Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit. Barbara Bräutigam

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Название Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit
Автор произведения Barbara Bräutigam
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846349472



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kontrollieren zu können, setzte Wundt das Experiment ein, das es ermöglichte, psychische Vorgänge gezielt hervorzurufen, zu erzeugen und dann zu beobachten. Für Wilhelm Wundt stand die Erforschung der unmittelbaren Erfahrung im Zentrum der akademischen Disziplin der Psychologie:

      „Ihre Aufgabe ‚besteht in der Erforschung dessen, was wir im Gegensatze zu den Gegenständen der äußeren Erfahrung […] die innere Erfahrung nennen: in unserem eigenen Empfinden und Fühlen, Denken und Wollen. Der Mensch selbst, nicht wie er von außen erscheint, sondern wie er unmittelbar sich selber gegeben ist – er ist das eigentliche Problem der Psychologie“ (Wundt 1919, 1).

      Ebenfalls im 19. Jahrhundert beginnt die gezielte Beobachtung von Kindern. Wissenschaftlich, erzieherisch und literarisch interessierte Väter wie Jean Piaget und Charles Darwin veröffentlichen Beobachtungen über ihre Kinder. Hierbei wird bereits ein Grundstein für entwicklungspsychologische Forschung gelegt.

      Insgesamt kann im 19. Jahrhundert – grob verallgemeinert – zwischen drei großen Strömungen der Psychologie unterschieden werden: 1. die empirische Psychologie, die Psychologie als Erfah rungswissenschaft begreift; 2. die verstehende Psychologie, die davon ausgeht, dass das Verständnis eines anderen Menschen aus der unmittelbaren Begegnung zwischen zwei Subjekten hervorgeht; und 3. die experimentelle Psychologie, die versucht, Aspekte der Wahrnehmung, der Motivation und des Gedächtnisses mittels erster psychophysiologischer Messungen zu untersuchen.

      1.4 Zwischen Skinner, Freud und Piaget: Psychologie differenziert sich

      Als wichtigste Vertreter des Behaviourismus gelten die US-Amerikaner John Watson (1878–1958) und B.F. Skinner (1904–1990). Dem Behaviourismus zufolge muss sich die Psychologie auf die Beobachtung und die Veränderung von Verhalten beschränken. Innere Prozesse werden als nicht greifbare und wissenschaftlich erfassbare Vorgänge verstanden. Eine Grundidee des Behaviourismus besteht darin, dass sämtliches Können und alle Eigenschaften von Menschen auf Lernerfahrungen beruhen. Im Fokus steht also die Frage: Wie wird gelernt? Unterstützt wurde dieser Ansatz durch die unabhängig entwickelten Arbeiten des russischen Physiologen Iwan Pawlow (1849–1936), der durch seine Experimente mit Hunden entdeckte, wie Verhalten durch die Kopplung an Außenreize gesteuert werden konnte (s. Kapitel 3.6.1).

      Sigmund Freud (1856–1938) als der Vater der Psychoanalyse legte mit seiner Idee, dass seelische Störungen ihren Ursprung in einer unbewussten Dynamik haben und auf ungelösten frühkindlichen, vornehmlich sexuellen Konflikten basieren, den Grundstein für psychodynamische Theorien und für die Behandlungsidee einer Art Sprechkur. Interessanterweise wird die Psychoanalyse an vielen deutschen psychologischen Fakultäten heute fast gar nicht mehr gelehrt, weil sie als unwissenschaftlich und nicht ausreichend empirisch belegt gilt; sie ist hingegen an religions- oder literaturwissenschaftlichen Lehrstühlen relativ präsent. Die Psychoanalyse stellt nach wie vor eine der bedeutsamsten Theorien über die menschliche Seele und deren Eigenarten dar und ist auch für die psychosoziale Handlungspraxis (s. Kapitel 6.4) relevant.

      Als dritte große Richtung ist der Kognitivismus zu benennen, in dessen Zentrum die Theorie der Erkenntnis und das Bewusstsein im Sinne von Einsicht und Vernunft stehen. Einer der berühmtesten Vertreter des Kognitivismus ist der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980), der sich intensiv mit der Entwicklung geistiger Strukturen (s. Kapitel 2.6) befasste.

      Die bedeutenden Entwicklungspsychologen Charlotte und Karl Bühler, der Wahrnehmungspsychologe Kurt Goldstein, der wichtige neuropsychologische Grundlagen schuf, Paul Lazarsfeld als der Ideengeber der Marienthalstudie, Max Wertheimer als Vater der Gestaltpsychologie, William Stern als Begründer der Persönlichkeitspsychologie und Erfinder des Intelligenzquotienten, Kurt Lewin als Schöpfer der Feldtheorie: Sie sind nur einige wenige Beispiele für eine Vielzahl von wegweisenden Psychologen, die während der NS-Zeit auf Grund ihrer jüdischen Herkunft oder abweichender politischer Überzeugungen ihre Stellung in Deutschland verloren oder emigrieren mussten.

      Gleichwohl – die Geschichte der Psychologie in der NS-Zeit ist nicht nur die Geschichte der Verfolgung und Vertreibung ihrer Mitglieder. Sie ist ebenso eine Geschichte der Mittäterschaft. Darüber hinaus hat sich die Psychologie als eigenständige akademische Disziplin in dieser Zeit etabliert:

      „Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die Psychologie in Deutschland der NS-Herrschaft ihre Etablierung als eine eigenständige akademische Disziplin verdankt, losgelöst von Philosophie und Medizin. Mit der Einführung der Diplomstudienordnung für das Fach Psychologie im Jahre 1941 wurde ein Curriculum entwickelt, das der Psychologie nach dem 2. Weltkrieg die Einrichtung von Lehrstühlen für Psychologen erst ermöglichte (vgl. Geuter 1984a). Hierbei spielte die individuelle Anpassung aufgrund opportunistischer Erwägungen an die herrschende NS Ideologie ebenso eine Rolle wie der Versuch, die psychologischen Erkenntnisse der Diagnostik vor allem in der Wehrpsychologie und Berufsberatung nutzbar zu machen“ (Wolfradt 2017, 1f.).

      Während der NS-Zeit arbeiteten nicht wenige Psychologen als Wehrpsychologen und profitierten von der damit verbundenen Verbeamtung. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP konnte dazu beitragen, eine gesicherte Anstellung an Universitäten oder anderen staatlichen Stellen zu erhalten. Auch bei der Entwicklung einer Rassenpsychologie wirkten Psychologen mit. Besonders populär waren in dieser Zeit psychologische Lehren, die biologischorganische Charakterologien propagierten und einen völkischen Gemeinschaftsgedanken betonten. Insgesamt war die Psychologie, die häufig mit der stark jüdisch geprägten Psychoanalyse gleichgesetzt wurde, den NS-Machthabern zwar suspekt, dennoch wurden z.B. völkische Rassegedanken von Psychologen in bestehende Persönlichkeitskonzepte integriert (Geuter 1985, Wolfradt 2017).

      Es gibt einige Beispiele dafür, dass psychologische Wissenschaftler, die offensiv nationalsozialistisches Gedankengut vertraten, auch nach dem zweiten Weltkrieg wichtige akademische Positionen bekleideten. Hierzu gehört der bekannte Ausdruckspsychologe Philipp Lersch, der sich 1941 offen für das Euthanasieprogramm der Nazis ausgesprochen hatte, von 1942–1968 in München lehrte und von 1953–1955 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie war. Ein anderes Beispiel ist die Entwicklungspsychologin Hildegard Hetzer, die sich zwar zeitweise mit der NSFührung überwarf, aber dennoch 1942 Charaktergutachten über polnische Kinder erstellte, die über deren mögliche Umerziehung oder auch potenzielle Vernichtung entschieden. Sie wurde 1961 zur Psychologieprofessorin in Gießen berufen und erhielt zahlreiche Ehrungen und Preise.

      Nur wenige PsychologieprofessorInnen wurden im Zuge der Entnazifizierung ihrer Hochschulämter enthoben. Insofern konnte gerade in den damaligen Westzonen von einer gewissen personellen und inhaltlichen Kontinuität von Lehre und Forschung seit der Zeit des Nationalsozialismus ausgegangen werden. Die seit 1941 bestehende und bis in das neue Jahrtausend fast unveränderte Diplomprüfungsordnung ist ein Ausdruck dieser Kontinuität (Häcker/Stapf 2009).

      1.6 Psychologie heute

      Der Kanon der universitär gelehrten Psychologie besteht heute im Allgemeinen in der Lehre der Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Persönlichkeitspsychologie, der allgemeinen Psychologie, der pädagogischen