Название | "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" |
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Автор произведения | Barbara Halstenberg |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955102685 |
Wir Kinder hielten immer nur nach Essen Ausschau. Liefen durch die Häuser, guckten, wo noch etwas zu finden war. Ursel und ich freundeten uns mit zwei Jungs an, Helmut und Günther. Oft waren wir zu viert unterwegs. Einmal hatten die Jungs zwei kleine Pferde eingefangen. Jeweils zu zweit ritten wir auf ihnen bis zu einem Wäldchen. Aber auch da waren Russen, und wir mussten vorsichtig sein. Wir mussten immer Angst haben. Ursel und ich trugen Zöpfe und eine Mütze, damit wir wie Kinder aussahen. Bei schönem Wetter aßen die Russen an langen Tischen im Hof der nahe gelegenen Kaserne. Wir Kinder standen mit unseren Töpfen abseits und warteten, bis sie das übrig gebliebene Essen in eine Kuhle warfen. Wenn wir Glück hatten, sammelte vorher einer der Russen die Reste ein und goss sie uns in den Topf. Wenn wir Pech hatten, kam einer, guckte uns an, lachte und kippte die Reste in die Kuhle. Dann holten wir uns die Reste von dort. Wir hatten ja Hunger! Manchmal fanden wir noch Kartoffeln auf den Feldern, die eingemietet worden waren. In den Häusern fanden wir oft überhaupt nichts mehr. Vor uns hatten schon so viele nach Essen gesucht, die Häuser standen ja alle offen. Einmal hatten wir Vitamintabletten gefunden. Wir aßen sie sofort wie Bonbons auf. Davon bekamen wir mächtigen Durchfall. Das Viehzeug war weg, es gab keine Kühe, Schafe und Ziegen mehr. Einmal lag eine Kuh im Graben, die wohl bei einem Angriff getötet worden war. Was meinen Sie, was da los war! Alle kamen und schnitten sich ein Stück raus. (Sie lacht.) Die Frauen bauten direkt daneben eine Kochstelle, stellten einen Topf drauf und endlich gab es wieder etwas zu essen. Ich werde nie vergessen, wie ich mit Ursel den Pansen saubergemacht habe. Es gab ja nichts zu Essen … Und ich werde nie vergessen, wie die Russen im Haus Bratkartoffeln aus rohen Kartoffeln machten, dass kannte ich nicht. Probieren durfte ich nicht.
Irgendwann zogen wir mit einem Treck weiter. Es waren nur noch alte Leute, Frauen und Kinder unterwegs. Kurz vor Landsberg wurden wir von Tieffliegern beschossen. Wir warfen uns in den Graben … Wir hatten immer Glück, immer Glück! Vielleicht haben sie auch gar nicht auf uns gezielt, wollten uns nur einen Schreck einjagen. Keine Ahnung. Ob wir Angst hatten? Na, und wie! Aber es ist ja Gott sei Dank nichts passiert …
Von einem Ort zogen wir zum anderen, übernachteten in verlassenen Häusern und Wohnungen, wo gerade etwas frei wurde. Mal hieß es, wir könnten nach Hause, also liefen wir wieder zurück Richtung Westen. Dann war dort wieder kein Durchkommen, also mussten wir wieder nach Osten laufen.
Wir wussten nie, wann das nächste Dorf kommt. Wenn vorne im Treck jemand sagte, jetzt machen wir Pause, liefen alle in den Wald, wo wir auf Holzstämmen übernachteten. Doll schlafen konnten wir nicht, wir ruhten uns aus. Mutter hatte meine Füße in ihrem Schoß. Es lag noch Schnee und war kalt. Mutter auf einem Baumstamm im Schnee … Dann ging es wieder weiter. Jeder zog einen Karren hinter sich her oder schob einen Kinderwagen. Es war schwierig – die Toilettengänge im Winter … Gott sei Dank wurde es schnell wärmer. Es war ein Jahr, wo das Frühjahr zeitig kam. Die Sonne wärmte uns. Kinder, was war das bloß für eine Zeit …
Wir waren im Winter losgelaufen. Was wir am Körper trugen, hatten wir seitdem nicht ausgezogen. Wir konnten uns nicht waschen, es gab keine Gelegenheit – höchstens mal das Gesicht oder die Hände. Darum hatten wir auch alle Kleiderläuse. Die sitzen nur in den Kleidern. Ich sage Ihnen, in jeder Naht sitzen die drin. In jeder Naht. Sehr unangenehm!
Als wir für einige Wochen wieder in einem verlassenen Haus unterkamen, meldeten Ursel und ich uns bei den Russen, um bei ihnen sauberzumachen. Dafür bekamen wir einen großen Sack voller Brotreste. Endlich hatten wir was zu essen! Das war wirklich schön, als wir endlich wieder etwas hatten.
Meine Mutter wurde krank. Sie hatte von einer toten Gans, die auf der Straße gelegen hatte, gegessen und eine Fleischvergiftung bekommen. Nun lag sie krank auf dem Heuboden, zu dem man entweder über die Küche hochsteigen konnte oder über eine Treppe von außen. Ich war unten in der Küche, als ich hörte, dass die Russen auf den Boden raufgehen würden und keinen mehr raufließen. Schnell rannte ich bei einem der Russen zwischen den Beinen durch hoch zu meiner Mutter. Die Russen hatten alle vom Boden geschickt, nur meine kranke Mutter und eine Frau, die vor Kurzem entbunden hatte, waren noch oben. Neben der Frau lag ihr Neugeborenes. Ja, und da hatte ich dann Sexunterricht. (Sie lacht traurig auf.) Ein Russe kam durch die Küche rauf, vergewaltigte die Frau und ging über die Hühnerleiter wieder runter. Dann kam der Nächste. Ich glaube, acht waren es. Bei dem Baby krochen die Läuse am Ärmchen lang. (Sie lacht traurig.) Ach wissen Sie, nee … Die Frau sagte immer: »Was denn, noch einer?«
Ich werde das nie vergessen – so als Kind. Ich saß neben meiner Mutter und sie sagte immer: »Guck da nicht hin!« Ich hab trotzdem nicht genau gewusst, was da passierte.
Diese Vergewaltigungen! In einem Haus, wo wir kurz zum Händewaschen gehalten hatten, lag im Nebenraum eine alte Frau im Bett. Die Russen stießen sie runter und warfen oben eine andere Frau rauf. Also diese Vergewaltigungen waren schon … Mit meinen Zöpfen und der Mütze sah ich aus wie ein Kind. Trotzdem musste ich immer aufpassen. Tante Maria und meine Mutter gaben sich vor den Russen als »alte Madga« aus. Meine Mutter hatte schon mit 38 eine Prothese. Wenn die Russen kamen, nahm sie immer die Zähne raus und band sich ein Kopftuch um. Meine Mutter hatte Glück, Tante Maria nicht. Sie war schon von den ersten Russen etliche Male vergewaltigt worden. Und viele andere Frauen auch. Einmal, meine Mutter hatte das Baby auf dem Arm und mich im anderen, sagte ein Russe zu ihr: »Frau komm!« Er wurde immer böser und drohte mit der Pistole. Mutter sagte: »Schieß doch!«
Ob der das verstanden hat oder nicht – er hat nicht geschossen. Das sind alles Erlebnisse …
Ich muss Ihnen sagen, ich war sehr verwachsen mit meiner Mutter. Sie wurde 96 Jahre alt. Wir waren nicht nur Mutter und Tochter, sondern Freundinnen. Nach Rücksprache mit meinen Kindern habe ich mit sechzig aufgehört zu arbeiten, um mich um meine Mutter kümmern zu können. Nicht, weil es ihr schlecht ging, sondern um ihr die Hilfestellung geben zu können, die ein alter Mensch braucht. Sie war damals 86 Jahre alt. Ich hänge heute noch an ihr. Das muss ich sagen. (Sie weint.) Meine Mutter, die war … ja … eine ganz Liebe.
Meine Schwester ist dann auch verhungert. Wir hatten sie mit dem gefüttert, was wir gerade hatten. Hatten es mit der Sojabohnensuppe versucht. Milch war überhaupt nicht zu kriegen. Wenn wir ein paar Haferflocken bekommen hatten, rührten wir sie mit Wasser an. Aber dann war wieder kein Zucker da. Und da mein Vater in der Lebensmittelbranche arbeitete, hatten wir während des Krieges nie Mangel an Zucker gehabt. Da war Mariannchen verwöhnt. Irgendwann hatte meine Mutter nichts mehr zu essen für Mariannchen. Ich hatte schon einige von ihren Babykleidern bei einer Frau eingetauscht, die einen russischen Freund hatte. Sie hatte auch ein Baby und gab uns etwas Essen für die Kleider. Aber dann hatte sie gesagt: »Mehr Sachen brauch ich nich. Wenn deine Mutter für euer Baby was zu essen haben will, dann soll sie kommen. Mein Freund hat einen Freund, soll sie sich den Russen anschaffen hier.«
Um ihr Kind zu retten, ging Mutter los, aber sie kam schnell wieder, sie konnte es nicht. Sie konnte das nicht machen. Als sie das später meinem Vater erzählte, das mal nur nebenbei, beschuldigte er sie, sie hätte das Kind sterben lassen. Ja ja ja ja ja ja … Ich glaube, meine Eltern wären auch nicht zusammengeblieben. Mein Vater starb 54 mit 55 an Leukämie. Nach dem Krieg hatte sich meine Mutter sehr verändert, war nicht mehr die kleine ruhige Maus. Sie wusste dann, was sie wollte. Das hat sie mir später gesagt.
Meine Schwester starb über Nacht. Die Kleine lag neben uns. Ich wurde morgens wach und weiß noch, wie ich ihren Arm hochgehoben habe … Der war ganz steif. Ihr Jäckchen war vorne ganz nass. Mutter hatte Mariannchen nachts noch ein paar Löffel Wasser gegeben. Ich hatte den Eindruck, Mutter wusste gar nicht, was sie tat. Und ich, ich wollte immer Geschwister haben … Ich hatte ja keine. (Sie kämpft mit den Tränen.) Meine Freundinnen in Berlin hatten alle eine Schwester – ich nicht. Und dann kriegte ich mit zwölf Jahren eine Schwester! Sie war mein Ein und Alles! So eine Süße! Ich kümmerte mich ausschließlich um die