Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit. Barbara Bräutigam

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Название Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit
Автор произведения Barbara Bräutigam
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846349472



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in ihrer Kindheit erfahren, die sie nicht bearbeiten konnten; dieses kann sich dann auch transgenerational in einem desorganisiert gebundenen Bindungsstil ihrer Kinder fortsetzen.

      2.3.5 Die Relevanz des Bindungssystems

      In vertrauten Situationen und bei ausgeglichener Befindlichkeit gehen Kinder eher dem Interesse nach Neuem nach; in unvertrauten Situationen überwiegt das Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit und sie suchen Rückhalt bei den Menschen, zu denen sie eine sichere Bindung entwickelt haben. Dieses lässt sich auch auf das Erwachsenenalter übertragen: In einer Erstsemesterveranstaltung werden die Studierenden vorrangig das Bedürfnis haben, mit ihnen vertrauten Menschen zusammenzusitzen – im letzten Semester ist das Bedürfnis, sich nach außen und beispielsweise in Richtung Berufswelt zu orientieren, meistens relativ groß.

      Eine Bindungsperson qualifiziert sich dadurch, dass sie vom Kind als personifizierte emotionale und empathische Sicherheitsquelle identifiziert wird, von der aus das Kind, je nach Situation und Kontext, regelmäßig exploriert und zurückkehrt, um emotional aufzutanken. Ein typisches Beispiel ist das von der Bezugsperson wegrobbende und sich doch immer wieder umdrehende Kleinkind, das sich auf diese Weise der Anwesenheit und der Aufmerksamkeit durch die Bezugsperson versichert. In Situationen der Verunsicherung und Angst wird das Bindungssystem aktiviert, d.h., Menschen suchen entsprechend ihres Bindungsstils besondere Nähe oder besondere Distanz zu den relevanten Bezugspersonen. Aus diesem Grunde begegnen SozialarbeiterInnen ihren KlientInnen auch oft in solchen Situationen, in denen deren Bindungssystem aktiviert ist – d.h. also in Notsituationen oder in Momenten, die von gefühlter oder realer Bedrohung geprägt sind.

      

In einer Hilfekonferenz für den zwölfjährigen Max, an dem die zuständige Jugendamtsmitarbeiterin, der Bezugserzieher der Jugendwohngruppe, Max und seine Eltern und deren Familientherapeutin teilnehmen, geht es um die Frage, wann und unter welchen Umständen Max wieder zu Hause wohnen darf. Max lebt wegen seines aggressiven Verhaltens, das sich in unkontrollierbaren Wutausbrüchen und verbalen Attacken gegen seine Mutter manifestiert, seit einem halben Jahr in der Wohngruppe. Er möchte sehr gern wieder zu Hause wohnen, auch seine Eltern wollen ihn wieder bei sich zu Hause aufnehmen, sie leben aber in furchtsamer Erwartung vor dem nächsten Wutausbruch. Bei einer probeweisen Beurlaubung, bei der Max unter dem Druck steht, sich „adäquat“ zu benehmen, trägt sich folgende Situation zu: Max will mit seiner Mutter am Sonntagmorgen Hausaufgaben machen. Diese stellt die Bedingung, dass er sich dazu anzieht. Max will die Hausaufgaben aber im Schlafanzug machen. Es kommt zum Streit und die Mutter verlässt abrupt das Zimmer. Daraufhin eskaliert die Situation, Max randaliert in seinem Zimmer und die Beurlaubung wird vorzeitig abgebrochen.

      Dieses Beispiel stellt die Aktivierung einer Bindungsreaktion in einer für Max bedrohlichen Situation dar. Die bedrohliche Situation besteht zum einen darin, dass Max sich generell in seinen Rückkehrwünschen bedroht sieht, da hierzu noch keine verlässliche Entscheidung getroffen wurde. Zum anderen werden in dem plötzlichen Akt des Zimmer-Verlassens durch die Mutter möglicherweise alte Verlassenheitsängste aktiviert. Max hat als kleines Kind öfter die Erfahrung gemacht, dass seine Wünsche nach Nähe und Trost offenbar nicht aushaltbar sind und nicht erfüllt werden können, und reagiert zunächst mit Frustration, die sich dann in Aggression kehrt, wenn er den Wunsch nach Nähe verspürt. Für seine Eltern, die vermutlich über eine distanziertbeziehungsabweisende Bindungseinstellung verfügen, sind seine „Nähewünsche“ als solche nicht mehr erkennbar. Beide Eltern verfügen nur über ein sehr geringes Erinnerungsvermögen an ihre eigene Kindheit, verbalisieren wenig ihre Gefühle und pochen sehr auf ihre Autonomie und Unabhängigkeit. Max maskiert seine Nähe- und Trostbedürfnisse hinter pseudoautonomem, ruppigem und aggressivem Verhalten. Max‘ Eltern können demzufolge sein Verhalten aus gut nachvollziehbaren Gründen nur als gegen sich gerichtet erkennen.

      Bindungsstile können sich im Laufe des Lebens modifizieren oder durch korrigierende Erfahrungen verändert werden. Zu den wesentlichen protektiven Faktoren zählt eine längere und stabile Beziehung an eine Bezugsperson – dieses kann z.B. eine Großmutter, ein Pflegevater oder auch eine langjährige sozialpädagogische Familienhelferin sein – eine stabile Partnerschaft im Erwachsenenalter oder auch eine psychotherapeutische Behandlung (Kißgen 2009).

      Anhand von Bindungstheorien ist es also insgesamt möglich, Verhalten sowie Erlebens- und Verarbeitungsweisen von kleinen Kindern in emotionalen Notsituationen bzw. körperlich bedrohlichen Situationen zu beschreiben und zu erklären. Bindungssysteme werden jedoch nicht nur in der Kindheit, sondern ein Leben lang in Notsituationen aktiviert. Auch SozialarbeiterInnen selbst müssen also – beispielsweise in Krisensituationen – darauf achten, dass KlientInnen ihre eigenen Bindungsbedürfnissignale erkennen und wenn möglich auch zeigen dürfen. Ein weiteres gutes Beispiel dafür ist, dass es für Menschen auf der Flucht von immenser Wichtigkeit ist, einen wie auch immer gearteten Kontakt zu ihren Angehörigen in ihrer Heimat zu haben, sodass die Schaffung oder Ermöglichung von Internet- und/oder telefonischen Verbindungen beispielsweise in Notunterkünften oder Flüchtlingsheimen unter Bindungsgesichtspunkten als absolut elementar anzusehen ist.

      Die meisten Frauen erleben Schwangerschaft als einen schönen und unkomplizierten Prozess. SozialarbeiterInnen sind aber häufig mit den Risiken und Belastungen rund um die Schwangerschaft bei den betroffenen Frauen und Familien beschäftigt. Aus diesem Grund werden in diesem Kapitel die entwicklungsbezogenen Risiken der Schwangerschaft beschrieben.

      Ein Risiko jeder Schwangerschaft ist die Fehlgeburt. Bereits nach der Zeugung beginnt der biologische Entwicklungsprozess eines Individuums. Etwa zehn Tage nach der Empfängnis bilden sich die ersten Zellen an der Uteruswand der Mutter. Allerdings überleben nicht einmal die Hälfte aller befruchteten Eizellen die ersten zwei Wochen (Myers 2014). Die Zahl der (in diesem frühen Stadium der Schwangerschaft meist unbemerkten) Fehlgeburten liegt in den ersten vier Wochen bei fast 50%.

      Fehlgeburten werden in Anamnesen und Genogrammen, bei denen es um die Erfassung individueller und familienbezogener Lebenserfahrungen geht, oft verschwiegen – aus Scham, dem Gefühl vermeintlicher Bedeutungslosigkeit oder auch aus der Empfindung heraus, allein damit zu sein. Sie haben aber in der Regel für die Mütter, Väter und die Geschwister eine hohe psychische Bedeutung und können auch eine Belastung darstellen, die umso stärker ist, desto tabuisierter sie gehandhabt werden.

      Andere Risiken für die Entwicklung des Kindes in der Schwangerschaft sind Erkrankungen der Mutter, beispielsweise durch Virusinfektionen, oder unerwartete Komplikationen während der Geburt. Ein plötzlicher Sauerstoffmangel während der Geburt kann beispielsweise zu schweren Folgeschäden führen, die die werdenden Eltern oft unvorbereitet schwer treffen. Sich in dieser Situation um Eltern zu kümmern und Unterstützung anzubieten, ist oft die Aufgabe von in Kliniken tätigen SozialarbeiterInnen.

      Auch das Verhalten der Mutter kann Schädigungen für das Kind verursachen. So schaden Nikotin, Alkohol sowie der Konsum anderer Drogen – mit Ausnahme von Koffein – der Entwicklung des Embryos und späteren Fötus. Es sei an den eingangs beschriebenen Fall von Lisa erinnert, bei der der Drogenkonsum der Mutter mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Auslöser der Frühgeburt gewesen ist. Weitere Folgeschäden können Missbildungen und/oder Verhaltensstörungen sein. Die Zahl der jährlich in Deutschland mit alkoholbedingten Schädigungen auf die Welt gebrachten Kinder liegt in den 2010er Jahren bei etwa 10.000, ca. 2000 Babys erfüllen das Vollbild des „fetalen Alkoholsyndroms“. Dieses kann sich in drei Bereichen entfalten: in körperlichen Fehlbildungen, Wachstumsstörungen und Schädigungen des zentralen Nervensystems. Diese Gruppe bildet ein nicht zu vernachlässigendes Klientel von SozialarbeiterInnen (Pfinder/Feldmann 2011, ter Horst 2010).

      SozialarbeiterInnen arbeiten nicht nur mit den hiervon betroffenen Kindern, sondern auch mit ihren Eltern, und insbesondere mit ihren Müttern. Sie haben die Aufgabe, in der Arbeit