Название | Blaue Blumen zu Allerseelen |
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Автор произведения | Santo Piazzese |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783949558009 |
Im Drehen noch erkannte er, dass er da nicht Diegos Leiche vor sich hatte, sondern den Körper des erwachsenen Rosario. Eine Pistolenkugel hatte seinen Kopf von einer Schläfe zur anderen durchbohrt.
Schweißgebadet erwachte Spotorno, neben ihm die friedlich schlafende Amalia.
Beim Frühstück erzählte er ihr seinen Traum, der ihm noch immer in den Knochen saß. Still hörte sie ihm bis zum Ende zu, kommentierte nur von Zeit zu Zeit mit einem Nicken. Dann wachten die Kinder auf, und alles drehte sich nur noch um sie.
Beim Rasieren dachte er an ein Buch, das Amalia ihm zu Zeiten ihrer ersten Liebesgeplänkel geschenkt hatte, es hieß: Ein Kinderspiel*. Er erinnerte sich, dass Amalia ihm ans Herz gelegt hatte, sofort mit der Lektüre zu beginnen, und dann hatten sie lange über das Buch gesprochen, das ihm ebenfalls sehr gefiel. Wenn er jetzt nicht so intensiv geträumt hätte, wer weiß, vielleicht hätte er Lust bekommen, es erneut zu lesen. Es war eine Geschichte über junge Leute, in einer Phase des Übergangs von einer schmerzdurchdrungenen Adoleszenz zum frühen Erwachsenenalter, die sich als viel zu kurz erahnen ließ.
Heute gibt es keine schmerzdurchdrungene Adoleszenz mehr, dachte er. Aber das musste nichts Schlechtes sein, wenngleich er davon nicht vollständig überzeugt war. Vielleicht hing das mit der Vokabel schmerzdurchdrungen zusammen, die ihn immer schon fasziniert hatte, ja, er hatte sie oft in den Schulaufsätzen am Gymnasium und sogar zwei Mal beim schriftlichen Abitur verwendet, und der Prüfungslehrer für Italienisch hatte das bei der Mündlichen angesprochen, weshalb er überzeugt war, die Prüfung vermasselt zu haben. Am Ende aber hatte er die beste Abschlussnote der ganzen Klasse bekommen.
Heutzutage sind die adoleszenten Wachstumsabschnitte durchgeplant, dachte er. Durchgeplant und mittelmäßig. Und da es ihm nicht an selbstkritischen Denkanstößen mangelte, konnte er nur hoffen, dass er sich selbst nicht wie ein Besessener in die Entwicklungsschübe in der zukünftigen Adoleszenz seiner Kinder einmischen würde.
Auf den letzten Seiten dieses Buchs ging es um einen Mann, der in einer Art schwimmendem Container ertrunken war: Die Monsterwellen der aus dem Hafen von Triest auslaufenden Militärkreuzer hatten ihn erfasst und versenkt.
Es gab einen französischen Regisseur, den Amalia sehr schätzte, und bei dessen Tod sie gesagt hatte, es sei wirklich schade, dass niemand ihm dieses Buch vorgeschlagen hatte, denn er und nur er hätte daraus einen großartigen Film gemacht. Eigentlich mochte Spotorno das Kino, doch, wie Amalia behauptete, war er nie über die Filme aus den späten 50er Jahren hinausgekommen. Filme mit Kratzspuren auf dem Zelluloid, wie sie im Sommer in den Freilichtkinos liefen, die in der Stadt längst ausgestorben waren.
Den Hollywoodfilmen der letzten Generationen mit ihren Spezialeffekten und der unerträglichen Geräuschkulisse konnte er nichts abgewinnen. Ihm gefielen die Filme von Totò. Und die alten amerikanischen Noirs in Schwarzweiß oder die französischen Filme mit diesem Schauspieler, wie hieß der noch mal?, der ebenfalls schon gestorben war – der Himmel weiß, wann genau. Er mochte vor allem den einen Film mit ihm, den er aufgenommen hatte und sich von Zeit zu Zeit wieder ansah, obwohl er voller Werbespots war: Der Tag bricht an.
Spotorno hatte es nie geschafft, sich an die Namen der Regisseure zu erinnern, und verwechselte die der Schauspieler, mit Ausnahme von Johnny Weissmüller, weil die Filme von Tarzan mit Abstand die ersten waren, die er als junger Bursche gesehen hatte.
Er fluchte leise. Wegen dieser für ihn so ungewöhnlichen Abschweifungen war er unkonzentriert und hatte sich mit dem Rasiermesser am Kinn geschnitten. Er war gezwungen, den blutstillenden Stift zu verwenden. Dann fiel ihm ein, dass ja Sonntag war, und er sich sonntags für gewöhnlich gar nicht rasierte.
Er verfluchte noch einmal diesen Traum, der ihn derart aus dem Konzept gebracht hatte.
* Roman von Pier Antonio Quarantotti Gambini, Turin 1947
Maddalena und der Preis von Baumwollgarn
Niemand hätte nach einem Gang durch die Büros der Mordkommission diesen Tag für einen Sonntag im Sommer gehalten. Es herrschte das gleiche Kommen und Gehen wie an jedem anderen Tag, sommers wie winters, an Wochentagen wie an Feiertagen, abgesehen von einer größeren Dichte an Drogensüchtigen unten in der Nachtaufnahme. Das Verbrechen, man weiß es ja, macht keine Ferien. Diesen Satz hatte Spotorno zum ersten Mal aus dem Mund eines Polizeipräsidenten mit tragischer Aura gehört, der überzeugt war, in seiner kleinen Abschiedsansprache vor dem Aufbruch zu ruhigeren Gestaden tiefschürfende Weisheiten zum Besten geben zu müssen.
In der großen Amtsstube hämmerte Puleo auf der Tastatur eines Computers herum, auf dessen Monitor eine Überzahl grüner, viel zu heller Buchstaben tanzten. Er begrüßte Spotorno mit dem üblichen, respektvollen Buon giorno, Dottore. Dann erhob er sich, folgte ihm in sein Büro und wies ihn, als wäre das überhaupt nötig, auf einige Papiere auf dem Schreibtisch hin. Spotorno hinterließ seinen Schreibtisch immer aufgeräumt und wäre sowieso nicht darum herumgekommen, sie zu bemerken. Es war der vorläufige Autopsiebericht.
Zwei Täter hatten geschossen. Zumindest waren zwei unterschiedliche Waffen eingesetzt worden. Bei Gaspare Mancuso, genannt Asparino, hatten sie insgesamt siebzehn Ein- und Austrittswunden gezählt. Und zwischen der Leiche, dem Innern des Fiat 127 und dem Ort der Schießerei hatten sie zwölf Projektile mit zweierlei Kaliber bergen können. Das bestätigten auch die zwölf um den Wagen herum aufgefundenen Patronenhülsen, sieben aus einer 38er und der Rest aus einer 765er.
Was Spotorno oft die Stirn runzeln ließ, waren die ganzen Details zur Todesursache, als wäre es von wer weiß welcher Bedeutung festzustellen, ob nun die Kugel, die die Leber zerfetzt hatte, schließlich zum Exitus von Mancuso geführt hat oder die, die seine Lunge durchquert, oder noch eine andere, nämlich die, die seine Aorta beschädigt hatte. Ganz zu schweigen vom Ausmaß der Zerstörung, das die Kugel, die sie ihm in die Stirn geschossen hatten, in seinem Kopf hinterlassen haben musste.
Spotorno zweifelte nicht daran, dass diese Dinge in einem schönen Verbrechen auf dem Papier, in den Fällen eines Kriminalromans, ihre Bedeutung hatten. Aber beim Großteil der Schießereien mit tödlichem Ausgang, mit denen Beamte wie er es zu tun kriegten, war es absolut eindeutig, dass jemand das Opfer mit Blei durchsiebt hatte und dass das die Todesursache war, ohne dass Einzelheiten eine Rolle spielten. Und in diesem aktuellen Fall erschien es ihm wie ein Wunder, dass Rosario von all den Kugeln, die nicht für ihn bestimmt waren, lediglich eine einzige erwischt hatte. Ein schwacher Trost, angesichts dessen, dass er sich diese an der falschen Stelle eingefangen hatte.
Bis dato war noch nicht mit Gewissheit zu sagen, ob unter den aufgefundenen Projektilen auch dasjenige war, das seinen Kopf von einer Schläfe zur anderen durchquert hatte; doch den ersten Ergebnissen zufolge war er aus einer 765er getroffen worden.
Am Samstagnachmittag hatte die Zusammenkunft mit dem Chef der Mordkommission stattgefunden.
Es war noch zu früh für Hypothesen über das Blutbad, also darüber, ob sie von einer einzelnen Gelegenheitstat, wie zum Beispiel einer Bestrafung für einen Regelverstoß, ausgehen mussten oder ob sie ein erstes Anzeichen für etwas sehr viel Größeres vor sich hatten. Die kommenden Stunden und Tage sollten die entsprechenden Antworten liefern. Entweder aufgrund eines Mangels oder eines Übermaßes an Ereignissen. In der Zwischenzeit hieß es, die Informanten auszuquetschen. Und mit der hoffnungslosen Prozedur der Zeugenaussagen und den frustrierenden Befragungen der Familienangehörigen fortzufahren.
Ausgeruht