Название | Blaue Blumen zu Allerseelen |
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Автор произведения | Santo Piazzese |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783949558009 |
Spotorno räumte ein, dass er über die aktuellen Preise des Baumwollgarns nicht auf dem Laufenden war.
— Ich zahle viertausend Lire dafür, und das ist nicht einmal der Großhandelspreis. Marke Tre Cerchi Oro der Firma Cucirini e Cantoni, das ist das beste. Um die Wahrheit zu sagen, anstelle von Cantoni steht da jetzt ein ausländischer Name, aber ich bin einfach noch an den alten Firmennamen gewöhnt.
Spotorno sah im Geiste den goldenen, in einem Sonnenstrahl tanzenden Staub im Esszimmer der Via Venezia vor sich, während im Radio eine Männerstimme – eine schöne, ernste Stimme, von der man sich keine banalen Nachrichten erwartete – die Börsennotierungen der Mailänder Börse vorlas:
… Magneti Marelli … Edison … Cucirini e Cantoni ging es ihm ungeordnet durch den Sinn.
Einen ganzen Sommer lang fiel das Verlesen der Börsennotierungen mit dem Eintreffen des Sonnenstrahls und dem goldenen, unfassbaren, tanzenden Staub zusammen. Es war die Zeit des Wirtschaftswunders.
Signora Rosa fuhr in ihrem Quasi-Monolog fort:
— Auf eine Garnrolle wickeln sie tausend Yard, das ist eine englische Maßeinheit, die neunzig Zentimetern gleichkommt. Auf einer solchen Rolle steckt also fast ein Kilometer Garn. Eine Garnrolle reicht für zehn Hemden. Rechne es dir aus: Für ein nach allen Regeln der Kunst genähtes Hemd gehen mehr oder weniger vierhundert Lire an Baumwollgarn drauf. Der Nylonfaden wird etwas weniger kosten. Also, ich frage mich: Was soll das? Um hundert, zweihundert Lire zu sparen, geht einer her und näht die Hemden mit Nylonfaden, der sich dann beim ersten Bügeln kräuselt, hart wird, ins Fleisch sticht und am Hals rote Pusteln hinterlässt? Und was sind schon hundert Lire Ersparnis, wenn einer dreißig-, vierzig- und sogar bis zu sechzigtausend Lire allein fürs Nähen eines Hemdes verlangt? Die Knöpfe noch gar nicht mit eingerechnet. Weißt du, wie viele Knöpfe in einem einzigen Hemd stecken?
Spotorno war ins Schwitzen gekommen. Er fragte sich, ob der Höhepunkt dieser pathologischen Reaktion bereits überschritten wäre. Maddalena war hinter den Stuhl der Mutter getreten und machte ihm ein Zeichen, das er als ermutigende Aufforderung deutete, ihr gegenüber noch ein wenig nachsichtig zu sein, das Spiel mitzuspielen. Den Schmerz einzudämmen, zumindest noch für eine kleine Weile. Die Tragödie aus den Gedanken der alten Dame fernzuhalten. Einen Raum der Rücksichtnahme, ein emotionales Polster zu schaffen. Die Signora ließ mit ihrer Antwort nicht auf sich warten:
— Für ein fachgerecht geschneidertes Hemd braucht es mindestens zehn Knöpfe. Ich verwende nur Perlmuttknöpfe. Die anderen haben jetzt alle mit denen aus Kunststoff angefangen.
Sie griff nach einer Schachtel vor sich auf dem kleinen Tisch und entnahm ihr einen Knopf:
— Siehst du dieses Viereck zwischen den Löchern, durch die der Faden läuft? Das ist die Stelle, an der die Plastikknöpfe brechen, und du hast dann nicht nur den Knopf in der Hand, sondern du musst auch den Faden auftrennen, der schon am Stoff festgenäht ist. Mit den Perlmuttknöpfen kann dir das nicht passieren. Im Höchstfall geht der Knopf ab, weil der Faden reißt. In der Tat, für einen Knopf wie diesen bezahlst du dreihundert Lire, während einer aus Kunststoff nur fünfzig kostet. Das macht eine Differenz von zweitausendfünfhundert Lire pro Hemd. Aber diese Halsabschneider, die Maßhemden mit Kunststoffknöpfen fertigen, die verkaufen dir das Hemd deshalb nicht um zweitausendfünfhundert Lire billiger. Die lassen dich denselben Preis bezahlen, ob mit richtigen Knöpfen oder welchen aus Kunststoff.
Mit einem Schlag schien ihr das Surreale dieser Unterredung bewusst zu werden, und sie sank in sich zusammen. Das kurze Kräfteschöpfen war zu Ende, erneut stand die Tragödie vor der Tür.
Spotorno wusste nicht, was er sagen sollte. Theoretisch gab es viele Fragen, waren viele Ungereimtheiten aufzulösen. Überdies war er Polizeikommissar. Und dank ihrer langjährigen Bekanntschaft hegten diese Personen ihm gegenüber kein Misstrauen. Ein ungewöhnlicher Umstand im Kontext eines Mafiaverbrechens. Und den hätte er ausnutzen sollen.
Signora Rosa weinte jetzt lautlos. Tränen liefen ihr über die Wangen, ohne dass sich ihr Gesichtsausdruck gegenüber dem konstanten Grundton des Schmerzes, den sie nur während ihrer Ausführungen über die Hemden aufgegeben hatte, sehr viel verändert hätte. So war es auch das letzte Mal gewesen, als Spotorno noch zu Gymnasialzeiten hier war, weil die Signora bei seiner Mutter angerufen und gebeten hatte, doch mal Vittorio bei ihr vorbeizuschicken, um über Sasà zu sprechen – der ihr nichts als Kummer bereitete. Und alles, was er damals getan hatte, war, das abgegriffene Maßband zu betrachten, das beim Zentimeter achtundsechzig eine Einkerbung hatte.
Er wurde unruhig auf seinem Stuhl. Dann hörte man Schritte, und ein Mann um die Vierzig betrat den Raum. Er trug einen blauen Leinenanzug, ein weißes Hemd mit offenstehendem Kragen, und selbst sein graumelierter Schnurrbart sah so aus, als hätte er ihn passend zum Outfit angelegt. In der Tasche seines Jacketts steckte eine Ausgabe der Sicilia, so gefaltet, dass die Seite mit den Todesanzeigen zu sehen war. Spotorno hatte bereits im Büro einen Blick drauf geworfen: Es gab nur einen einzigen Nachruf für Rosario, den seiner Familie.
Maddalena stellte ihm den Mann vor:
— Das ist Manlio, mein Ehemann. Und dann: Vittorio Spotorno, ein Jugendfreund von Rosario.
— Beltramini, angenehm, sagte der andere mit einem feuchten, auf die Fingerspitzen beschränkten Händedruck.
Spotorno inspizierte reflexartig die Knöpfe und Nähte von Beltraminis Hemd. Perlmuttknöpfe und Baumwollgarn, wie zu erwarten. Auf den Zusatz »Kommissar« hatte Maddalena wohl absichtlich verzichtet, um keine Missdeutungen aufkommen zu lassen.
Spotorno war unsicher, ob er sich erneut setzen oder von der Ankunft des Mannes profitieren sollte, um sich zu verabschieden. Maddalena nahm ihm die Entscheidung ab:
— Komm, Vittorio, ich begleite dich hinaus. Heute ist Sonntag, und um die Zeit wirst du gewiss zu Hause erwartet. Deine Kinder sind noch klein, nicht wahr?
Sie begleitete ihn nicht nur bis zur Wohnungstür, sie ging auch vor ihm die Treppe hinunter bis zum Gehsteig auf der Via Zara.
— Ich muss einfach mal frische Luft schnappen, sagte sie, aber lange kann ich nicht wegbleiben.
Bei diesen Worten sah sie nach oben, zu den Balkons im zweiten Stock, wo inzwischen jemand (ein graumelierter Reflex?) die beigen Vorhänge im Wohnzimmer beiseite gezogen und die Fensterläden geöffnet hatte. Spotorno hatte den Eindruck, dass sie ihm etwas zu sagen hatte, aber Scheu hatte, sich einem beinahe Fremden so offenherzig anzuvertrauen. Vielleicht lief es zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn nicht so besonders, und sie wollte die beiden nicht so lange nur mit den Signorine alleine lassen. Beim Eintreffen von Maddalenas Ehemann hatte Spotorno eine leichte Erstarrung in Signora Rosas Mimik wahrgenommen. Sie hatte sogar mit Weinen aufgehört.
Entgegen ihrer bekundeten Absicht schien Maddalena keineswegs entschlossen, sich rasch von ihm zu verabschieden. Stattdessen hatte sie seine Hände ergriffen und hielt sie bereits seit einigen Sekunden fest, während ihr Blick über seine Schultern hinweg starr auf einen Punkt gerichtet war. Das helle Tageslicht schuf nun bezüglich ihres wahren Alters auf der typischen Haut einer Rothaarigen nackte Fakten; sie spannte sich über das knochige Schlüsselbein, das aus dem türkisfarbenen T-Shirt mit Rundhalsausschnitt hervorstach.
Maddalena war noch nie eine Schönheit gewesen, aber sie hatte sich eine anmutige Frische bewahrt und es machte Freude, sie anzusehen. Vielleicht würde Spotorno in dieser Nacht von ihr träumen.
— Weißt du, sagte sie plötzlich, als die Sache mit Rosario passiert ist, waren wir, Mama und ich, ganz alleine. Manlio war beruflich in Kalabrien. Er ist heute Nacht erst spät mit dem Auto zurückgekommen. Wir haben ein kleines Reisebüro. Er muss öfters weg, die Kontakte mit den Reiseveranstaltern halten, die Ferienanlagen inspizieren, in die wir die Kunden schicken. Weißt du, welche Frage sie uns heutzutage am häufigsten stellen? Ob es dort eine Möglichkeit gibt, um den Nachwuchs zu parken, damit Papi und Mami sich schön in der Sonne räkeln können, ohne dass ihnen dabei jemand auf die Nerven geht. Von Zeit zu Zeit helfe ich halbtags im Büro aus, jetzt, wo die Jungs größer und ein klein wenig selbständiger