Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit. Barbara Bräutigam

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Название Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit
Автор произведения Barbara Bräutigam
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846349472



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Entwicklungsmodelle – das endogenistische und das exogenistische – mittlerweile als zu universalistisch beurteilt, weil sie z.B. zu wenig kulturelle und individuelle Unterschiede berücksichtigen. Zudem konzentrierten sich beide Entwicklungsmodelle sehr auf die Kindheit und Jugend und beinhalten tendenziell starre und normative Vorstellungen von Entwicklungsverläufen (Montada et al. 2012).

      Die moderne Entwicklungspsychologie betrachtet Entwicklung über die gesamte Lebensspanne und bezieht differentielle Entwicklungen ein. Zudem wird Entwicklung in viel stärkerem Maße kontextabhängig und als von den sozialen Versorgungssystemen abhängig verstanden. So weiß man beispielsweise, dass Armut ein wesentliches Entwicklungsrisiko darstellt (Weiß 2010).

      „Die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne hat eine Erkenntnis in aller Schärfe deutlich gemacht: Die differenziellen Unterschiede im Lebenslauf beziehen sich nicht nur auf die Variabilität zwischen Kulturen, Subkulturen oder sozialen Gruppen, sondern auch auf die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Generationen. Sexualität beispielsweise ist heutzutage von einem Jugendlichen in anderer Weise zu bewältigen als früher, ebenso wie etwa das Altern heute andere Anforderungen an die Menschen stellt als an Angehörige früherer Generationen. Von Generation zu Generation sind nur beschränkte Schlussfolgerungen möglich. So wird Entwicklungspsychologie auch immer eine ‚unendliche Geschichte‘ sein“ (Langfeldt/Nothdurft 2015, 73).

      Ein aktuelles und für die Soziale Arbeit anschlussfähiges Entwicklungsmodell ist das biopsychosoziale Entwicklungsmodell (Fröhlich Gildhoff 2013). Die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und aktuellen Anforderungen ist demzufolge abhängig von

      

biologischen Bedingungen (Genen, Temperament, Schwangerschaft, Geburtsumständen),

      

psychischen Strukturen (Emotions- und Reizregulation) und

      

sozialen Umständen (Bindungserfahrungen etc.).

      Im Falle von Lisa wäre also ihre Entwicklung maßgeblich von dem Drogenkonsum ihrer Mutter während der Schwangerschaft und ihrer Frühgeburt (biologische Bedingungen), ihrer guten Emotionsregulation (psychische Strukturen) sowie vom Abbruch der Mutter-Kind-Beziehung einerseits und der verlässlichen sowie warmherzigen Beziehung zu den sozial zurückgezogen lebenden Großeltern andererseits (soziale Umstände) geprägt.

      In diesem Modell wird der Mensch als erkennender und potenziell reflektierender Mitgestalter seiner Entwicklung angesehen, der sich ein Bild von sich selbst und seiner Umwelt macht und bei neuen Erfahrungen modifiziert. Dabei wird nicht nur dem Entwicklungssubjekt, sondern auch den Entwicklungskontexten und den in diesen agierenden Menschen gestaltender Einfluss auf die Entwicklung zugeschrieben.

      Das Konstrukt der Bindung soll aus folgenden Gründen unter der entwicklungspsychologischen Perspektive einigermaßen gründlich erläutert werden: Ein Großteil Sozialer Arbeit manifestiert sich in psychosozialen Hilfeprozessen, die von Beziehungen getragen sind. Dabei

      „[…] lässt sich für das Gelingen eines psychosozialen Hilfeprozesses eine authentische, emotional tragfähige, persönlich geprägte und dennoch reflexiv und fachlich durchdrungene Beziehungsgestaltung herauskristallisieren, die sich inmitten des Lebensalltags der AdressatInnen entfaltet“ (Gahleitner 2017, 234).

      Bei dieser professionellen Beziehungsgestaltung mit KlientInnen sind SozialarbeiterInnen in der Regel permanent mit zwei Bindungssystemen konfrontiert: mit ihrem eigenen und mit dem ihrer KlientInnen. Das Bindungssystem meint die angeborene Motivation, in bedrohlich erlebten Situationen, die Nähe oder den Schutz einer vertrauten Person aufzusuchen.

      Aber was bedeutet Bindung überhaupt?

      2.3.1 Der Bindungsbegriff

      Das Bedürfnis nach Bindung ist komplementär zu dem Bedürfnis nach Exploration – also der Wunsch, die Welt zu erkunden – und Autonomie zu verstehen. Die Herstellung der Ausgewogenheit beider Bedürfnisse gilt als eine lebenslange Entwicklungsaufgabe (Rass 2011).

      Alle Kinder entwickeln im Verlaufe des ersten Lebensjahres eine oder mehrere enge Bindungen zu nahestehenden Personen. Ausgenommen davon sind Kinder, deren kognitives Entwicklungsniveau das von sechs Monaten nicht überschreitet, sowie schwer vernachlässigte Kinder. Im günstigen Fall hat das Kind bis zum Beginn des dritten Lebensjahres eine „sichere“ Bindung (s. Kapitel 2.3.2) zu einer oder mehreren zentralen Bezugspersonen aufgebaut.

      2.3.2 Bindungsstile

      In der Bindungstheorie wird zwischen unterschiedlichen Bindungsstilen unterschieden. Diese Unterscheidung geht auf die Bindungsforscherin Mary Ainsworth zurück, die den sogenannten „Fremde Situations Test“ (1974/2011) entwickelte, bei dem sie das Verhalten von Kindern im Alter zwischen 12 und 18 Monaten in kurzen experimentell hergestellten Trennungssituationen beobachtete. Dabei kristallisierten sich drei unterschiedliche Bindungsstile heraus, die alle als Variationen eines normalen Bindungsverhaltens angesehen werden.

      Als Typ A gilt der unsicher–vermeidende Bindungsstil – Mary Ainsworth ging davon aus, dass dieser Stil sich am häufigsten manifestieren würde, was sich aber nicht bewahrheitete. Die auf diese Weise gebundenen Kinder reagieren vermeintlich „cool“ auf die Trennung von der Bezugsperson, explorieren ungerührt weiter und zeigen keine besondere Reaktion nach Wiederkehr der Bezugsperson. Bei hormonellen Messungen am Hautwiderstand wurde aber deutlich, dass diese Kinder sehr wohl in dieser Trennungssituation Stress erleben, aber bereits Ende des ersten Lebensjahrs in der Lage sind, ihre Gefühle zu maskieren.

      Martin Dornes (2012) beschreibt, dass Kinder bereits mit neun Monaten „Mentalisten“ seien, also in der Regel hoch interessiert daran sind, die Einstellungen anderer Menschen in deren Gesichtern zu lesen. Die Reaktion des Maskierens erklärt man sich in etwa auf diese Weise: Unsicher-vermeidend gebundene Kinder „lesen“ aus den Reaktionen ihrer Bezugspersonen, dass ein autonomes und gefühlsverbergendes Verhalten ein adäquates und gewünschtes Verhalten sei. Noch in vielen Kindertageseinrichtungen gelten die Kinder, die in Trennungssituationen „nicht so viel Theater“ machen, als die pflegeleichten und sich richtig verhaltenden Kinder. Auch in einigen afrikanischen Ländern scheint die Variante eines eher passiven und emotionslosen Babys und Kleinkindes populärer. Das Kind ist dann durch sein ruhiges Verhalten besser von anderen zu beaufsichtigen; Weinen oder Schreien gilt eher als Zeichen für eine ernsthafte Gefährdung (Atabavikpo Lochmann 2015).

      Als Typ B gilt der sicher gebundene Bindungsstil – etwa 60–70 % aller Kinder sind den meisten Studien zufolge diesem Stil zuzurechnen. Sicher gebundene Kinder reagieren in der Regel mit deutlichen Emotionen (Weinen oder Schreien) auf die Trennung von der Bezugsperson, lassen sich dann beruhigen und reagieren mit klar erkennbarer Freude auf die Wiederkehr