Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit. Barbara Bräutigam

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Название Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit
Автор произведения Barbara Bräutigam
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846349472



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Piaget (1896–1980) gilt als einer der wichtigsten Entwicklungspsychologen, der sich mit der geistigen Entwicklung von Säuglingen und Kindern beschäftigte. Er verstand diese geistige Entwicklung als Prozess der aktiven Konstruktion von Wissen in der Interaktion des Individuums mit der Umwelt. Das Kind bezeichnete Piaget als einen von einer inneren Neugier getriebenen Wissenschaftler, der aktiv seine Umwelt erkunde (Piaget 2003, Sodian 2012). Dabei beschrieb er den Erkenntnisprozess im Wechselspiel von zwei komplementären Mechanismen. Den einen nannte Piaget Assimilation. Assimilation geschehe immer dann, wenn etwas Neues in bestehende mentale Strukturen integriert werden könne. Dieser reiche aber allein nicht aus, um sich den Lernzuwachs von Kindern zu erklären:

      „Wenn nur Assimilation an der Entwicklung beteiligt wäre, gäbe es keine Variationen in der Struktur des Kindes. Infolgedessen würde es keine neuen Inhalte erwerben und sich nicht weiterentwickeln“ (Piaget 2003, 55).

      Den anderen und ergänzenden Mechanismus bezeichnete Piaget als Akkomodation. Hierbei müssen sich die mentalen Strukturen an die Umweltanforderungen anpassen und entwickeln sich auf diese Weise weiter. Das Wechselspiel dieser beiden Mechanismen soll an folgendem Beispiel illustriert werden:

      

Ein anderthalbjähriges Kind hat herausgefunden, dass ein Teller, wenn es ihn auf den Boden wirft, zerbricht. Wenn es dann eine Tasse herunterwirft, lernt es, dass auch Tassen zerbrechen und ordnet dies seinem vorhandenen Wahrnehmungsschema zu, dass Gegenstände, wenn man sie herunterwirft, kaputt gehen. So erklärt sich der Mechanismus der Assimilation. Die bestehende mentale Struktur des Kindes beinhaltet nun die Überzeugung, dass Gegenstände, die man hinunterwirft, kaputt gehen. Nun stellt das Kind aber fest, dass z.B. ein Plastikteller oder ein Plastikauto heil bleibt, obwohl man sie herunterwirft. Das heißt, das Kind verändert durch den Mechanismus der Akkomodation seine mentalen Strukturen von „alle Gegenstände gehen kaputt, wenn ich sie runterwerfe“ in „manche Gegenstände, die ich herunterwerfe, gehen kaputt, andere nicht“.

      Piaget umschrieb die ersten zwei Lebensjahre als sensumotorisches Stadium, in dem die kognitiven Grundlagen für die sensorischen und motorischen Handlungen – die sensumotorischen Schemata – gelegt werden. Dazu zählen z.B. das Saugschema und die Exploration mit dem Mund. Jean Piaget fand auch heraus, dass Kinder bis zu einem bestimmten Alter – er schätzte es bei acht Monaten – keine Objektpermanenz haben. Sie gehen also davon aus, dass ein Gegenstand – z.B. ein Ball –, der aus ihrem Blickfeld verschwindet, dann auch nicht mehr existiert. Nach heutigen Erkenntnissen weiß man allerdings, dass Piaget die kognitiven Fähigkeiten jüngerer Kinder deutlich unterschätzte, dass sich die Fähigkeit zur Objektpermanenz deutlich früher einstellt und prozesshaft verläuft, als Piaget dieses angenommen hatte (Sodian 2012).

      Bereits im Säuglingsalter können kulturübergreifend sieben bis zehn Basisemotionen beobachtet werden. Dazu zählen Freude, Angst, Trauer, Wut, Ekel, Verachtung, Überraschung, Interesse, Scham und Schuld (Izard 1999, Dornes 2012). Im Film „Alles steht Kopf“, der vom Emotionsforscher Dacher Keltner mitentwickelt wurde, wird sichtbar, wie sehr Gefühle die Weltwahrnehmung dominieren und bei gleichzeitigem Auftreten auch verwirren können. Emotionen sind immer von physiologischen Reaktionen und kognitiven Bewertungen begleitet, wobei manchmal die Emotion der Kognition vorausgeht und manchmal umgekehrt die Kognition die Emotion bestimmt (Myers 2014). Auf dieser Basis arbeitet beispielsweise die kognitive Verhaltenstherapie mit depressiven Menschen, in dem sie mit ihren Klienten positive Umdeutungen von chronisch als negativ erlebten Situationen übt (s. Kapitel 6.3). Säuglinge und Kleinkinder sind noch nicht in der Lage, negative Emotionen kognitiv zu beeinflussen, und sind ihren Bedürfnissen und Gefühlen daher – anders als Erwachsene – ausgeliefert. Sie brauchen in der Regel Unterstützung bei ihrer Emotions- und Spannungsregulation.

      Besonders evident wird dies bei sogenannten Trotzanfällen. Trotzanfälle, die in der Regel im dritten und vierten Lebensjahr auftreten, resultieren entwicklungspsychologisch betrachtet aus einer faktischen Diskrepanz zwischen dem wachsenden Autonomieanspruch des Kindes auf der einen und seinen im Vergleich dazu noch nicht ausreichenden Fähigkeiten auf der anderen Seite. Das Kind kann weder alles, noch darf es alles. Infolgedessen ist es häufig frustriert und drückt in Trotzanfällen seine Wut und seinen Ärger aus. Ebenso kann Trotzverhalten entstehen, wenn das Kind sich schämt und diese Scham nicht aushalten kann (Wurmser 1998). Trotzanfälle können aber auch dann auftreten, wenn sich das Kind gar nicht in Interaktion befindet. Beispielsweise kann es darum gehen, dass ein Kind sich zwischen zwei Spielzeugen oder Aktivitäten nicht entscheiden kann und der entstehende Motivkonflikt zu einer totalen Handlungsblockade führt.

      „Mit dem Ich als erlebtem Zentrum des Wollens und der Möglichkeit, sich Handlungsalternativen vorzustellen, entsteht also die Notwendigkeit, interne Motivkonflikte zu managen. Das Kind muss also als nächstes lernen, dass Selbst-Wollen-Können nicht bedeutet, alles gleichzeitig wollen zu können“ (Bischof-Köhler 2011, 160).

      Diese Fähigkeit erwirbt das Kind aber meist erst nach dem vierten Lebensjahr. In den Trotzanfällen verbirgt sich manchmal auch eine interaktive Machtthematik; das Kind möchte in diesem Alter seine Bezugspersonen herausfordern. In der Regel wird dieser Aspekt aber von den erwachsenen Interaktionspartnern überschätzt, die strafend oder ignorierend auf das trotzige Verhalten reagieren. Dieses resultiert oftmals aus der gefühlten Ohnmacht, die sich vom Kind auf den Erwachsenen überträgt. Auch die Mutter kann nichts daran ändern, dass ihr zweijähriger Sohn noch nicht in der Lage ist, die Schleife am Schuh zu binden, und sie kann ihn in dieser Situation nicht zufriedenstellen.

      „‚Nein‘ und ‚Selbermachen-Wollen‘ ist die Devise; diese Phase führt unausweichlich zum Zusammenprall mit den grenzsetzenden Erwachsenen, aber auch zur narzisstischen Kränkung, dass die Geschicklichkeit noch fehlt, um gewisse Handlungen fehlerfrei durchzuführen […] eine existenziell wichtige Aufgabe […] ist, dem Kind die Erfahrung zu vermitteln, dass es eine aversive Position einnehmen kann und dass in der Folge die Gemeinsamkeit gefahrlos wiederherstellbar ist“ (Ornstein/Rass 2014, 30f.).

      Der Umgang mit diesem Phänomen ist insbesondere bei der Elternarbeit, wie auch in der direkten sozialpädagogischen Arbeit mit kleinen Kindern, enorm reflexionsbedürftig, weil Trotzreaktionen wie wenig andere Phänomene, autoritäre, machtdemonstrierende und z.T. auch gewalttätige Impulse in uns selbst oder bei den betroffenen Eltern hervorrufen (Brisch 2015). Zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr resultieren viele Kinderschutzfälle daraus, dass Eltern mit ohnmächtiger Wut auf das, von ihnen als bösartig und ungehorsam interpretierte Verhalten ihrer Kinder reagieren.

      2.6 Entwicklung der Kindheit

      „Kindsein war: hinfallen, im Tunnel schreien, ins Badewasser pinkeln, Läuse haben, nicht auf Gehwegplatten mit Sprung treten, Brille kriegen, schaukeln und kotzen, nicht den Boden berühren!, Brottasche schleudern, Muttervaterkind spielen, Scherben sammeln, Schlüssel verlieren, aus der Zahnlücke Blut saugen, Puppe operieren, der Katze das Laufen auf zwei Beinen beibringen […] “ (Budde 2010).

      In Bezug auf die kognitive Entwicklung beginnt laut Piaget etwa nach Abschluss des zweiten Lebensjahrs das sog. präoperatorische Stadium, das in etwa bis zum siebten Lebensjahr anhält (Sodian 2012). Es bilden sich auf Menschen und auf Gegenstände bezogen stabile mentale Repräsentationen. Die Kinder sind nicht mehr nur auf das Hier und Jetzt bezogen, sondern es entsteht langsam eine Repräsentation von Vergangenheit und Zukunft und die Vorstellungskraft nimmt zu. Nach wie vor sind bestimmte logische Operationen, z.B. Reversibilität, noch nicht möglich. In sozialer Hinsicht spricht Piaget von Egozentrismus, der auch noch bei Vorschulkindern herrsche. Kinder in diesem Alter seien noch nicht in der Lage, aus der Perspektive eines Dritten zu sehen (Myers 2014). Auch hier unterschätzte Piaget jedoch die