"Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt". Barbara Halstenberg

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Название "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt"
Автор произведения Barbara Halstenberg
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955102685



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einen doch verzweifeln. Der Mensch ist das intelligenteste Lebewesen … Das kann man nicht glauben! Der Mensch tötet, obwohl er das nicht nötig hat. Wir fabrizieren so viel Fleisch und die armen männlichen Küken werden gleich getötet. Das ist alles furchtbar! Das Tier tötet doch nur, wenn es Hunger hat! Das tötet nicht auf Vorrat. Nein, nein, nein! Irgendjemand hat mal gesagt: Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere. Dann denke ich immer, meine Güte, du kannst das gar nicht so erzählen! Denn so darf man gar nicht denken, wenn man jung ist. Dann kann man ja nicht mehr leben, nicht? Ist doch so.

      »Nimm mich mit, Mutti, Mutti, nimm mich mit!«

      Dorothea L.

      (Geboren 1930 in Duisburg, Drogistin, Heilpraktikerin)

      Ich erinnere mich noch an die Farben damals: Himmel und Erde gehen grau-weiß ineinander über. Die kalte Schneeluft war schmerzhaft beim Einatmen … Mitte Januar 45, es lag hoher Schnee, bekam das Dorf in Pommern, in das wir evakuiert worden waren, den Packbefehl. Meine Mutter, mein kleiner Bruder, meine Schwester und ich waren auf dem Rittergut untergekommen. Meine Schwestern Liesl und Renate waren bei dem Lehrer der Dorfschule untergebracht und meine Schwester Rosi beim Pfarrer, der dreißig Kilometer vom Gut entfernt wohnte. Sonntags kam er für die Messe ins Dorf.

      Abends um neun Uhr läuteten am 17. Januar vom Kirchturm die Sturmglocken: der Fluchtbefehl. Es ging sehr lebhaft zu. Meine Mutter kriegte vom Gut einen Planwagen mit Gummirädern gestellt, der von einem Traktor gezogen werden sollte. Wir hatten auf dem Gut inzwischen keine russischen Gefangenen mehr, sondern italienische. Die russischen waren vor ihren eigenen Leuten geflohen, denn Kriegsgefangene wurden oft von ihren eigenen Leuten erschossen. Zwei Italiener fuhren den Traktor. Meine Mutter saß vorne auf dem Bock. Auf dem Gut waren auch Frauen aus Witten mit ihren Kindern untergebracht worden. Sie bekamen einen Ochsenkarren, und ihre Kinder wurden bei uns mit auf den Wagen geladen. Auch meine Schwester Liesl, acht Jahre alt, fuhr auf unserem Wagen mit. Renate, die schon älter war, musste neben dem Wagen des Lehrers laufen. Draußen waren es 18 Grad Minus. Als wir durch das Dorf des Pfarrers kamen, hatte die Rosi bereits den ganzen Tag an der Straße auf uns gewartet. Sie lief zu unserem Wagen und rief: »Nimm mich mit, Mutti, Mutti, nimm mich mit!«

      Meine Mutter rief: »Halt an!«, aber der Traktor fuhr weiter, die Italiener hörten sie nicht. Sie unterhielten sich laut und verstanden nichts. Die Pfarrhaushälterin kam rausgelaufen, schnappte sich die Rosi und rief uns hinterher: »Wir kommen morgen nach!«

      Ich wusste, dass wir im nächsten Dorf zum Übernachten halten würden und dachte: ›Na, dann sehen wir die Rosi bald.‹ Aber sie kamen nie nach. Meine Schwester Ingrid ging in der Nacht zurück, um die Rosi zu holen. Das hat sie mir später erzählt. Als sie sich mit der Rosi auf den Rückweg machen wollte, saß auf der Straße ein verwundeter Soldat und sagte: »Wenn ihr mir nicht helft, erfrier ich hier.«

      Die beiden kümmerten sich um den Soldaten, und dann wurde bemerkt, dass die Rosi wegwollte. Die Pfarrersleute hielten sie zurück, Ingrid kam allein zurück.

      Die Flucht war mehr als schlecht organisiert, und so passierte es, dass der erste Teil unseres Trecks am nächsten Tag schon früher aufgebrochen war. Niemand wusste, in welche Richtung. So verloren wir auch Ingrid, die mit dem Lehrer früh losgezogen war.

      Wir waren tagelang unterwegs. Am Straßenrand lagen Leute, die einfach erfroren waren … In verlassenen Häusern suchten wir nach Essen und übernachteten dort, wenn es möglich war. In einem Haus fanden wir einen heißen Topf mit Hühnersuppe, in der ein ganzes Huhn schwamm! Das war natürlich was ganz Tolles! Dann ging der Traktor kaputt und wir saßen fest, bis er repariert werden konnte. Meine Mutter fand in der Zwischenzeit eine Familie, bei der wir jeder ein frisch bezogenes Bett bekamen. Die Leute hatten selbst vier Kinder und nahmen uns so nett auf. Aber das war nicht immer so. Mutter war mittlerweile genervt. Sie musste sich auch noch um die drei anderen Kinder der Frauen aus Witten kümmern. Auch die Mütter hatten wir auf der Flucht verloren. Bei einem Halt in einer kleinen Stadt verlangte sie, dass sich nun andere aus dem Treck um die Kinder kümmern sollten. Es waren ein Junge von vielleicht elf Jahren, ein neunjähriges Mädchen und ein zweijähriges Kind. Die Neunjährige kümmerte sich wie eine Mutter um die Zweijährige. Versuchte sie trocken zu halten, was bei der Kälte ganz schwierig war. Mutter sagte zu den Frauen: »Ich bin am Ende, ich kann das nicht mehr.«

      Die anderen Frauen beschimpften sie, dass sie die Kinder abgeben wollte. Weil Mutter nicht mehr wusste, wie sie alle Kinder versorgen konnte und jede Nacht unterbekam, gab sie die drei Kinder beim Roten Kreuz ab. Wir hörten nie wieder von ihnen.

      Die russische Armee war immer kurz hinter uns. Oft hörten wir jetzt schon den Geschützdonner. Wir hatten große Angst – hörten von schrecklichen Gräueltaten der Russen. Vergewaltigungen waren auf beiden Seiten der Front an der Tagesordnung.

      Mutti beschloss, sich vom Treck zu trennen. Sie wollte versuchen, mit dem Zug weiterzukommen, und konnte vorbeiziehende deutsche Soldaten überreden, uns mit ihrem LKW bis kurz vor Stettin mitzunehmen. Aber in Stettin vor dem Bahnhof standen Hunderte von Leuten – alle mit Gepäck. Wir stellten uns dazu. Wir wussten nicht weiter. Am Abend kam eine Frau mit einem leeren Kinderwagen auf uns zu. Sie sagte zu meiner Mutter: »Sie können doch auch nicht mehr. Kommen Sie, packen Sie Ihre Sachen auf meinen Wagen und wir gehen zu mir nach Hause. Morgen ist hier alles leer und dann können Sie in aller Ruhe wegfahren, das verspreche ich Ihnen. Aber bis es hier leer ist, ist das die Hölle. Die Leute schlagen sich um die Plätze.«

      Sie nahm uns mit zu sich nach Hause. Dort durften wir jeder ein Bad nehmen und kriegten ein frisch bezogenes Bett. Sie kochte ganz toll für uns und wir konnten endlich einmal richtig gut schlafen.

      Am nächsten Morgen war der Bahnhofsplatz leer. Wir kamen in einem Güterzug unter, der nach Hannover fuhr. Unterwegs traf uns Tieffliegerbeschuss. Der Zug musste auf offener Strecke halten. Wir sahen die Tiefflieger kommen, hatten Angst und wollten aus dem Zug springen. Ein Soldat, der mit uns im Waggon saß, rief: »Nicht rausgehen! Bleiben Sie im Zug und legen Sie sich auf den Boden!«

      Wir legten uns hin und versteckten uns zwischen den Bänken. Sie schossen auch auf die Waggons. Wir hatten Todesangst. Aber das rettete unser Leben. Die Leute, die rausgerannt waren, lagen alle erschossen auf dem Bahndamm. Immer wieder kamen die Tiefflieger. Wir hatten so eine Angst! (Pause.) Die flogen so niedrig, dass ich den Piloten sehen konnte. Ich hatte das Gefühl, jetzt könnte ich ihm die Hand geben. Die Piloten haben uns natürlich auch gesehen, wollten am liebsten alles zerschießen. Die Tiefflieger schossen die Lokomotive kaputt, wir mussten auf eine neue Lokomotive warten. Wir waren nochmal davongekommen – als Familie.

      Zurück in Duisburg, war in unserem Haus durch den Luftdruck einer Bombe das Dach abgedeckt worden. Wir stellten Eimer in den Zimmern auf, wenn es regnete. In unserem Kinderzimmer konnten wir gar nicht mehr schlafen. Wir schliefen bei einer Nachbarin auf Matratzen auf dem Boden. Nach unserer Rückkehr schrieb ich als Erstes meiner Oma eine Karte: Nach 14-tägiger Flucht sind wir glücklich wieder zu Hause angekommen. Meine Mutter sagte: »Was, glücklich!? Du ziehst auch alles wie ein nasses Hemd aus und dann ist es für dich gut.« (Sie lacht.)

      Von der Ingrid und der Rosi hatten wir immer noch nichts gehört. Es gab damals im Radio einen Suchdienst vom Roten Kreuz. Jeden Tag wurden dort um die gleiche Zeit Namen von Menschen aufgerufen, die sich durch die Kriegswirren verloren hatten. Auf diese Art kamen viele Leute wieder zusammen. Wir hatten die Rosi und die Ingrid dort gemeldet. Jeden Tag hörten wir die Sendung in der Hoffnung, die beiden hätten Gelegenheit, sich dort zu melden. Jeden Mittag und jeden Abend, wenn ich von der Drogerie, bei der ich eine Ausbildung angefangen hatte, nach Hause kam, rannte ich die letzten Schritte in der Hoffnung, die beiden wären angekommen. Jedes Mal dachte ich: ›Vielleicht ist ja die Ingrid heut nach Haus gekommen! Oder die Rosi.‹

      Aber keiner kam. Jedes Mal war ich enttäuscht. Wir hofften und stellten uns vor, dass die beiden irgendwie zusammen wären.

      Ungefähr ein halbes Jahr nach Kriegsende kam die Ingrid eines Tages ganz schwarz im Gesicht bei uns an. Sobald die Familie des Lehrers mit ihr über die Oder gekommen war, hatten sie die damals Zwölfjährige ihrem Schicksal überlassen und waren ohne sie weitergezogen.