Название | "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" |
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Автор произведения | Barbara Halstenberg |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955102685 |
»Ja«, sagte meine Mutter und gab ihnen noch Essensreste mit. Frau Bachschmitt warnte sie: »Gehen Sie nicht zu nah ran, die Russen schießen.«
Wir liefen weiter, mussten einen Fluss überqueren. Unsere Mütter stiegen in das kalte Wasser und reichten uns Kinder und das Gepäck rüber. Wie die Frauen das durchgestanden haben, weiß ich überhaupt nicht. Die Brücken über die Oder waren alle zerstört. Wir liefen am Ufer entlang Richtung Norden. Das wenige Gepäck und meinen Bruder zogen wir in einem Leiterwagen hinter uns her. Einmal versuchte ich, einen Ziegenbock vor den Wagen zu spannen, den ich auf einem Feld entdeckt hatte, aber meine Mutter war dagegen. Ich wollte meiner Mutter helfen. Ich war 45 acht Jahre alt.
Wir schlossen uns einem Treck von Flüchtlingen an. Manche hatten Wagen, andere nicht. Jeder schleppte irgendwas. Geredet wurde kaum – die Stimmung war gedrückt. Plötzlich hören wir weiter vorne im Treck furchtbares Gebrüll.
Als wir näher kommen, sehe ich am Wegesrand zwei Männer, ich weiß nicht, ob es Russen sind oder Polen. Sie greifen sich die jungen Frauen aus dem Treck und sperren sie hinter einem Zaun auf einer Weide ein. Die Kinder erschlagen sie mit einem Spaten und schmeißen sie in den Graben. Wir kommen immer näher. Vor uns wird wieder eine Frau aus dem Treck gezogen und hinter den Zaun gesperrt. Ihre Kinder, vielleicht drei, vier Jahre alt, etwas jünger als wir, erschlagen die Männer mit Spaten und schmeißen sie in den Graben. Den Kinderwagen werfen sie hinterher. Die Frauen hinter dem Zaun weinen verzweifelt. Wir sind die Nächsten, die an den Männern vorbeimüssen. Ich denke: »Mein Gott, jetzt sind wir dran.«
Ich bin erstarrt. Ich sehe, wie plötzlich ein Russe, der ein bisschen weiter weg steht, auf uns zukommt. Er schiebt den Mann beiseite, der meine Mutter wegnehmen will. Wir können weitergehen. Ich weiß nicht, warum. Wir laufen einfach weiter, drehen uns auch nicht mehr um, wir laufen einfach weiter, weiter, weiter. Erstarrt – im Schock. Wir hätten ja auch brüllen können.
Solche Grausamkeiten … Aber das hatten die Deutschen ja damals genauso in Russland gemacht. Die Russen haben dann quasi das Gleiche gemacht. Überall, wo Krieg ist, ist Brutalität. Man hört es ja heute noch. Wir können froh sein, dass wir so lange keinen Krieg hatten. Ich hoffe, dass es auch nicht mehr passiert. Aber weiß man’s?
Wie taten mir die Frauen und Kinder, die mit uns auf dem Treck waren, leid. Besonders, wenn die Kinder weinten, hätte ich ihnen am liebsten immer irgendwie helfen wollen.
Später habe ich mit Mutter nochmal über die Zeit geredet. Aber nicht so intensiv. Nicht so, wie jetzt hier mit Ihnen. Zwischendurch erzählte sie mal Bruchstücke, die ich nicht zusammensetzen konnte. Und ich wollte dann auch nicht. Es war weg – die Erlebnisse waren vermutlich ins Unterbewusstsein verschoben.
Als ich Ihren Flyer fand, habe ich mich gewundert: Da möchte jemand wissen, was ich erlebt habe? … Ich habe mir diese Notizen hier gemacht, damit auch etwas dabei herauskommt. Ich habe auch recht lebhaft geträumt in den letzten Tagen, bevor Sie heute gekommen sind. Bin oft aufgewacht, hab nicht viel geschlafen. Zumindest möchte ich der heutigen Generation sagen: Es war nicht immer so gut, wie ihr es jetzt habt.
Wo war ich stehengeblieben? Der Treck führte uns in die falsche Richtung, also kehrten wir wieder um. Nachts schliefen wir draußen oder in verlassenen Häusern. Tote Pferde lagen am Wegesrand, irgendwer hatte schon das Fleisch rausgeschnitten. Zurück an der Oder, fanden wir noch eine intakte Eisenbahnbrücke. Wir warteten auf einen offenen Güterzug, stiegen auf – keine Wände rechts und links, wir starben fast vor Angst – und stiegen auf der anderen Seite wieder runter. Zu Fuß liefen wir weiter bis nach Berlin. Meine Mutter, mein Bruder und ich hatten offene Füße. Die ganze Oberseite war offen – eingewickelt in Stoff. Im Winter waren uns die Füße eingefroren, seitdem hatten sie sich nicht erholen können. Erstaunlich, dass die später wieder geheilt sind. Wie wir überhaupt noch laufen konnten, weiß ich nicht mehr. Irgendwie haben wir es geschafft. Anfang Juli kamen wir in Berlin an. Es war sehr warm damals, das weiß ich noch. Bei meiner Großmutter kamen wir in einem Zimmer unter.
1991 sind meine Mutter und ich nach Selchow gefahren und haben das Grab von meinem kleinen Bruder gesucht. Wir fanden nichts. Unser Dolmetscher fragte eine Frau bei der Kirche nach den Gräbern. Sie erklärte uns, dass aus all den Gräbern, die sich während des Kriegsendes gebildet hatten, die Reste rausgenommen und in eine Grube auf einen verfallenen Friedhof gebracht worden waren. Wir liefen zu der Stelle, und dort lagen sogar noch ein paar Knochen auf der Erde. Meine Mutter konnte sich gar nicht halten, sie rief immer nach ihrem Sohn …
»Mutti war meine Heimat.
Eine andere Heimat hatte ich nicht.«
Berthild Erika Tourrenc
(Geboren 1938 in Berlin, Lehrerin)
Vor dem Krieg waren wir oft zu meinen Großeltern aufs Land gefahren. In der Weite des Gartens tollten mein Bruder und ich umher, pflückten Kirschen, Pflaumen, Äpfel, machten kleine Sträuße aus den vielen Flockenblumen, deren Duft überall in der Luft war.
Ab 1943 wurde Berlin heftig bombardiert. Mutter und ich wurden mit der Schule meines Bruders nach Ostpreußen evakuiert – in die Nähe von Angerburg. Wahnsinnig, uns 1943, nach der Schlacht von Stalingrad, so weit nach Osten zu bringen! Mein Bruder war gerade zehn Jahre alt geworden. Ich erinnere mich, wie wir in Angerburg auf dem Bahnsteig standen und die Bauern um uns herumliefen. Sie waren verpflichtet, den Flüchtlingen ein Zimmer abzugeben. Sie betrachteten uns. Plötzlich kam eine Frau auf uns zu und sagte: »Ich nehme Sie mit!« Sie hatte uns ausgesucht, weil sie einen Sohn im Alter meines Bruders hatte, und ihre Tochter war so alt wie ich – fünf Jahre.
Es war eine schöne Zeit … Ich erinnere mich an die Leinenfelder, ein Meer aus blauen Blüten, und die Masurischen Seen, überall Wasser und die Weite der Wälder.
Dann kamen die Russen. Sie waren kurz vor Angerburg. Wir liefen los – meine Mutter, mein Bruder und ich. In meinem kleinen Rucksack trug ich meine Puppe und einen Nachttopf – mehr konnte ich nicht tragen. Ich lief von Angerburg in Ostpreußen bis nach Schlesien. Als Fünfjährige! Wir schliefen draußen unter freiem Himmel und in Scheunen. Tagsüber liefen wir.
Russische Tiefflieger fliegen nur ein paar Meter über uns und schießen. Tote Pferde liegen auf der Straße. Viele tote Menschen liegen im Straßengraben. An den Rändern der Straße liegen tote Kinder. Die Menschen laufen einfach weiter – an den Toten vorbei. Niemand kann sich um die Toten kümmern! Menschen und Tiere werden von den Fliegern erschossen und bleiben liegen. Mutti ruft: »Guckt nicht hin!« Sie will nicht, dass wir hinschauen – wir sollen weiterlaufen. Die russischen Flieger sind immer da. Wir schmeißen uns auf die Erde. Wir hören das Brummen und springen in den Straßengraben oder wir rennen in den Wald, um uns zu verstecken. Mutti hat eine grüne Decke dabei, die legen wir über uns. Unter der Decke fühlen wir uns geschützt. Meine Mutti ist da, also kann uns nichts passieren. Mutti war meine Heimat. Eine andere Heimat hatte ich nicht. Mutti sagte immer: »Wir müssen mit unseren Gebeten Gott vertrauen, dass er uns und Vati am Leben lässt.«
Wir liefen weiter, immer weiter und weiter … Dabei sangen wir oft. Es läuft sich beim Singen besser. Manchmal spielte ich auch beim Laufen, warf Steinchen, sammelte längere und kürzere Stöcke, um den kürzeren mit dem längeren weiterzuschleudern. Viele Nächte schliefen wir draußen. Wir waren so müde vom Laufen! Wenn wir an eine Scheune kamen, legten wir uns ins Stroh. Die Menschen waren großzügig. Wir durften im Stroh übernachten … Wir hatten nichts zu essen. Ich war rappeldürr, aber das machte nichts. Die Hauptsache war, dass wir lebten. Wir ernährten uns von Löwenzahn und Brennnesseln und manchmal sammelten wir Steckrüben auf den Feldern. Wir aßen alles roh. Wie hätten wir etwas kochen können? Wasser zum Trinken fanden wir auf dem Weg. Wir aßen viele Pilze – deswegen kenne ich alle Pilze.
Zwei Monate waren wir unterwegs. Darum kann ich immer noch gut laufen. Ich habe es wirklich gelernt. Später brachte ich es meinen Enkelkindern bei und meinen Kindern sowieso – das Laufen.
Wir kamen in Krauschwitz an. Das liegt in der Oberlausitz. Wieder bekamen wir ein Zimmer bei einem Bauern. Im Herbst