"Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt". Barbara Halstenberg

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Название "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt"
Автор произведения Barbara Halstenberg
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955102685



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Baby. Ich kümmerte mich darum, dass meine Schwester beerdigt wurde. Meine Mutter war dazu nicht in der Lage. Sie wirkte abwesend. Die Hilfe ist dann groß, gerade wenn ein Kind gestorben ist. Wir legten die Kleine in einen Koffer. Neben dem Haus lag ein kleiner Teich. Daneben stand ein großer Baum, unter dem schon ein Baby und ein älterer Mann begraben waren. In dieser Nacht war in dem Haus noch ein alter Mann gestorben. Wir beerdigten meine Schwester und den alten Mann neben den anderen beiden unter dem Baum. Ein paar alte Männer buddelten ein Loch, die Erde war schon aufgetaut. Dort legten wir den Koffer rein und das war’s. Wir mussten ja raus, wir mussten ja weg! Ich würde den Teich heute noch finden. Der würde bestimmt noch da sein. Da drüben hat sich ja nicht viel verändert. Ja, dann war Mariannchen auch weg …

      Meine Schwester starb am 11. April. Und 22 Jahre später ist meine Tochter am 11. April geboren. Es ist manchmal kurios …

      Wir kehrten zu dem Hof der drei christlichen Schwestern zurück. Dort hieß es, die Gegend wird polnisch, wer möchte, kann bleiben. Die Schwestern wollten bleiben, aber wir wollten endlich nach Berlin und liefen los. Aber wir kamen nicht weit, ich wurde sehr krank. Wir fanden eine leere Wohnung, wo ich mich hinlegen konnte. Die Sonne kam schon häufiger raus, sie wärmte mich ein bisschen. Wir waren jetzt nur noch mit Tante Maria und ihrer Tochter Ursel unterwegs. Die anderen waren alle verstreut. Tante Maria wurde auch krank. Wieder kamen Russen in die Wohnung. Ein russischer Offizier war dabei, der sah, dass ich krank war. Er sagte: »Ich Arzt.« Das hatten schon viele gesagt, aber dieser war wirklich einer und er hat mich gesund gemacht! Jeden Tag brachte er mir Medizin. Tante Maria, die neben mir auf der Erde lag, es gab keine Betten, behandelte er nicht. Nee, nur mich. Mit gebrochenem Deutsch erzählte er uns von seinem Kind in Russland. Für die Kinder hatten die Russen immer ein bisschen Mitleid, weil sie vielleicht selber Kinder hatten. Es gab, wie üblich, gute und weniger gute Menschen. Es war halt Krieg – Ausnahmezustand – und es kommt wohl immer darauf an, was jeder selbst erlebt hat. Ich habe erst später erfahren, was die Deutschen in Polen gemacht haben. Das nimmt sich alles nichts, bloß damals haben wir es ja nicht verstanden!

      Als es mir besser ging, wollte mich der russische Arzt mit ins Lazarett nehmen, damit ich zu Kräften komme. Aber nun kriegte meine Mutter Angst und wir zogen nachts wieder los. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Russen gehabt. Aber ich kann verstehen, dass meine Mutter so reagierte. Es wurden ja auch Kinder vergewaltigt. Tante Maria war immer noch krank, wir zogen sie mit dem Handwagen über die Landstraße. Plötzlich kamen Russenautos durch die Dunkelheit gefahren. Sie fuhren sehr unvorsichtig, der Handwagen kippte um und wir lagen alle im Graben. (Sie lacht.) Kurze Zeit später kamen andere Russen vorbeigefahren, hielten an und nahmen uns ein Stück mit. Dafür mussten wir aber einen Schnaps aus der Pulle trinken. Inzwischen hatten wir gelernt: Den Schnaps durfte man nicht ablehnen.

      Als wir endlich Großmutters Haus an der Oder erreicht hatten, erfuhren wir, dass auch sie inzwischen gestorben war. Sie hatte es noch zurück bis nach Hause geschafft und konnte dort beerdigt werden. Wir hatten sie kurz auf der Flucht getroffen, mit zwei ihrer Enkelkinder, sieben und acht Jahre alt. Deren Mütter hatten die Russen weggeholt. Mein Opa war auch dabei. Er lahmte und war blind, hatte sich am Karren festgehalten und war nebenhergelaufen. Eines Tages, als Oma gerade den Karren gepackt hatte, um weiterzuziehen, hatte sich Opa aufgehängt. Er hat es wohl nicht mehr ertragen. Aber Oma, die damals schon 75 war, lief mit ihren Enkeln wieder zurück. Sie hatte ganz dicke Füße und Wassereinlagerungen, aber sie hat’s zurück geschafft. Oma ist eine kleine Frau gewesen. Die hat am Vormittag ihr Kind gekriegt und nachmittags war sie schon wieder im Wald Holz holen. Hatte zwölf Kinder! Und das Verdienstkreuz … Den Bruder meines Vaters, der Käptn war, haben die Russen mitgenommen. Wir haben nie wieder was gehört. Eine Cousine ist in Berlin bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Ich glaube, wir hatten sieben in der Verwandtschaft, die im Krieg verstorben sind.

      So ein Krieg … Wie kann man denn das vergessen! Ich frage Sie … (Sie klopft mit der Hand energisch auf den Tisch.) Wer einen Krieg mitgemacht hat, der kann doch nicht wieder mit Waffen anfangen. Sehen Sie mal, was für ein Wahnsinn! Wir liefern Waffen und verdienen ein Schweinegeld da dran! Und dann nehmen wir die Flüchtlinge auf und behandeln die, die bloß noch ein Bein haben … Das ist doch schizophren! Es hängt uns natürlich nach, der Holocaust ist schlimm gewesen. Andere Länder verfolgen auch und das mit den Schwarzen … Aber bei uns macht es die Masse. Wie kann man das denn vergessen? Einen Krieg darf es doch bei uns nicht mehr geben! Es geht immer nur um Macht und Geld! Es muss was Schönes sein. Sind ja alle verrückt danach. Ich kenne es nicht, vielleicht würde ich sonst auch so sein. Nein, nein, nein, diese Welt ist nicht mehr meine! Keiner dürfte mehr zur Waffe greifen …

      Von Omas Haus zogen wir weiter Richtung Berlin. Ein Mann fuhr uns mit einem Kahn über die Oder. An den kaputten Brückenpfosten lagen angeschwemmte Pferde. Inzwischen war das Eis aufgetaut, die Leichen kamen wieder aus der Erde. Als die Erde noch hart gefroren war, hatte man die Toten nur ein bisschen mit Sand bedecken können. Nun war der Sand versackt und die Leichen der toten Soldaten kamen alle wieder raus. Im Oderbruch sind später viele Menschen bei der Feldarbeit auf Minen gelaufen und mussten noch ihr Leben lassen. Es war dort alles vermint.

      Wir erreichten den Bauernhof, wo ich während des Krieges gelebt hatte. Überall waren Gräben von den Soldaten. Für uns Kinder war das schön … Wir liefen durch Gräben über den Hof in den Stall oder in die Scheune. Die Front war sehr lange im Oderbruch gewesen, wissen Sie. Da sind die meisten Soldaten gestorben, vor allen Dingen viele Russen. Ich habe in diesem Jahr mit meinem Sohn die Gedenkstätte Seelower Höhen besucht. Es ist traurig, wie viele Soldaten dort ihr Leben lassen mussten! Und wofür!?

      Ursel und ich gingen auf Suche. Ich fand einen Schuh, und dann suchte ich den anderen. Ich fand auch mein Poesiealbum. Jemand hatte nur die leeren Seiten rausgerissen. Das fand ich nett. Ich habe es immer noch.

      Am 17. Mai kamen meine Mutter und ich mit einem Güterzug am Stettiner Bahnhof in Berlin an. Unser Haus stand noch und mein Vater war vom Volkssturm zurückgekommen. Er hatte in Biesdorf einen Steckschuss in die Wade gekriegt und durfte nach Hause gehen. In unserer Wohnung lebten dann Fremde mit uns. Es gab nur noch wenige Wohnungen. Und dann kamen wir so langsam wieder in alles rein, waren als kleine Familie wieder zusammen …

      Nach dem Krieg gab es keine Betreuung für uns Kinder – niemand wollte uns hören, auch nicht unsere Eltern. Wir Kinder haben das erlebt und nie wieder darüber gesprochen. Das ergab sich gar nicht. Für Mutter war das wohl unangenehm, und ich habe auch nicht gefragt. Ich war sowieso dumm – nicht aufgeklärt. Damals wurden wir nicht aufgeklärt. Als ich vielleicht zehn war, haben meine Freundin und ich meine Mutter mal was gefragt und dann hieß es: »Na, ihr wisst es doch viel besser.«

      In jeder Familie gab es ein Doktorbuch, das wurde versteckt. Heimlich habe ich mit meiner Freundin darin geblättert, aber da drin war nichts zu sehen! Und das ist alles noch gar nicht so lange her, wissen Sie. Wenn jetzt immer über die Araber und ihren Umgang mit den Frauen geschimpft wird … Mensch, wir sollen ganz ruhig sein! Es ist noch nicht lange her, da ist es in Deutschland auch nicht anders gewesen. Da hatten die Frauen auch nichts zu sagen. Das vergessen immer alle. Wie lange haben wir das nicht mehr, dass der Mann bestimmt hat, wo die Familie hinzieht. Das ist doch nicht lange her!

      Ich habe die Erlebnisse erst langsam verarbeiten können. Ich brauchte lange, um ein junges Mädchen zu werden, das lustig ist und lacht. Da war ich bestimmt schon 20, 21. Ich war sehr ernst.

      Jetzt im Alter weine ich schnell. Ich bin oft traurig, und diese ganze Sache von früher kommt hoch. Im Januar, Februar ist es für mich immer noch belastend. Jedes Jahr, auch heute noch mit 85. Jetzt im Alter hat man Zeit, früher hatte man ja keine. Wir haben geheiratet, die Kinder gehabt, sind arbeiten gegangen … In der Welt, in der wir jetzt leben, da ist alles so schwierig und so schlimm. Mir geht’s gut, ich will nicht klagen. Ich bin 85 und es ist alles in Ordnung. Aber es könnte anders sein! Alle, alle sind schon tot. Mein erster Mann ist tot, mein zweiter Mann ist tot. Meine Freundin, meine Cousinen … Da denk ich manchmal: Meine Güte, was soll das eigentlich! Ich muss das alles alleine verkraften, wissen Sie? Und dann denke ich manchmal, ich gehe nicht in die Kirche, aber ich bin ein gläubiger Mensch, warum muss das alles so sein? Warum lässt das der liebe Gott zu, dass die Menschen … Wie wir alles kaputt machen! Wie schlecht sind die Menschen