso gewinnen Freunde an Bedeutung, auch wenn Freundschaft noch eher zweckorientiert ist – man braucht jemanden zum Spielen und jemanden, der einem hilft und dem man vertrauen kann (Heidbrink 2013).

      Ab dem neunten Lebensjahr können Eigenschaften beschrieben werden, die hinter einzelnen Verhaltensweisen stehen und die Vereinbarkeit gegensätzlicher Eigenschaften wird möglich (ich bin eigentlich kein wütender Mensch, aber in bestimmten Situationen raste ich aus). Ab ungefähr zehn Jahren können Kinder ihre eigene Perspektive mit der Anderer vergleichen. Sie können die Perspektive einer dritten Person einnehmen und auf dieser Grundlage die Ansichten von zwei weiteren Personen bewerten (Kray/Schaefer 2015).

      In Bezug auf die sozioemotionale Entwicklung sind Kontrollüberzeugungen und das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit von besonderer Bedeutung. In dem sehr interessanten und vielzitierten Marshmallow-Experiment von Mischel (2015) waren manche vierjährige Kinder in der Lage, auf eine Belohnung zu warten, wenn sie durch das Warten eine attraktivere und größere Belohnung bekamen, als wenn sie sie gleich erhielten. Diese Kinder waren offenbar bereits in der Lage, sich vorzustellen, das Gewünschte später nachzuholen; der Aufschub war somit leichter. In späteren Langzeitstudien wurde deutlich, dass die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub ein wesentlicher Prädiktor für späteren Schul- und beruflichen Erfolg darstellte (Shoda et al. 1995). Die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub hat übrigens auch etwas mit Bindungssicherheit zu: bindungssichere Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Bedürfnisse verlässlich und mit aushaltbaren Zeitverschiebungen erfüllt werden.

      In den folgenden beiden Abschnitten werden exemplarisch zwei weitere Funktionen bzw. Fähigkeiten beschrieben, die bei der sozioemotionalen Entwicklung im Kindesalter und im Kontext der Sozialen Arbeit eine herausragende Rolle spielen.

      Die Psychologen David Premack und Guy Wodruff (1978) haben den Begriff der Theory of mind (Theorie über mentale Zustände) geprägt. Dieser bezeichnet die Fähigkeit, innere Zustände anderer Menschen erkennen zu können. Zwei- bis Dreijährige wissen zwar, z.B. dass jemand anderes etwas sehen kann, was sie selbst gerade nicht sehen, oder dass man vorgestellte Bonbons nicht essen kann. Sie wissen aber in der Regel bis zum vierten Lebensjahr noch nicht, dass Überzeugungen zu Sachverhalten nur Annahmen sind, die den realen Tatbestand treffen oder auch verfehlen können.

      Wimmer und Perner (1983) führten dazu ein Experiment durch, das heute als Maxi- oder auch als das Schokoladen Paradigma beschrieben wird. Sie zeigten Kindern eine Bildergeschichte, in der Maxi Schokolade in eine Schublade legt und dann zum Spielplatz geht. Während Maxi auf dem Spielplatz ist, legt ihre Mutter die Schokolade in eine andere Schublade. Die Kinder wurden nun gefragt, in welcher Schublade Maxi die Schokolade nun suchen würde. Dreijährige Kinder antworten, in der Regel, dass Maxi die Schokolade in der Schublade sucht, in die die Mutter sie hineingetan hat – sie werden somit als naive Realisten bezeichnet und erliegen dem „false belief“. Erst mit vier Jahren antworten die Kinder, dass Maxi die Schokolade in der Schublade suchen würde, in die sie sie hineingelegt habe, weil sie ja nicht wissen könne, dass die Mutter sie weggelegt hat (Sodian 2012).

      Vor dem vierten Lebensjahr ist somit noch keine Perspektivübernahme möglich. Kinder können sich in den anderen zwar hineinversetzen, verstehen diesen aber gemäß von ihrem eigenen Erleben. Ab vier Jahren ist eine einfache Perspektivübernahme möglich, die Subjektivität der Perspektiven wird bewusst und es entsteht die Idee, dass der andere etwas anderes denken könnte, als man selbst.

      Sicher gebundene Kinder sind aufgrund der oben beschriebenen markierten Spiegelungserfahrungen (s. Kapitel 2.3.3) durch ihre feinfühligen Bezugspersonen ab etwa vier Jahren in der Lage, ihre eigenen Gefühlszustände von denen ihres Gegenübers zu differenzieren und somit „mentalisieren“ zu können.

      „Mentalisieren heißt, sich auf die inneren Zustände in sich selbst und im anderen zu beziehen“ (Brockmann/Kirsch 2010, 279).

      Das Mentalisierungskonzept wurde von dem britischen Psychologen und Psychoanalytiker Peter Fonagy et al. (2004) entwickelt und ist über die mentalisierungsbasierte Psychotherapie mittlerweile auch ein relevantes Konzept in der Sozialen Arbeit (Kirsch 2016). Die Fähigkeit zur Mentalisierung, d.h. also die eigenen inneren Befindlichkeiten von denen des Gegenübers differenzieren zu können, ermöglicht zwischenmenschliches Verständnis und eine daraus resultierende Handlungsfähigkeit. Sie erleichtert zudem aus sozialarbeiterischer Perspektive in den meisten Fällen die Beziehungsaufnahme zum Klienten.

      

Im Falle von dem bereits geschilderten Fallbeispiel von Max und seinen Eltern bestand beispielsweise ein Großteil der familientherapeutischen Arbeit, mit den Eltern und Max zu üben, Gefühle als solche zu identifizieren – also beispielsweise zwischen Wut, Traurigkeit, Verlassenheit und Enttäuschung zu unterscheiden – und diese dann nach und nach in Sprache zu bringen. In einem zweiten Schritt ging es dann darum, diese Gefühle beim Gegenüber wahrzunehmen und ebenfalls benennen, d.h. „mentalisieren“ zu können.

      Dies könnte in der oben beschriebenen Situation konkret bedeuten, dass Max Mutter in der Lage wäre, zu Max zu sagen: „Max, ich bin wütend, weil Du Dich nicht anziehen willst, und möchte deshalb rausgehen. Ich bekomme aber mit, dass es Dir Angst macht, wenn ich Dein Zimmer verlasse“. Und Max könnte sagen: „Ich habe Angst, dass ich nicht wieder nach Hause kommen darf. Ich bekomme mit, dass Du vor mir Angst hast, wenn ich Dinge kaputt mache oder Dich beschimpfe.“

      Viele der Klienten, mit denen SozialarbeiterInnen zu tun haben, sind nur sehr begrenzt in der Lage zu mentalisieren, zum einen aufgrund von biographischen bindungsbezogenen Erfahrungen, und zum anderen weil die Mentalisierungsfähigkeit generell in Stresssituationen beschränkt und eingeengt ist. Ein gutes Beispiel dafür sind Sorgerechtsstreitigkeiten prinzipiell gut reflektierter Elternteile, die in dieser Situation aufgrund trennungsbedingter Verletzungen wenig bis gar nicht in der Lage sind, die Gefühlszustände ihres Ex-Partners oder auch der gemeinsamen Kinder zu mentalisieren. Für SozialarbeiterInnen ist es somit eine grundlegende Aufgabe und Anforderung, ihre KlientInnen in ihren Mentalisierungsfähigkeiten zu stützen, da diese der Reflexion und Emotionsregulation dienen.

      Empathie ist ein in der Sozialen Arbeit viel benutzter und z.T. recht strapazierter Begriff. Empathie ist „irgendwie wichtig“. Nicht selten bezeichnen sich Studierende der Sozialen Arbeit oder auch der Psychologie gern zu Beginn ihres Studiums als sehr sensibel bzw. empathisch und meinen damit, dass sie oft darunter leiden, wenn es anderen schlecht geht.

      Was aber meint Empathie genau und wie entwickelt sich diese? Empathie beschreibt die Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage oder auch der Intention eines anderen teilhaftig zu werden und sie dadurch