"Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt". Barbara Halstenberg

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Название "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt"
Автор произведения Barbara Halstenberg
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955102685



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habe. Ach nee, nee … Eins weiß ich: Nie wieder, nie wieder Krieg! Also der liebe Gott möge das erhören. Dass es nie wieder so was gibt – dass meinen Kindern oder meinen Enkelkindern das nicht passiert. Furchtbar …

      »Ich kümmerte mich darum, dass meine Schwester beerdigt wurde.«

      Margot Rickert

      (Geboren 1932 in Berlin, Sekretärin)

      Im Krieg … Irgendwann ist niemand mehr da, der sagen kann, wie es war.

      Ich habe fast die ganze Kriegszeit im Oderbruch verbracht. Meine Cousine und ich waren auf einen Bauernhof von Bekannten evakuiert. Auf der anderen Seite der Oder, in Güstebiese, wohnten meine Großeltern. Das war ein so bezaubernder Ort! Schon damals war das ein Luftkurort direkt an der Oder. Auf den Hügeln stand überall Wald … überall Wald! Es war eine Luft da! Wenn es den Ort noch so geben würde, wie er damals war, würde ich dort wohnen und nicht in Berlin. Ich würde mir zwei Hühner anschaffen und einen Hund. (Sie lacht.) Ich liebe das Land und die Natur. Wenn ich manchmal die Augen zumache, habe ich immer noch den Geruch von damals in der Nase. Das Oderbruch liebt nicht jeder, wissen Sie, das macht vielleicht ein bisschen schwermütig. Aber mir hat es dort immer gut gefallen.

      Meine Mutter kam 44 kurz vor der Geburt meiner Schwester zu uns auf den Hof ins Oderbruch. Das Krankenhaus Neukölln hatte eine Außenstelle in Bärwalde, hinter Güstebiese weiter Richtung Osten rein. Dort entband sie im August meine Schwester. Meine Mutter war schon 38, damals eine Spätgebärende.

      Meine Schwester war eine ganz Aufgeweckte. Sie stand schon ganz früh in ihrem Bett und guckte hinter uns her, wenn wir zur Schule gingen. Sie war ein ganz aufgeschlossenes Kind. Alle waren glücklich über Mariannchen! Endlich hatte ich auch eine Schwester! Für mich war es die schönste Zeit, da draußen an der Oder. Ich saß im Kirschbaum in einer Astgabel und schmiss die Kirschsteine runter, oder ich zog bei Oma im Garten die Mohrrüben aus der Erde und aß sie gleich. Meine Oma war ganz pingelig, in ihrem Erdbeerbeet lag jede Erdbeere auf einem eigenen Blatt. Sie wusste immer genau, wenn eine fehlte. (Sie lacht.) Oder ich brach mir Maiskolben ab … Das war zu meiner Zeit alles noch möglich. Ich denke immer: Wie traurig ist es inzwischen für die Kinder heute, die können das gar nicht erleben. Es war wirklich eine schöne Zeit – es gab keine ausgefeilte Technik. Die Technik macht uns kaputt!

      Wenn in Berlin Angriffe waren, standen wir vorm Hof und guckten, wie die »Weihnachtsbäume« über der Stadt am Himmel standen … Zu Weihnachten 44 kamen dann immer mehr Trecks mit Pferdefuhrwerken aus Ostpreußen, die bei uns übernachteten und am nächsten Tag weiterfuhren. Wohin? Weiß ich nicht. Die Front rückte langsam näher. Meine Mutter bekam Bedenken, meine Schwester war noch so klein, deswegen wollte sie zurück nach Berlin, wo mein Vater lebenswichtige Güter fuhr und deshalb von der Armee befreit war. An Wochenenden kam er oft zu Besuch. Aber Vater sagte: »Nein, kommt nicht infrage, bleibt da. An der Oder gehen die Russen durch und dann ist es vorbei, aber in Berlin wird gekämpft!«

      Also blieben wir … Am 27. Januar kamen die Russen. Wir saßen mit den Nachbarn im Keller, hatten uns zusammengetan, damit wir nicht alleine waren. Der Hof geriet mitten in die Front! Den einen Tag waren die Russen auf dem Hof und den anderen Tag die Deutschen. Es ging immer hin und her. Aus dem Keller hörten wir die Schüsse fallen. Die Gehöfte lagen weit auseinander, waren aber mit einem losen Steig verbunden. Einmal liefen wir über den Steig von einem Keller zum nächsten, dabei sausten uns die Geschosse um die Ohren. Ich hatte große Angst, obwohl ich gar nicht ahnte, was mir wirklich passieren konnte. Aber wir hatten großes Glück, niemand wurde getroffen.

      Und dann fing es mit den Russen schon ein bisschen an … Sie holten sich mehrere Frauen aus dem Keller, die Bäuerin und ihre Tochter und auch Tante Maria, die Freundin von meiner Mutter. Meine Mutter hatte Glück, aber die anderen Frauen nicht. Die Russen nahmen alles mit. Uri Uri natürlich – einer hatte bis oben am Arm alles voller Uhren. Damals haben wir das alles nicht verstanden. Heute weiß man, warum das so mit den Vergewaltigungen war. Die russischen Soldaten hatten ja nie Urlaub. Das waren ganz einfache Leute. Die Ersten, die kamen, die an der Front waren, waren noch anders als die, die nachher kamen. Das wussten wir damals alles nicht.

      Nach einer knappen Woche befahlen uns die Russen, das Haus zu verlassen. Die Nachbarn aus den umliegenden Gehöften waren alle schon weg. Wir liefen zusammen mit dem Bauern und seiner Familie sowie Tante Maria und ihrer Tochter Ursel, die so alt war wie ich, zur Oder runter. Links ging es zur Bahn Richtung Berlin – mittlerweile Frontgebiet – und rechts nach’m Osten. Wir wollten nach links Richtung Berlin, aber die Russen ließen uns nicht durch. Wir mussten nach rechts über die zugefrorene Oder. Auf dem Eis war ein Weg abgesteckt. Durch die andauernden Kämpfe war der Weg teilweise zerstört, große Löcher befanden sich im Eis. Es war nicht leicht, den Kinderwagen um die Löcher zu schieben. Das Eis türmte sich an manchen Stellen hoch auf. Überall lagen tote Pferde, kaputte Fuhrwerke und viele tote Soldaten. Meine Mutter sagte zu mir: »Wenn das nächste Eisloch kommt, dann gehen wir da rein.« Ich fing an zu weinen und sagte: »Das will ich nicht!« Mutter schob den Kinderwagen mit meiner Schwester, die in eine dicke Decke gewickelt war, weiter. Auf dem Wagen lag noch ein Koffer. Mit einem Seil half ich Mutter, den Wagen über das Eis zu ziehen. Wir erreichten Großmutters Haus, aber sie war schon weg, weiter nach’m Osten geflüchtet. Wir blieben für ein paar Tage, dann kamen wieder die Russen. Die Belästigungen gingen weiter. Immer hieß es: »Frau komm!« Sie befahlen uns wieder, weiterzuziehen. Wir liefen weiter Richtung Osten, manchmal übernachteten wir im Wald, manchmal fanden wir Unterschlupf in verlassenen Wohnungen. Wir Kinder durchstöberten die leeren Häuser, suchten immer nach Essen. Für meine Schwester wurde es schlimm, die war ein Baby und hatte keine Milch. Es gab nichts mehr.

      Irgendwann landeten wir auf einem Bauernhof bei einer christlichen Familie. Sie hatten schon viele Flüchtlinge aufgenommen. Das Erdgeschoss war leergeräumt, alle Möbel standen in der Scheune. Der Boden war mit Stroh bedeckt, wo die Flüchtlinge in Reihen lagen, nur in der Mitte des Raumes war ein Gang freigelassen worden. Weiß ich, wie viele Leute da waren? Hundert reicht bestimmt nicht. Jeden Tag kochten die drei Schwestern, denen der Hof gehörte, in einem großen Kessel Sojabohnensuppe. Davon bekam jeder ein Tässchen voll. Was Warmes! Wir hatten doch solchen Hunger! Bevor sie die Suppe verteilten, beteten sie mit uns, und alle machten mit! In einer solchen Situation machen alle mit. Ob einer wirklich glaubt oder nicht glaubt – in so einer Situation ist es anders. Tagsüber trieben wir Kinder uns draußen rum und suchten nach Essen. Mal spielte auch jemand von den Erwachsenen Mundharmonika oder wir spielten auch mal Farben raten. Es gab sonst nichts zu tun.

      Wissen Sie, ich habe manchmal ein bisschen Schwierigkeiten, wenn ich lese, welche Ansprüche von den Flüchtlingen heute gestellt werden. Da denke ich manchmal: Meine Güte, Kinder, Kinder! Das verstehe ich nicht. Dieses Tässchen Sojabohnensuppe, ich sage Ihnen, das war was Warmes und darauf freute ich mich den ganzen Tag! Weil die Toilette für die vielen Menschen nicht reichte, war hinter der Scheune ein Donnerbalken gebaut. Natürlich hatten alle Durchfall mit der Zeit.

      Nachts kamen die Russen und holten sich Frauen. Sobald sie »Frau komm!« riefen, lief eins von uns Kindern schnell rauf in den ersten Stock und holte den Offizier, der sich dort mit seiner Freundin einquartiert hatte. Er sorgte dann für Ordnung. Ich erinnere mich noch an einen Russen, den kannten wir nachher schon. Er stand mit einer Fackel in der Hand im Türrahmen und guckte sich eine Frau aus. Dann sprang er direkt zwischen die liegenden Frauen. Nachher wurden die Frauen ein bisschen kesser und schubsten ihn weiter. Ja, da waren ein paar mutige Frauen dabei. Jeden Abend kamen neue russische Panjewagen mit kleinen Pferden vorgespannt. Sie brachten Verpflegung für die Front, säckeweise Zucker und Mehl, übernachteten auf dem Hof und zogen am nächsten Tag weiter. Uns Kindern gaben die Mongolen manchmal eine Handvoll Zucker. Das war toll!

      Mensch, der Krieg damals … Die Soldaten kamen mit Fuhrwerken, vor die Ponypferde gespannt waren. Damit fuhren sie an die Front und brachten Lebensmittel. Wenn man sich das heute vorstellt!

      Nach ein paar Wochen zog ein neuer Offizier ein. Der kam nicht runter, wenn wir Kinder ihn riefen. Er sagte, deutsche Soldaten hätten das auch gemacht. Wenn der Offizier runterkam, kamen die Frauen freiwillig mit. Aber dann hatte er eine feste Freundin und benutzte