Название | Blaue Blumen zu Allerseelen |
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Автор произведения | Santo Piazzese |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783949558009 |
Vittorio hatte nie etwas von den Zigaretten wissen wollen, aber die anderen vollführten regelrechte Kämpfe, um so viele wie möglich an sich zu bringen. Dann ließen sie die mit Meerwasser durchweichten Päckchen in der Sonne trocknen und brachten sie später heim zu ihren Vätern. Einmal hatte Diego eine geraucht, aber Vittorio hatte nicht einmal einen winzigen Probierzug machen wollen.
Jetzt war Diego bei ihnen angelangt, schwitzend und mit umherirrendem Blick. Er brachte es nicht einmal fertig, ihnen in die Augen zu schauen. Spotorno entdeckte in seinem Gesicht einen Ausdruck, der ihm bekannt vorkam.
Damals, als sie am Strand einen Totenschädel gefunden hatten, da hatte er genauso ausgesehen. Rosario hatte den Schädel entdeckt, ihn umgehend unter einem Stück Karton verborgen und dann seine beiden Freunde herbeigerufen.
Der Schädel war grau und glatt poliert, die leeren Augenhöhlen wirkten wie schwarze Löcher, der Unterkiefer fehlte.
Spotorno hatte sich mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht genähert. Er hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Doch im Gegenteil: Regungslos stand er da, so als würde er bloß einen Stein betrachten, den das Meer zu etwas Bizarrem geformt hatte.
Auch Diego betrachtete ihn lange, ohne ihn zu berühren, dann trat er ihm mit dem Absatz den Stirnknochen ein.
In seinem Gesicht stand ein entschlossener, doch zwiespältiger Ausdruck, den Kommissar Spotorno dank langjähriger Berufserfahrung auf dem Gesicht vieler seiner Klienten zu erkennen wusste. Eine verstohlene Niedertracht, auf halber Strecke zwischen Befriedigung und Schuldgefühl.
Danach hatten sie ein Loch in den feuchten Sand gegraben, die Bruchstücke des Schädels hineingelegt und zugedeckt. Diego war mit wahrer Inbrunst am Werk gewesen und hatte abschließend mit dem Zeigefinger ein Kreuz in den festgeklopften Sand gezogen.
Spotorno hatte nie jemandem von diesem Totenschädel erzählt. Jetzt beugte Diego sich nach unten, um seine Sandalen zu öffnen, und kickte sie dann von sich.
— Hast du sie gesehen?, fragte Rosario ihn.
— Nein, entgegnete Diego.
Sein unruhiger Blick verschwand, und er sah seinen Freunden, einem nach dem anderen, kurz und durchdringend in die Augen. Und da die naheliegende Gegenfrage: wen oder was er hätte sehen sollen, ausblieb, schlussfolgerten die beiden, dass er tatsächlich über alles Bescheid wusste. Diego nahm den Korb, schleifte ihn bis zum nächsten Felsen und brachte ihn in einen Neigungswinkel, damit er kippte.
Sämtliche Austern glitten in einem gewaltigen Schwall hervor und schufen die Illusion einer kompakten Masse, eines einzigen abstoßenden Organismus, der dann in einem langen Moment hinabstürzte und beim Aufprall auf dem Wasser zersplitterte.
Vittorio hatte irgendwann einmal in einem Film eine Seebestattung gesehen, und etwas in Diegos Gebaren beschwor genau diese Atmosphäre herauf. Das Bild der aus dem Korb gleitenden und im Wasser verschwindenden Mollusken wurde in seinem Kopf vom Bild der Leiche von Signorina Lo Giudice überlagert, wie sie langsam über eine hölzerne Trage rutschte und in die Tiefe glitt.
Kommissar Spotornos diffiziles Schweigen
Aber eigentlich hatte das mehr den Sinn einer Grabinschrift, dachte Spotorno.
Es war fast Mitternacht und noch immer saßen sie bei Tisch. In dem Beruf, den er sich ausgesucht hatte, waren Abendessen zu nächtlicher Stunde keine Seltenheit. Die Kinder waren kurz zuvor erst zu Bett gegangen, im Sommer durften sie die üblichen Schlafenszeiten etwas laxer handhaben.
Amalia zündete sich eine Merit an. Sie genehmigte sich genau eine Zigarette pro Tag, und die gleich nach dem Essen, als eine Art glorreicher Abschluss des Tages und im Gedenken an die schönen alten Zeiten mit einem Päckchen pro Tag. Spotorno hatte eine Höllenangst, dass diese eine Zigarette der Funke sein könnte, der nach dem Großbrand unter der Asche vor sich hin glomm, als eine Art Vorwegnahme eines künftigen Lasters.
Amalia beobachtete ihn durch die perlgrauen Rauchringe hindurch. Während solcher Abendessen ohne Kinder waren sie oft schweigsam. An diesem Abend jedoch herrschte ein besonderes Schweigen, zumindest von Spotornos Seite. Amalia dachte, wenn Lorenzo mit seiner Manie für Oxymora jetzt hier wäre, würde er von einem dichten, gleichwohl durchlässigen, einem diffizilen Schweigen eben sprechen. Es musste etwas mit seiner Arbeit zu tun haben. Und über die sprachen sie so gut wie nie. Nicht etwa, weil Kommissar Spotorno jemand wäre, der nach den harten Dienststunden alles hinter sich ließe, nein, das gewiss nicht. Er war vom Typ Bulle-im-Dauereinsatz und nur in diesem Zuschnitt war ihm der Beruf erträglich. Andernfalls hätte er genauso gut die Stelle bei der Bank annehmen können, die man ihm nach seinem Uniabschluss angeboten hatte. Seine Schweigephasen waren viel mehr verdeckte Reifungsprozesse: Es waren Pausen nur augenscheinlicher Ruhe, die er dazu nutzte, die Ereignisse des Tages in den richtigen mentalen Fächern ad acta zu legen.
Puleo hatte ihn einmal mit der Vokabel organicare überrascht, die er von wer weiß woher zur Beschreibung des Prozesses heranzog, dem vielleicht auch er, Spotorno, ausgesetzt war. Später hatte er ihm gestanden, dass es sich dabei um eine Art lexikalische Ansteckung, eine Kontaminierung mit Fachjargon handelte, der von seinem Bruder Gaetano, einem Agrartechniker, stammte. In dessen Berufsfeld beschrieb genannter Begriff den Vorgang, bei dem chemische Elemente aus dem anorganischen Zustand zu organischer Materie übergingen.
Nun war Spotorno im Begriff, Rosarios Tod organisch zu verarbeiten, wie er sich schweren Herzens eingestehen musste. Aber es war eine widerspenstige Überführung in einen organischen Zustand. Und die anorganischen Elemente, die Geschosse, der Überfall samt dem ganzen Beiwerk, nahmen ungewöhnliche Bahnen und versetzten ihn zurück an jenen Septembermorgen vor vielen, vielen (wie vielen?) Jahren, dem Tag, da Santo Li Pani die Signorina Lo Giudice mit einem Kopfkissen erstickt hatte.
Es war der andere Tote, Mancuso, den er hätte organisch verarbeiten sollen, nicht Rosario, der scheinbar ein zufälliges Opfer war. Mancuso aber war nie Teil von Spotornos Leben gewesen.
Jetzt bemerkte er Amalias beharrlichen Blick, mit dem sie ihn durch ihre Rauchschranke hinweg beobachtete. Sie nahm nochmals einen langen Zug, und bei Spotorno schnellte erneut eine Erinnerung an die Oberfläche seines Bewusstseins. Eine Erinnerung an jene salzgetränkten Winston, die Diego geraucht hatte. Der Geschmack musste grauenvoll gewesen sein. Und wer weiß, warum sie als junge Burschen vom Inhalieren und nicht von einem Zug an der Zigarette gesprochen hatten. Im Nachhinein erschien ihm das wie die unterbewusste Materialisierung eines Begehrens. Oder eine Gestaltwerdung des zukünftigen Lasters. Eine ganze Weile hatte er den Eindruck, als könnte Amalia seine Gedankengänge mitverfolgen, beinahe wünschte er sich das geradezu. Und das war es schließlich, was ihn dazu brachte, den Mund aufzumachen.
Er erzählte ihr von den Toten des Tages. Über den alten Mordfall Lo Giudice war Amalia im Bilde, war er doch eines der vorherrschenden Themen während der langen Zeit des Werbens um sie gewesen, das Vittorio, was sie betraf, genauso gut hätte überspringen können. Von ihrer zweiten Begegnung an, die der ersten im Abstand von ein paar Jahren gefolgt war, hatte sie nämlich für sich beschlossen, dass sie ihn und keinen anderen als Vater ihrer zukünftigen Kinder akzeptieren werde.
Spotorno hatte ewig gebraucht, sich davon zu überzeugen, dass aus den spöttisch dreinblickenden dunkelbraunen Augen keine Überheblichkeit, sondern eine Erwartung sprach. Die Erwartung, dass dieser allzu ernsthafte und altmodische junge Mann endlich begreifen möge, wie die Dinge standen. Nämlich, dass ihr, Amalia Nisticò, gelegentliche Grasraucherin, zeitweilige Trägerin eines Pseudo-Zigeuner-Looks,