Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit. Barbara Bräutigam

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Название Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit
Автор произведения Barbara Bräutigam
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846349472



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oder Mitempfindung, unterscheidet sich aber von Mitgefühl.

      Empathie ist laut Bischof-Köhler (2011) generell zu unterscheiden von der Perspektivübernahme einerseits und dem Begriff der Gefühlsansteckung andererseits. Die Perspektivübernahme meint einen Erkenntnisakt, bei dem die subjektive Verfassung des anderen rein rational erschlossen wird, ohne dass eigenes Mitempfinden daran beteiligt sein muss.

      Bei der Gefühlsansteckung ergreift die Stimmung des anderen dagegen vom Beobachter selbst Besitz und wird dabei zu seinem eigenen Gefühl, ohne dass ihm der andere als dessen Auslöser bewusst wird. Wenn also Menschen beschreiben, dass sie immer so sehr darunter leiden, wenn es anderen schlecht geht, beschreiben sie häufig das Phänomen der Gefühlsansteckung, was bedeutet, dass die bei anderen beobachteten Gefühle eigene Emotionen triggern, d.h. auslösen. Somit nehmen sie vor allem ihre eigenen Emotionen wahr und nicht die der anderen. Die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen Gefühlsansteckung und Empathie ist eines der wesentlichen Lernziele in der Ausbildung von SozialarbeiterInnen.

      Nach Feshbach (1978) gibt es zwei kognitive und eine emotionale Voraussetzung für Empathie: Die kognitiven Fähigkeiten bestehen darin, affektive Zustände anderer zu erkennen und zu benennen und Perspektivübernahme zu betreiben. Hinzukommen muss die emotionale Erlebnisfähigkeit, um das beobachtete Gefühl teilen zu können. Laut Hoffman (1982) geht die Ausformung von Empathie folgendermaßen vonstatten: Die globale Empathie, die mit Gefühlsansteckung gleichzusetzen ist, tritt bereits bei Neugeborenen auf, die sich vom Schreien der anderen Babys anstecken lassen. Es folgt eine Phase der egozentrischen Empathie, d.h., die Annahmen über die Gefühle des anderen sind ganz nach der Maßgabe der eigenen Bedürfnisse geprägt. So bringt ein dreijähriges Kind einem Kind, das gerade hingefallen ist, zum Trost das eigene Lieblingsspielzeug, weil es noch nicht in der Lage ist zu begreifen, dass das hingefallene Kind vielleicht ein ganz anderes Lieblingsspielzeug hat. Etwa mit vier Jahren tritt die Empathie für den anderen ein. Es entsteht ein Bewusstsein darüber, dass die Verfassung des anderen von der eigenen unabhängig ist. Als wesentliche Einflüsse auf die Empathieentwicklung gelten die familiäre Sozialisation, ein warmherziger und emotional beteiligter Erziehungsstil und die elterliche Feinfühligkeit, insbesondere eine prompte Reaktion auf kindliche Bedürfnisse und Anteilnahme an dessen Nöten und Verletzungen. Auch die Sensibilisierung von und für Schuldgefühle wirkt sich positiv auf die Empathieentwicklung aus (Bischof-Köhler 2011).

      Die Fähigkeit zur Empathie, zur Perspektivübernahme und zur Mentalisierung basieren auf einer sicheren Bindung, die sich in den ersten Lebensjahren entwickelt. Alle diese drei Fähigkeiten sind als zentral für sozialarbeiterische Arbeit mit KlientInnen anzusehen, von denen viele in der Ausbildung genau dieser Kompetenzen benachteiligt sind.

      „Wer außer mir wird später diese Briefe lesen? Wer außer mir wird mich trösten? Ich habe so oft Trost nötig. Ich bin so häufig nicht stark genug und versage öfter, als dass ich den Anforderungen genüge. Ich weiß es und versuche immer wieder, jeden Tag aufs Neue, mich zu bessern.

      Ich werde unterschiedlich behandelt. Den einen Tag ist Anne so vernünftig und darf alles wissen und am nächsten höre ich wieder, dass Anne noch ein kleines dummes Schaf ist, das nichts weiß und nur glaubt, Wunder was aus Büchern gelernt zu haben! Ich bin nicht mehr das Baby und das Hätschelkind, das immer ausgelacht werden darf. Ich habe meine eigenen Ideale, Vorstellungen und Pläne, aber ich kann sie noch nicht in Worte fassen.“ (aus dem Tagebuch der Anne Frank, 30.10.1943, 143)

      Anne Frank ist, als sie Obiges schreibt, 14 Jahre alt. Mit 15 zitiert sie selbst aus einem Buch, welches sie offenbar sehr beeindruckt hatte, dass die Jugend einsamer als das Alter sei. Das Jugendalter gilt als eine subjektiv oftmals sehr anstrengend empfundene Phase der Transformation, die u.a. eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Körperbild und Körperidealen, mit der eigenen Identität, dem Umbau der sozialen Beziehungen und der Entwicklung eines partnerschaftlichen Bindungsverhaltens beinhaltet (Oerter/Dreher 2008).

      „Wie jede Lebensphase ist Jugend nicht allein durch die körperliche Entwicklung definiert, sondern zugleich durch kulturelle, wirtschaftliche, soziale und ökologische Faktoren beeinflusst“(Hurrelmann/Quenzel 2016, 9).

      Bereits Corey (1947) nennt fünf zentrale Entwicklungsaufgaben, die die Jugendlichen zu bewältigen haben. Dazu zählen die Annahme der körperlichen Veränderungen, die Loslösung von den Eltern, die Gestaltung von Peerbeziehungen und die Integration sexueller Bedürfnisse, die Entwicklung eines neuen Wertesystems und die Gewinnung einer sozialen sowie beruflichen Identität. Laut Piaget ist die Jugendphase in kognitiver Hinsicht vom Eintritt in das formal-operatorische Stadium gekennzeichnet. Nun sind beispielsweise hypothetische oder theoretische Herangehensweisen an Problemstellungen möglich.

      

In einem Elterngespräch klagt die Mutter einer vierzehnjährigen Jugendlichen über Folgendes: Marie will sich nichts mehr von mir sagen oder vorschreiben lassen, jeder kleinste Kommentar von mir wird als Einmischung oder Übergriff erlebt. Also lasse ich sie weitgehend in Ruhe und habe sie neulich auch nicht gefragt, ob sie mit mir Plätzchen backen will. Da war sie dann total enttäuscht und hat stundenlang auf ihrem Zimmer geheult.

      Die Entwicklungsphase Adoleszenz fordert, wie in diesem Beispiel ersichtlich wird, von den Jugendlichen ebenso wie von ihrer nächsten Umgebung einen Umgang mit oftmals sehr rasch wechselnden und diametral entgegengesetzten Bedürfnissen nach vollkommener Zugehörigkeit sowie totaler Autonomie (Bräutigam 2011).

      „Jugendliche sind Grenzgänger – gewissermaßen ‚borderliners‘ –, die sich im Niemandsland zwischen fremd verantworteten Leben der Kindheit und der eigenständigen Verantwortung des Erwachsenendaseins befinden und sich darin zurechtzufinden versuchen. Dieser Zustand des Übergangs verlangt es, so viel Ungewissheit und Konfliktgeladenheit auszuhalten und so viel Lernfähigkeit und Anpassungsvermögen zu erbringen, wie wohl in keinem anderen Stadium der menschlichen Entwicklung“ (Ludewig, 2001, 165).

      Jugendliche sind wie bereits beschrieben in vielfacher Weise Transformationsprozessen ausgesetzt, die nicht selten zu Krisen führen. Zu diesen zählen in erster Linie Identitäts-, Selbstwert-, Beziehungs- und Autoritätskrisen (Resch 1999). Ein besonderes Augenmerk muss dabei auf die im Körper verankerte Identität der/ des Jugendlichen gelegt werden (Lemma 2016). Daraus können internalisierende Formen der Problemverarbeitung, z.B. Depressionen oder Essstörungen, oder auch externalisierende Formen, wie Störungen des Sozialverhaltens oder übermäßiger Alkohol und Drogenkonsum, resultieren (Seiffge-Krenke 2015).

      Nach Erik Erikson (1950/2005) ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität das entscheidende Merkmal der Adoleszenz. Dabei geht es darum, ein Gefühl für die Einheitlichkeit und Unverwechselbarkeit der eigenen Person über unterschiedliche Kontexte hinweg zu erlangen. James Marcia hat dieses Konzept weiterentwickelt und weiter differenziert (Marcia 1980, Mey 1999). Er unterscheidet zwischen einer diffusen Identität, einer erarbeiteten, einer kritischen und einer übernommenen Identität. In Bezug auf jugendliche KlientInnen könnte das heißen, dass Jugendliche mit einer diffusen Identität extrem unsicher über ihre Haltung und Einstellung zu Themen wie Arbeit, politische Einstellung etc. sind, während Jugendliche mit einer erarbeiteten Identität sich bereits einen eigenen Standpunkt erarbeitet haben. Jugendliche mit einer kritischen Identität erleben sich vor allem in Abgrenzung, während Jugendliche mit einer übernommenen Identität oftmals einfach die elterlichen Werte übernehmen.

      Inzwischen besteht nahezu allgemeiner Konsens darüber, dass von einer verlängerten Adoleszenz, die durchaus bis in die späten 20er gehen kann, gesprochen werden darf (Seiffge-Krenke 2012) und dass die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen nicht länger ein Vorrecht Jugendlicher ist. Dabei ist im sozialarbeiterischen Umgang mit Jugendlichen eine gute Reflexion der eigenen Adoleszenz notwendig, weil diese Phase oftmals mit besonderen Kränkungserfahrungen verbunden ist. Im Umgang mit Jugendlichen können diese Kränkungserfahrungen leicht getriggert werden und zu emotionalen, nicht reflektierten Reaktionen wie extrem autoritär/abgrenzendem oder eher anbiederndem/gleichmachendem Verhalten gegenüber den Jugendlichen führen.