Название | "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" |
---|---|
Автор произведения | Barbara Halstenberg |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955102685 |
Rosi kam nicht. Wir erfuhren von einer Frau in der Nähe von Paderborn, die einem sagen konnte, wo sich eine Person befindet, wenn man ihr ein Foto schickt. Meine Tante hatte ein Foto ihres Mannes hingeschickt, der als Soldat in Russland gewesen war. Die Frau hatte geantwortet, dass der Mann noch diesen Monat nach Hause kommen würde, aber schwerkrank sei. Das war im August gewesen. Der Monat ging zu Ende, es war der 31. August und meine Tante dachte: ›Ach, sie hat ja doch nicht recht gehabt!‹
Aber am 31. August kam der Peter nach Hause! Er war schwer tuberkulös und starb auch daran. Vorher hat er noch seine Kinder angesteckt … Also befragten wir diese Frau nach der Rosi. Sie sagte: »Ja, die war sehr krank, aber jetzt ist sie wieder gesund. Sie lebt bei einer alten und einer jungen Frau in Polen. Die wird noch lange nicht zurückkommen.«
Mehr konnte sie nicht sagen. Aber nun wussten wir: Die Rosi lebt! Wir hörten weiter die Rot-Kreuz-Nachrichten. Eines Tages nach langer, langer Zeit kriegten wir einen Anruf von einer Frau, die uns sagte, sie hätte die Rosi dabei. Sie war mit ihr über Friedland in den Westen gekommen. Die Rosi war wirklich krank gewesen. Der Pfarrer, seine Haushälterin und ihre Tochter waren sofort nach Kriegsende weggegangen und hatten die Rosi mit der achtzigjährigen Oma alleine zurück gelassen – das achtjährige Kind! Irgendwann starb die alte Frau. Inzwischen war eine jüngere Frau aus dem Osten gekommen, die mit den beiden zusammenlebte. Die junge Frau und Rosi mussten für die Polen arbeiten. Sie wurden zu Arbeitseinsätzen gebracht, kriegten wenig zu essen, aber viel zu arbeiten, mussten bei der Ernte helfen. Sie konnten nicht selber über sich bestimmen, das machten andere. Irgendwann wurden sie auf einen Laster gepackt und nach Friedland gebracht. Dort wurden sie erst entlaust und dann neu eingekleidet. Der Mann der jungen Frau wohnte in Bremen, wohin sie die Rosi mitgenommen hatte. Von dort rief sie meine Mutter an und sagte ihr, dass sie die Rosi abholen könne. Meine Mutter fuhr hin, und jetzt erzähle ich aus Rosis Perspektive.
Diese junge Frau war inzwischen wie ihre Mutter geworden. Die hatte sich gekümmert! Und die Mutti hatte sie auf der Straße stehenlassen. Ja … die Mutti war für sie die Frau, die sie irgendwo abgegeben und nicht mitgenommen hatte. Meine Mutter lebt nicht mehr, die ist vor sechs Jahren mit 103 Jahren gestorben. Die Rosi konnte nie mehr ein Verhältnis zu ihrer Mutter aufbauen. Sie ging zwar mit unserer Mutter mit, aber sie sagt mir jetzt, wenn wir am Telefon von den alten Zeiten erzählen, dass sie das nicht gerne getan hat. Das war die Frau, die sie einfach immer irgendwo abgegeben hatte. Und so ist das Verhältnis auch bis zum Schluss geblieben. Inzwischen lebt sie in einem Altenheim, ist jetzt achtzig geworden und sagt, sie ist zufrieden, wenn man sie fragt. Aber von ihrer Zeit in Polen erzählt sie nicht viel. Sonst erzählt sie mir sehr, sehr viel. Sie muss noch viel verarbeiten …
Am Anfang, wie wir wieder zu Hause waren, habe ich die Fluchtgeschichte wohl zwanzigmal erzählt. Ich musste das immer wieder erzählen. Irgendjemand musste mir immer wieder zuhören. Jedem, der sie hören wollte, musste ich das erzählen. Jetzt gerade das 21. Mal …
»Auf einmal erscheint in den toten Augen ein Aufblitzen, ein Licht …«
Roswitha Weiß
(Geboren 1939 in Berlin, Fremdsprachensekretärin)
Eines Nachts wurden wir geweckt. Es hieß: »Schnell, schnell, schnell, alle sind schon auf dem Sammelplatz.«
Meine Schwester sagt, es war am 19. oder 20. Januar 45. Ich war erst fünf Jahre alt und mit meiner Schwester wegen der vielen Bombenangriffe nach Schlesien in einen Gasthof evakuiert worden. Am Sammelplatz angekommen, hörten wir schon im Hintergrund das Donnern der Kanonen, die immer näher kommenden Einschläge. Weil schon alles in den Wagen besetzt war, wurde ich in die letzte offene Leitersprosse gesetzt, die mit Stroh bedeckt war. Die Leitern waren für zusätzliche Sitzplätze seitlich an die Pferdewagen gehängt worden, umgeklappt und mit Stroh bedeckt. Ich erinnere mich noch an eine hübsche Frau, die an unserem Wagen stand und sich verabschiedete. Die anderen Frauen flehten sie an, es waren ja nur noch Frauen und Kinder da: »Komm mit, komm mit!«
»Nein, ich lasse meine Tiere nicht alleine, wer soll die füttern«, sagte sie, »man muss sich anpassen, wenn die Russen kommen. Ist eben eine kommunistische Regierung dann.«
Später habe ich noch oft darüber nachgedacht, ob die Frau das so alleine überlebt hat.
Als wir gerade losgefahren waren, kam eine Frau mit einem Kinderwagen zu unserem Wagen gelaufen und flehte: »Nehmt doch das Kind mit in den Wagen rein!« Eine der Frauen im Wagen meinte, das Kind hätte Diphtherie, und damit war die Sache erledigt. Keiner nahm das Kind in seinen Wagen auf. Die Mutter musste mit dem Kinderwagen alleine weiterlaufen.
Mit meinem kleinen Po saß ich ganz verkrampft auf der letzten Sprosse. Während der Wagen über die holprigen Feldwege fuhr, hatte ich Angst runterzufallen. Ich war allein. Wo meine Schwestern waren, wusste ich nicht. Ich wusste damals nicht, dass sie zu Fuß mit in dem Treck liefen. In der Ferne hörte ich den Kanonendonner. Die Angst der Erwachsenen übertrug sich auf mich. Sie sagten: »Oh, die Russen, die überrollen uns gleich!« und solche Sachen. Ich hörte auch die Panzerketten scheppern. Das müssen wohl die Panzer der flüchtenden Deutschen gewesen sein. Die Deutschen sollen ja rücksichtslos über alle Flüchtenden hinweggefegt sein.
Es war Minus 20 Grad. Wir hatten nicht wie heute Fellstiefelchen an, das gab es alles nicht. Ich fror sehr auf diesem letzten Treppchen, während wir über die Feldwege buckelten. Viele mussten laufen. Alle hatten wir Frostbeulen an den Füßen. Meine Schwester hatte sie noch lange, lange. Ich weiß noch, dass sie sie in Urin badete. Das ist ein gutes Mittel gegen Frostbeulen. Sie hat furchtbar unter der Kälte auf der Flucht gelitten und bekam eine Nebenhöhlenentzündung, die chronisch wurde.
Auf den Wegen war überall Glatteis. Die Pferde rutschten immer wieder aus. Als die Pferde wieder einmal ausgerutscht waren, sprach ich die zwei Männer an, die vorne auf dem Bock saßen, aber sie verstanden mich nicht und ich sie auch nicht. Es waren wohl Zwangsarbeiter, die mit auf die Flucht gegangen waren. Auf einmal waren sie verschwunden. Sie hatten noch versucht, die Pferde wieder auf die Beine zu bringen, und dann waren sie weg. Geflüchtet wahrscheinlich.
Dann sah ich einen Zug Sträflinge. Sie liefen auf einem Feldweg, der schräg auf unseren Weg zulief. Es war wohl nicht beabsichtigt gewesen, dass wir sie sehen. Sie trugen gestreifte Kleidung, hatten Kappen auf und keinen Stern, sondern ein Dreieck, ein Zeichen für polnische KZler, wie ich heute weiß. Ich sah zu den Gefangenen rüber und guckte nur in tote Augen. Sie schauten uns an und waren keine Menschen. Zusammengepfercht. Es war so kalt, und sie trugen nur diese dünnen Sträflingssachen. Ich fragte eine Frau: »Was sind’n das für Leute?«
Sie sagte: »Ach, das sind sicher Zuchthäusler, die müssen zur Arbeit.«
Vor den Sträflingen fuhr ein Leiterwagen mit einem Pferd und einem Kutscher. Die ganze Kolonne – es liefen immer fünf nebeneinander in einer Reihe – wurde nur von einem Soldaten beaufsichtigt, der um sie herumging. Das verstand ich nicht. Ich dachte: ›Warum laufen die denn nicht weg? Einer und so viele?‹ Auf dem Leiterwagen lagen lauter Spaten. Weil ich wusste, wie begehrt der Platz bei uns im Wagen war, während die anderen laufen mussten, dachte ich: ›Warum nehmen die die Spaten nicht runter und setzen sich in den Wagen?‹ Das war meine kindliche Idee.
Dann passierte etwas, was ich nie vergessen habe: Aus der Mitte der Sträflingsgruppe ragt ein sehr großer Mann hervor, er überragt alle. Er blickt mich an, und ich blicke ihn an. Auf einmal erscheint in seinen toten Augen ein Aufblitzen, ein Licht. Irgendwie fangen die toten Augen an zu leben. Und plötzlich ist der Mann weg. Ich sehe wie der Bewacher eine Pistole entsichert und aufgeregt durch die Gegend läuft.
Nach der Flucht erzählte mir meine Schwester, der Mann hätte sich in den Graben gerollt. Er hatte wohl gedacht, dass der Bewacher ihm nichts tun würde, angesichts der Kinder und Frauen. Ich fühlte