Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit. Barbara Bräutigam

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Название Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit
Автор произведения Barbara Bräutigam
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846349472



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Unerwartetes entdecken zu können und so ein tiefergehendes Verständnis ihres jeweiligen Gegenübers aufzubauen.

      Die Soziale Arbeit gehört zu den Sozialwissenschaften, während Psychologie manchmal den Geisteswissenschaften und manchmal auch den Naturwissenschaften zugerechnet wird. Walach (2013) spricht sich für ein komplementäres Verständnis zwischen diesen beiden Orientierungen der Psychologie aus:

      „Psychologie muss sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaft sein, wenn sie den Menschen in seiner Doppelnatur entsprechend verstehen und begreifen will. Denn der Mensch stellt selbst eine solche komplementäre Verbindung zweier anscheinend nicht miteinander kompatiblen Seiten dar. Er ist durch und durch Teil der materiellen Realität, Naturwesen und Produkt der Evolution und insofern auch legitimer Gegenstand der Naturwissenschaft. Auf der anderen Seite ist er der Quell- und Kernpunkt dessen, was wir unter Geist und Bewusstsein verstehen. Er produziert als Kulturwesen auch geistige, kulturelle Äußerungen, die nur mit Mitteln der Geisteswissenschaft zu verstehen und zu handhaben sind“ (Walach 2013, 76).

      Soziale Arbeit sieht Psychologie – neben Soziologie und Jura – seit jeher als eine ihrer zentralen Bezugswissenschaften an. Es ist nicht immer eine Liebesbeziehung gewesen; der Vorwurf soziales Leid zu individualisieren, ging in der Regel auf ein übermäßig psychologisiertes Verständnis Sozialer Arbeit zurück. Die Wichtigkeit psychologischer Erkenntnisse für die Soziale Arbeit ist allerdings nie angezweifelt worden. Die Psychologie als akademische Disziplin orientiert sich an der Medizin oder den Gesundheitswissenschaften und ignoriert die Soziale Arbeit weitgehend. In der psychologischen Praxis hingegen ist die Bedeutsamkeit Sozialer Arbeit unumstritten und auch unübersehbar; deutlich wurde dies jüngst wieder bei der psychosozialen Unterstützung von geflüchteten Menschen, die für ihre seelische Balance zwingend die Klärung äußerer Rahmenbedingungen benötigen.

      Dieses Buch richtet sich an Studierende und Lehrende der Sozialen Arbeit und bietet eine Einführung in psychologische Perspektiven und Erkenntnisse. Dabei sind sämtliche Themen unter der Fragestellung aufbereitet, inwiefern die psychologische Perspektive für die Soziale Arbeit nützlich und hilfreich ist. Dieses Buch ist in der tiefen Überzeugung verfasst, dass dieser Nutzen nicht ein-, sondern wechselseitig besteht, sodass eine Einführung in die Soziale Arbeit für Studierende der Psychologie ein ebenso lohnenswertes Unterfangen wäre.

      Begonnen wird mit einem kurzen historischen Überblick über die Entstehung der Psychologie als Wissenschaft, daran schließen sich drei Kapitel über entwicklungs-, allgemein- und sozialpsychologische Grundlagen an. Kapitel 5 und 6 befassen sich mit Schwerpunkten der angewandten Psychologie und vermittelt familien-, erziehungs- und klinisch-psychologische Erkenntnisse. Kapitel 7 fokussiert sich auf Methoden und persönliche Kompetenzen, in die relevante psychologische Kenntnisse einfließen und die für die Soziale Arbeit zentral sind. Im abschließenden Kapitel 8 wird beschrieben, welche Angebote in den Kontexten Bildung, Gesundheit und psychosoziale Hilfen zu welchem Zeitpunkt für wen hilfreich sein könnten und in welchen Handlungsfeldern die VertreterInnen der Psychologie und der Sozialen Arbeit sich begegnen. Zu Beginn jedes Kapitels gibt es eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten beschriebenen Themen. Am Ende jeden Kapitels finden sich Lernfragen und Anregungen zur Diskussion sowie weiterführende Literaturhinweise.

      Der mittlerweile sehr bekannte französische Soziologe Didier Eribon beschrieb eine für sich zentrale Erkenntnis seines Lebens folgendermaßen:

      „Der folgende Satz aus Sartres Saint Genet war entscheidend für mich: ‚Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.‘ Er wurde zum Prinzip meines Lebens“ (Eribon 2016, 219).

      Dieses Prinzip verdeutlicht, dass Psychologie und Soziale Arbeit mit ihren unterschiedlichen Denk- und Herangehensweisen sehr eng miteinander verknüpft und in gewisser Weise auch aufeinander angewiesen sind.

      1 Kleine Geschichte(n) der Psychologie

      

Psychologie beschäftigt sich im Wesentlichen mit den Eigenheiten des menschlichen Geistes – sie ist die Wissenschaft vom menschlichen Verhalten und Erleben. Im Rahmen dieses Kapitels soll ein Einblick in die historischen Wurzeln und einige ideengeschichtlichen Aspekte des Fachs Psychologie gegeben werden. In der Antike widmeten sich die Medizin der Körperheilkunde und die Philosophie der Seelenheilkunde. Eine wesentliche Frage, die die Psychologie geprägt hat, ist die, wie Menschen zu Erkenntnissen gelangen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen empirischer, rationalistischer und hermeneutischer Strömungen weisen auf die Zwitterstellung der Psychologie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft hin. Im 19. Jahrhundert beginnt sich die Psychologie in verschiedene Teildisziplinen zu differenzieren. Insgesamt kann zwischen der empirischen, der verstehenden und der experimentellen Psychologie unterschieden werden. Zunehmend profilierte sich die Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Wissenschaft vom individuellen Bewusstsein, es entwickelten sich nun drei theoretische Richtungen – der Behaviourismus, die Psychoanalyse und der Kognitivismus. Heute zählen neben dem Gesundheitsbereich Wirtschaftspsychologie, Werbepsychologie, Schulpsychologie, Rechtspsychologie, Verkehrspsychologie und Sportpsychologie zu relevanten Praxisfeldern von heute tätigen Psychologen. In der psychologischen Wissenschaft sind Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts insbesondere Erkenntnisse aus der Traumaforschung, den Neurowissenschaften, sowie der Psychoimmunologie von großer Bedeutung.

      Die Überschrift des Kapitels deutet bereits daraufhin, dass es mehr als gewagt wäre, die Geschichte der Psychologie erzählen zu wollen. Es werden jedoch einige ideengeschichtlichen Aspekte des Fachs skizziert, die für die Soziale Arbeit relevant erscheinen.

      1.1 Frühe Vorstellungen

      Platon (428–348 v. Chr.) vertrat ebenfalls die Auffassung, dass Körper erst dann leben, wenn sie beseelt seien. Er verglich die Seele mit einem Gespann, das von einem Rappen und einem Schimmel gezogen würde; der Rappe verkörpere die Begierde und ziehe den Wagen in Richtung der materiellen Welt, während der Schimmel nach etwas Höherem strebe. Der Wagenlenker habe Kraft seiner Vernunft die Aufgabe, dieses Gespann durch die Welt zu steuern. Die Parallelen zu Sigmund Freuds Strukturmodell, bei dem das Ich zwischen dem Es, das für die Triebe und Begierden steht und dem Über-Ich, das die Moral verkörpert, vermitteln muss, sind mehr als deutlich. Bereits in Platons Seeelenmodell sind die Wurzeln für moderne psychologische Theorien verankert (Walach 2013, 106 f.).

      Andere aus der Zeit der Antike übermittelte Überlegungen über die Beschaffenheit der Seele trugen eher den Charakter von Typologien:

      „Eine rein äußerliche Typologie hat etwa Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) vorgestellt. Er unterteilte die Menschen in schlanke, asthenische auf der einen Seite und in dicke, pyknische Typen auf der anderen Seite. Seine Anhänger, die Hippokraten, haben dem eine innere Typologie hinzugefügt, die nichts anderes war als eine Safttheorie. Safttheorien gehen davon aus, dass im Körper vier verschiedene Säfte (Blut, schwarze und gelbe Galle, sowie Phlegma) zirkulieren und immer dann, wenn das Verhältnis der