Название | "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" |
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Автор произведения | Barbara Halstenberg |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955102685 |
Ab Februar 1942 startete die englische Regierung eine Bombenoffensive, die vor allem Moral und Kampfeswillen der deutschen Zivilbevölkerung erschüttern (»moral bombing«) und so die Wende des Krieges bringen sollte. Die britischen Luftstreitkräfte bombardierten in nächtlichen Angriffen gezielt mit Spreng- und Brandbomben die Wohngebiete deutscher Städte. Ab 1943 wurde der Luftraum von den Alliierten kontrolliert, die deutsche Luftwaffe war unterlegen. So konnten die Amerikaner zusätzlich Tagesangriffe fliegen – was vorher zu gefährlich gewesen war –, bei denen sie sich auf die Zerstörung der deutschen Rüstungsindustrie und später die Flugzeugindustrie konzentrierten. Das machte eine Bombardierung rund um die Uhr möglich.
Kinderlandverschickung
Mehr als zwei Millionen Kinder wurden während des Zweiten Weltkriegs für Monate oder Jahre in vermeintlich sichere Gebiete ohne Luftangriffe verschickt. Die sogenannte Nationalsozialistische Volkswohlfahrt kümmerte sich um die Unterbringung von Müttern mit ihren Kindern bis sechs Jahre in ländlichen Gebieten. Schulpflichtige Kinder bis zehn Jahre konnten allein in Pflegefamilien einquartiert werden. Rund 1,2 Millionen Kinder kamen so bei Familie oder Verwandten unter. Kinder ab zehn Jahre wurden klassenweise mit der Hitlerjugend verschickt und meist in Kinderlandverschickungs-Lagern untergebracht. Es gab zwischen 6000 und 9000 solcher Lager mit etwa 850 000 Kindern von zehn bis vierzehn Jahre. Neben dem Schulunterricht sollte den Kindern Ordnung und Disziplin sowie Befehl und Gehorsam beigebracht werden. Spind-, Stuben-, Gesundheitsappelle und eine straffe Lagerordnung gehörten zum Tagesablauf. Die Indoktrination mit NS-Gedankengut war allgegenwärtig. Vormilitärischer Drill und Wehrertüchtigung standen bei den Jungen zusätzlich auf dem Programm.
Flucht und Vertreibung
»Wir buddelten, so gut wir konnten, legten ihn rein und schütteten das Grab zu.«
Jürgen Fischer
(Geboren 1937 in Berlin, Werbekaufmann, Podologe)
Im Februar 45 kamen die Russen. Mutter hatte sie kommen sehen. Wir flüchteten in den Wald. Es lag Schnee. Wir hatten Angst vor dem Russen. 14 Tage lang taperten wir im Schnee herum. Nachts lehnten mein Bruder und ich uns in Decken gewickelt an die Knie unserer Mutter. Sie selbst lehnte an einem Baum, meinen jüngsten Bruder hielt sie zugedeckt in den Armen. Er war erst zwei Jahre alt. Richtig schlafen konnten wir nicht. Es war sehr kalt. Nach zwei Wochen im Wald kamen wir wieder dort raus, wo wir losgelaufen waren. Wir müssen im Kreis gelaufen sein. Ich weiß nicht, wie wir das alles geschafft haben … Wir irrten weiter umher, immer weiter. Wenn wir Russen hörten, versteckten wir uns wieder im Wald. Einmal sahen wir, wie Russen einen Mann und eine Frau, wohl ein Ehepaar, auf einem Acker erschossen haben. Die beiden kullerten in den Graben runter. Ich erinnere mich auch an einen Schäferhund. Die Russen waren betrunken und schossen ihm ins Hinterteil. Der Hund rannte noch so weit er konnte, dann war er hinüber. Sie machten sich einen Spaß daraus.
Irgendwann landeten wir in Selchow. Dort hatten sich schon die Russen einquartiert. Wir konnten ihnen nicht mehr ausweichen, fanden aber endlich ein leeres Haus, wo wir mit mehreren anderen Flüchtlingen übernachten konnten. Die Bewohner des Hauses waren selbst geflüchtet.
Im Haus gegenüber wohnten die Russen. Dort übernahm Mutter die Hauswirtschaft für den Kommandanten.
Nachts waren die Russen unterwegs und nahmen sich die Frauen vor. Sie kamen auch in unser Haus und suchten sich Frauen raus. Wir lagen auf dem Boden, der mit Decken und Kleidung ausgelegt war, es gab keine richtigen Betten. »Frau komm! Frau komm!«, riefen sie immer. Dann sagte ich schon bald zu meiner Mutter: »Geh doch mit, dann bringste wieder Brot mit!«
Ich wusste ja nicht, worum es geht.
Mein jüngster Bruder schlief in einer kleinen Kinderkrippe. Er war noch nicht ganz trocken, und wenn er morgens in die Hose gemacht hatte, sagte er zu meiner Mutter: »Niss hauen, niss hauen!« (Er lacht.) Irgendwann stand er morgens nicht mehr auf, lag auch tagsüber in der Krippe. Wahrscheinlich hatte er in der Kälte eine Lungenentzündung bekommen. Er hatte nicht die Abwehrkräfte, um tagelang durch den Schnee und das Eis getragen zu werden. Meine Mutter wollte mit ihm in den Nachbarort, wo ein Arzt sein sollte, aber der Kommandant genehmigte das nicht. Am 28. März war er tot. Ich wollte es gar nicht glauben. Ich schubste ihn immer in seiner Kiste an … Im Juni wäre er drei Jahre geworden. (Er seufzt.) Wir verscharrten ihn an der Kirche. Meine Mutter buddelte, ich buddelte. Da war sonst keiner – starke Männer gab es nicht, die waren im Krieg. Im Dorf lebten nur noch Ältere oder Frauen und Kinder. Wir buddelten, so gut wir konnten, legten ihn rein und schütteten das Grab zu. Jeden Tag gingen wir zu seinem Grab …
Meine Mutter musste dann tagsüber Kühe hüten, eine riesige Herde. Wenn die Russen auch am Tage kamen und Mutter greifen wollten – »Frau komm!« –, versteckte sie sich zwischen den Kühen. An einem dieser Tage sollte sie die Kuhherde mit anderen Frauen nach Osten treiben. Abends kam sie nicht wieder und am nächsten Morgen auch nicht. Tagelang warteten mein Bruder und ich auf unsere Mutter. Wir wussten nicht, ob sie jemals wiederkommen würde. Wir verbrachten die Tage damit, etwas Essbares zu finden. Ich weiß gar nicht, wie wir da durchgekommen sind. Nach einer Woche, wir hatten schon gar nicht mehr damit gerechnet, kamen Lastwagen, auf denen die Frauen standen, die die Kühe weggetrieben hatten. Gott sei Dank! Das war eine riesige Freude – auch bei den anderen Kindern. In der Nähe unserer Mutter hatten wir uns immer sicher gefühlt. Wenn sie da war, waren wir sicher. So ein Gefühl hatten wir jetzt.
Wir Kinder suchten immer nach etwas Essbarem. Manchmal brachten wir der Mutter freudestrahlend Rüben oder Kraut, von dem wir dachten, dass wir es essen könnten. Oft sagte Mutter dann: »Nee, das geht nicht.« Wir suchten immer Essen. Man spielt ja nur, wenn man satt ist … Am 27. April 1945, meinem Geburtstag, schenkte mir Mutter sogar ein Stückchen Brot aus grobem Mehl mit ein bisschen Butter drauf. Ich weiß gar nicht, wo sie das herhatte. Das war mein Geburtstagsgeschenk.
Dann kam der 30. April, und die Russen tanzten umher: »Wir haben Berlin eingenommen!«
Der Umgang mit ihnen hatte sich inzwischen normalisiert – in Anführungszeichen. Zu uns Kindern waren sie nett, streichelten uns manchmal über den Kopf. Ich weiß noch, wie Mutter sagte: »Das schafft ihr nie, Berlin einzunehmen.« (Er lacht.) Ich dachte: ›Na, wenn die das sagen und sich so freuen, dann muss es ja wahrscheinlich so sein.‹ Wir merkten auch, dass das Militär nicht mehr kämpferisch unterwegs war. Die Soldaten stiegen aus ihren Militärfahrzeugen aus, rauchten und waren irgendwie gelöster. Wir hatten wirklich das Gefühl, es ist vorbei – zwar nicht zu unseren Gunsten, aber vorbei.
Deswegen wollten wir zurück nach Hause. Wir liefen in das Dorf, wohin wir evakuiert worden waren, aber der Bauer war weg und das Haus ausgeräumt. Zwei Häuser weiter fanden wir einen Schlafplatz bei Frau Bachschmitt aus Berlin, die dorthin mit ihren zwei Mädchen evakuiert worden war. Auch bei ihr hatten sich die Russen eingenistet und den Bauern hinterm Haus erschossen. Nun waren die Russen höchst erfreut, dass meine Mutter mit uns kam. Wir Kinder sollten im ersten Stock schlafen, und unten feierten die Russen und vergnügten sich mit den Frauen. Auch Mutter musste sich mit ihnen abgegeben. An einem der Abende spielte ein polnischer Fremdarbeiter zur Unterhaltung für die Russen auf einer Gitarre. Sie kamen betrunken rauf und sagten zu uns Kindern: »Sagt mal: Heil Hitler!«
Der Pole rief aufgeregt: »Nich sagen, nich sagen!« Meine Mutter, ach, die zitterte. Wir haben nichts gesagt. Sonst würden wir wahrscheinlich heute nicht hier sitzen! (Er lacht.)
Nach ein paar Tagen zogen wir