Blaue Blumen zu Allerseelen. Santo Piazzese

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Название Blaue Blumen zu Allerseelen
Автор произведения Santo Piazzese
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558009



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zu bringen. Währenddessen verließ Puleo den Raum und kehrte einige Minuten später mit zwei kleinen Plastikbechern in der Hand zurück. Spotorno nippte an dem kochend heißen Kaffee ohne Zucker, so wie er ihn haben wollte. Puleo setzte sich ihm gegenüber und schlug die langen Beine übereinander.

      Der himmelblaue Fiat 127 gehörte Rosario Alamia. Das hatten sie umgehend bei der Kontrolle der Wagenpapiere festgestellt. Aber er war nicht der ursprüngliche Besitzer. Vorbesitzerin war Anna Manfredi, wohnhaft in Monreale, in der Piazzale dei Martiri della Resistenza Nummer 12. Zumindest war sie dort vor neun Jahren, zur Zeit der Fahrzeugzulassung gemeldet gewesen. Der Fahrzeughalterwechsel hatte vier Jahre später stattgefunden.

      Spotorno dachte, dass der Wagen gut ins Bild und zu Rosarios gesamter Erscheinung passte. Mancusos Führerschein war nach einem Antrag der Abteilung für Präventivmaßnahmen beim Landgericht auf Anordnung des Polizeipräsidenten eingezogen worden. Vielleicht war Rosario also Mancusos Chauffeur gewesen.

      Spotorno zog die Aufnahmen vom Tatort hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. Als die Schießerei losgegangen war, musste der Wagen fast gestanden haben. Die Streifenwagen hatten ihn an der Ecke zwischen Via degli Emiri und Via Damasco vorgefunden, der erste Gang war eingelegt, die Zündung eingeschaltet und der linke Blinker gesetzt.

      Rosario hatte noch nicht mit dem Abbiegemanöver begonnen. Als er getroffen wurde, war sein Fuß von der Gangschaltung gerutscht, und der Wagen hatte sich noch fast einen Meter weit in Richtung Fahrbahnmarkierung der Via degli Emiri bewegt, bevor der Motor ausging. Den Ein- und Austrittswunden an den Schläfen nach musste Rosario den Kopf nach links gedreht haben, um zu sehen, ob Fahrzeuge aus der Via degli Emiri kamen. Folglich war die Kugel, die ihn getroffen hatte, eine der ersten gewesen, andernfalls hätte er noch die Zeit gehabt, sich umzudrehen, zur entgegengesetzten Seite, aus der die Schüsse kamen. Dann hätte er das Projektil an einer frontaleren Stelle am Kopf abgekriegt.

      Die Schüsse waren alle von rechts gekommen, einige durch das Seitenfenster neben dem Beifahrersitz, andere durch die Heckscheibe, was noch deutlicher machte, dass der einzige Adressat dieses ganzen Segens Gaspare Mancuso, genannt Asparino, war.

      Die letzten Bewegungen der beiden Ermordeten zu rekonstruieren, war nicht schwierig gewesen. Auf dem Rücksitz des Wagens lag ein Plastikbeutel und darin, eingeschweißt in Zellophan, Fisch.

      In der Via Damasco, ein paar hundert Meter weiter oben, gab es einen Fischhändler. Name und Anschrift des Ladens standen in roten Buchstaben auf beiden Seiten der Plastiktüte. Der Ladenbesitzer hatte es anfangs mit ein paar Ausflüchten versucht, bis ihm Puleo den Beutel mit den Fischen und dem aufgedruckten Namen seiner Firma unter die Nase gehalten hatte. Erst dann hatte der Mann zugegeben, dass ja, vielleicht ein himmelblauer Fiat 127 vor seinem Geschäft Halt gemacht hatte und einer der beiden Insassen ausgestiegen war, um ein paar Kilo Makrelen zu kaufen.

      Fangfrisch waren die, wollte er unbedingt klarstellen. Alle wüssten, dass nirgendwo sonst so frischer Fisch zu haben war wie bei ihm, nicht einmal an den Verkaufsständen von Porticello. Ja, genau. Wenn er dem Dottore welche anbieten dürfte, es sei nämlich gerade eben eine Steige mit noch lebenden Babyfischen eingetroffen, die …

      Puleo starrte ihn an. Dann fragte er, ob der Kunde mit dem Fiat 127 öfter käme, um bei ihm Fisch zu kaufen.

      — Dottore, ich kann mir keine Gesichter merken. Und Namen genauso wenig. Meine Frau tadelt mich immer deswegen, sie behauptet, ich würde nicht einmal meine eigenen Kinder erkennen, wenn ich ihnen unterwegs begegnete. Und außerdem schau ich ja nicht auf die Gesichter der Kunden; die Fische schau ich an. Ob Fliegen auf ihnen sitzen, ob sie noch etwas frisches Eis brauchen, ob ich sie besser mit frischem Wasser bespritzen soll. Sie wissen ja, das Auge isst mit, und für bestimmte Kunden zählt mehr das Aussehen als die Substanz. Einigen Leuten genügt es, vier stinkige Ulvenfresser auf dem Vucciria-Markt zu sehen, die schön drapiert zwischen frischen Algen liegen, und schon blättern sie dafür Summen hin wie für Kabeljau. He, aber nicht bei mir! Meine Kunden würden mir solche Salpen um die Ohren hauen; ich biete ausschließlich Ware erster Wahl. Stellen Sie sich vor, bei mir kauft sogar die Küchenhilfe des Staatsanwalts ein. Fragen sie ruhig, wen immer Sie wollen: Im Haus des Staatsanwalts kommen heute Meerbarben von Angelino Rotella auf den Tisch … Sehen Sie doch selbst, wie frisch!

      Puleo hatte den Laden sehr erleichtert verlassen, denn der Fischgeruch, vermischt mit dem konkreten Bild des vielen Bluts im Innern des Fiat 127 und der noch immer sehr lebendigen Erinnerung an den Thunfisch in süßsaurer Sauce vom Vorabend, war drauf und dran in aller Öffentlichkeit Verheerendes zu bewirken. Den Anblick der fleischigen, fast scharlachroten Barben auf einem Bett aus gehacktem Eis auf der Marmortheke des Fischgeschäfts wollte er jedenfalls möglichst lange aus der Reichweite seiner Gedanken halten. Vielleicht würde er nie wieder Appetit auf Fisch verspüren, dachte er. Und dabei fühlte er, zu seinem eigenen Leidwesen, eine Mischung aus Ekel und Wehmut.

      Ein paar Stunden nach dem Überfall war die Meldung von einem brennenden Motorrad in der Gegend von Sant’Erasmo hereingekommen. Die Täter hatten es am Rand einer staubigen, kahlen Freifläche hinter halbeingestürzten und unbewohnten Häusern, wenige Meter vom Meer entfernt, zurückgelassen und in Brand gesetzt, bevor sie dann ein anderes, höchst wahrscheinlich unverdächtiges Fahrzeug bestiegen. Das war die herkömmliche Mafiapraxis, wenn es überhaupt noch weiterer Bestätigung bedurfte.

      Zeugen hatten von einem schweren Motorrad gesprochen, das wenige Minuten vor dem Überfall an der Kreuzung zwischen Via degli Emiri und Via Damasco gestanden hatte. Aber niemand hatte auf zwei unauffällig gekleidete Männer mit Motorradhelm auf dem Kopf geachtet. Die Kreuzung schien der ideale Platz für einen Überfall zu sein: Die Autos mussten hier vor dem Abbiegen stoppen, die Häuser waren dank breiter Straßen recht weit voneinander entfernt, und im Übrigen war die Sicht durch Bäume verstellt.

      Die Zeugen, ein Universitätsdozent mittleren Alters und seine Frau, hatten vom Balkon ihrer Wohnung geschaut. Sie behaupteten, vor der Schießerei wieder hineingegangen zu sein. Was hieß, sie wussten keine Einzelheiten. Die Ermittler erwarteten sich auch keine: Sie lagen ohnehin bereits über dem Durchschnitt, was die Zahl der Zeugen bei Ereignissen dieser Art anging.

      Spotorno ertappte sich dabei, wie er sich im Büro umsah, als suchte er nach etwas, das seinen Verbleib dort unumgänglich machte. Dafür gab es eine Unmenge Gründe, das wusste er nur allzu gut. Papierkram, der in Normalzeiten die Aufopferung eines Sommersonntags – in Gedanken immer bei den Kindern, die unter fortgesetztem Mangel an väterlicher Zuwendung litten – gerechtfertigt hätte, und natürlich erst recht am Tag nach einem Mafia-Doppelmord. Aber er wusste auch, dass er in Wirklichkeit nach einem Alibi suchte, um den Besuch bei Signora Rosa zu umgehen.

      Schließlich gab er sich einen Ruck. Eine halbe Stunde Trauerbesuch, dachte er, dann hätte er seine Pflicht getan.

      Er passierte wieder das Großraumbüro und warf Puleo einen Blick zu. Ohne den Doppelmord und mit einer Verlobten in der Nähe und nicht im siebenhundert Kilometer entfernten Torre del Greco wäre Puleo an einem Vormittag wie diesem sicher nicht so lange in den Büroräumen der Mordkommission geblieben, zumal es sein freier Tag war.

      Neben der Tastatur lauerte ein einschüchternder Wälzer mit dem Titel Handbuch des Konkursrechts. Der Polizeiobermeister widmete sich ihm mit Begeisterungsschwüngen, die oft ins Stocken gerieten wie ein Schwimmender inmitten eines Teppichs aus Braunalgen. Inzwischen fehlten ihm nur noch wenige Prüfungen, und zu Beginn des neuen akademischen Jahres sollte er eigentlich auch das Thema für seine Abschlussarbeit erfahren. Er wollte jedoch lieber nicht zu viel Gas geben, um seinen guten Notendurchschnitt nicht zu gefährden, den er trotz der harten, verantwortungsvollen Arbeit bei der Mordkommission hatte halten können. Zumal es ihm bisher gelungen war, seinen beruflichen Ehrgeiz nicht in Übereifer ausarten zu lassen.

      Spotorno, wie jeder tüchtige Bulle mit gesunden Prinzipien, misstraute dem Eifer; er hielt große Stücke auf den jungen Mann, den er oft mit herzlicher Ruppigkeit behandelte. Als Puleo zur Polizei kam, hatte er nur einen Mittelschulabschluss vorzuweisen. Innerhalb von drei Jahren holte er dann als Externer seine Fachhochschulreife nach. Und zu gegebener Zeit, Spotorno hatte da keine Zweifel, würde das juristische Staatsexamen folgen. Und weiß der Himmel, ob Puleo danach seine Karriere im Polizeidienst fortsetzen