Blaue Blumen zu Allerseelen. Santo Piazzese

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Название Blaue Blumen zu Allerseelen
Автор произведения Santo Piazzese
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558009



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erfüllten Pflicht sorgfältig gesetzt worden waren. Er steuerte seine Unterschrift bei, wobei er wie immer mit dem Stift auf dem V verweilte und fast das Papier durchbohrt hätte.

      Niemand war da, aber es war wohl überflüssig, seinen Besuch per Gegensprechanlage anzukündigen. Er ersparte sich den altersschwachen Fahrstuhl und nahm die Treppe. Auch die Wohnungstür im zweiten Stock war weit geöffnet. Das grelle Licht von draußen hatte sich bereits im Atrium des Hauses in einen feinkörnigen Halbschatten verwandelt. Der Wohnungseingang lag fast im Dunkeln. Eine Trauerwache bei Tag und ohne den Toten, dachte Spotorno. Der Leichnam war noch nicht freigegeben und der Familie überlassen worden, er musste sich in diesem Moment auf dem Marmortisch der Gerichtsmedizin befinden.

      Er war unschlüssig, ob er leise anklopfen oder einfach in den kleinen finsteren Vorraum treten sollte. Da spürte er, mehr als dass er hörte, den leichten Schritt einer Person, die sich der Wohnungstür näherte, und so wartete er ab. Im schwachen Licht des Vorzimmers wirkte Maddalena, seit dem letzten Mal, da Spotorno sie gesehen hatte, kaum verändert. Ihre Silhouette war ein wenig breiter geworden, und erst als sie die Wandbeleuchtung anschaltete und ihr Gesicht dem von Spotorno für den Kuss auf beide Wangen näherte, bemerkte er, dass das natürliche Rot ihrer Haare matter geworden war und einen leichten Braunstich bekommen hatte. Das Licht offenbarte außerdem ein kleines Netz feinster Falten um den Mund und die Augen, die geschwollen, aber nicht gerötet waren.

      Die Tränen mussten ihr bereits am Vortag ausgegangen sein, dachte Spotorno, doch kaum hatten diese Worte in seinem Kopf Gestalt angenommen, bedachte sie ihn, als könne sie Gedanken lesen, plötzlich mit einem tränenfeuchten Blick.

      Auch Maddalena hatte ihn auf Anhieb wiedererkannt und schien ob seines Kommens nicht überrascht. Spotorno hatte beinahe das Gefühl, erwartet zu werden. Es verwirrte ihn, als sie seine Hand nahm und ihn in den großen Wohnraum führte, in dem sich tagsüber das Leben von Signora Rosa abspielte.

      Als sie noch Kinder waren, hatten sie einander noch nicht einmal flüchtig berührt.

      Auch das Wohnzimmer lag im Halbschatten, wegen der angelehnten Fensterläden und ihren nur halb geöffneten Lamellen, durch die das Licht gefiltert durch dünne, beigefarbene, ihm wohlbekannte Vorhänge eindrang. Signora Rosa saß auf einem Stuhl mit Sitz aus Wiener Geflecht und gerader Rückenlehne. Sie war wie immer. Spotorno hätte alles im Voraus beschreiben können. Aber es war nicht die wiedergefundene Vertrautheit der Szenerie, die bei ihm ein Schwindelgefühl hervorrief. Vielmehr hatte er beim Betreten des Raumes das Gefühl, einen Fuß in ein Gemälde gesetzt zu haben: Signora Rosa sah im Gegenlicht aus wie die Mutter, die Umberto Boccioni einst portraitiert hatte. Amalia hatte einmal eine Postkarte mit diesem Bild bekommen, und Spotorno hatte sie lange als Lesezeichen benutzt.

      Signora Rosas Hände lagen ineinander verflochten in ihrem Schoß, genau wie bei der Dame auf dem Gemälde, und wie diese hatte sie dünnes, fast weißes Haar, das in feinen losen Strähnen ihr Gesicht umrahmte, während ihre Kleidung in einem warmen Braun schimmerte. Auch die Beschaffenheit des Lichts war identisch und hüllte alles in einen matten, zarten Schleier, der ihre Silhouette verdunkelte.

      Der flüchtige Eindruck verflog, sobald sich Spotornos Augen an die milchige Helligkeit des Zimmers gewöhnt hatten. Was er eben noch für ein Braun gehalten hatte, entpuppte sich nun als das verblichene Schwarz der Trauergewänder. Maddalena ließ seine Hand los und schob ihn mit einem sanften Druck in Richtung der alten Frau.

      — Mamà, schau mal, wer gekommen ist, Vittorio. Erinnerst du dich an Vittorio?

      Spotorno ging rasch auf sie zu, beugte sich hinab für einen Kuss auf die kalten Wangen, und ein leichter Kampfergeruch stieg ihm in die Nase.

      Unruhig ruckelte Signora Rosa einen Moment hin und her und sagte dann mit zittriger, dünner Altfrauenstimme:

      — Vittorio, Vittorio, auch du bist hier und hast dich an Sasà erinnert.

      Dann fischte sie aus ihrem Gedächtnis den Beruf, den Spotorno ausübte.

      — Du hast gesehen, wie sie ihn zugerichtet haben, meinen armen Sasà. Mich haben sie ihn nicht sehen lassen wollen.

      Spotorno nickte. Ihm lag auf der Zunge zu sagen, dass Rosario nicht gelitten und diese Welt verlassen hat, ohne zu begreifen, was überhaupt geschah, aber es erschien ihm respektlos gegenüber dem Andenken des Verstorbenen. Rosario hatte es im Übrigen nie gemocht, wenn man ihn Sasà nannte, zumindest als er ein junger Bursche war, und nur seiner Mutter war dies überhaupt erlaubt.

      — Setz dich neben mich, Vittorio, und leiste mir ein wenig Gesellschaft.

      Eine Frau mittleren Alters erhob sich, um ihm ihren Stuhl zu überlassen, und nahm Platz auf einer Truhe, die gegen die Wand gelehnt stand. Auf der anderen Seite neben Signora Rosa saß eine zweite Frau, die wie ihre Zwillingsschwester aussah, obwohl sie nicht einmal miteinander verwandt waren.

      Das waren die Signorine.

      Spotorno hatte noch nie gehört, dass sie anders als so und immer im Plural genannt worden wären, auch wenn er wusste, dass die eine Grazia und die andere Nunzia hieß. Sie arbeiteten schon ewig für Signora Rosa, als junge Mädchen hatten ihre Mütter sie ihr anvertraut, damit sie das Schneiderhandwerk erlernten. Und das taten sie so gut, dass die Signora sie fest eingestellt hatte.

      Spotorno begrüßte auch die Signorine mit Wangenkuss. Als er seinen Platz eingenommen hatte, ließ er den Blick durch den Raum schweifen, um seinem Gedächtnis die Exaktheit der Erinnerung zu versichern. Einige Dinge hatten sich verändert, seit er damals in Begleitung seiner Mutter hier gewesen war. Die zwei pedalbetriebenen Singer mit der goldenen Aufschrift auf dem schwarzen Leib waren durch zwei moderne elektrische Nähmaschinen ersetzt worden, von denen Spotorno nicht einmal den Markennamen entziffern konnte. Die üblichen Nähutensilien waren geblieben: Stoffstücke, Restzuschnitte, Knöpfe, Nadeln, Scheren, Fingerhüte, Schneiderkreide.

      Vergeblich suchte er nach den hölzernen Fadenspulen, deren rasante Drehung auf dem Spulenzapf der alten Singer ihn als Kind so sehr gefesselt hatte. Der Anblick der losen Schneiderkreiden rief hingegen ein seltsames Gefühl von Unvergänglichkeit hervor: Sie waren flach, in der Farbe von antikem Elfenbein und ähnelten in ihrer Form den kleinen Seifen für den Einmalgebrauch, wie man sie, in Zellophan verpackt, in Hotels vorfindet. Seit er denken konnte, waren sie so. Auch die Wandtapeten mit dem kleinen Rosenmuster auf beigem Untergrund schienen nicht mehr erneuert worden zu sein, unter der Decke hatten sie sich an manchen Stellen vom Putz gelöst, der durch eindringende Feuchtigkeit aufgequollen war. Über einer Stuhllehne hing ein abgegriffenes Maßband, mit einer Einkerbung neben der Achtundsechzig.

      Es war dasselbe Maßband wie eh und je, es sei denn, alle Maßbänder von Signora Rosa waren aus irgendeinem geheimnisvollen Grund besonders in der Nähe des Zentimeters achtundsechzig abgewetzt. In der Mitte der Wand gegenüber den Balkonen hing das Holzkreuz mit den Intarsien in Form kleiner Herzen längs der Vertikalachse und den Elfenbeineinsätzen an den Enden der Kreuzbalken.

      Spotorno sammelte Erinnerungen mit derselben Ausdauer, wie gewisse Müßiggänger Hobbys sammeln.

      Signora Rosa bemerkte seinen Blick:

      Spotorno wusste es nicht.

      — Angefangen beim Reihen über Probe und Gegenprobe braucht es gut und gerne eine Fadenrolle, also neunzig Meter Garn. Allein