Blaue Blumen zu Allerseelen. Santo Piazzese

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Название Blaue Blumen zu Allerseelen
Автор произведения Santo Piazzese
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558009



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ohne Grund, dass die Zukunft des jungen Mannes fast gänzlich in den unbekannten Händen der zukünftigen Signora Puleo lag.

      — Save’, warum drehst du nicht eine schöne Runde? Oder besser noch, schnapp dir die Badehose, fahr nach Mondello und geh ein paar Meter schwimmen; lass es gut sein für heute mit deinem Buch, schlepp es nicht unnötig mit dir herum. Heute Abend schaust du dir noch einen schönen Film im Arena an, und morgen fühlst du dich wie neugeboren. Wenn ich könnte, würde ich es genauso machen …

      Er ging nicht davon aus, dass Puleo seinen Rat befolgen würde. Vielmehr würde er sich in seine Miniwohnung in der Nähe vom Corso Pisani begeben, die er mit zwei Kollegen teilte, und lernen, bis ihm der Kopf rauchte.

      Draußen blieb Spotorno einen Moment lang neben seinem weißen Fiat 131 stehen, den er mühsam in Schuss hielt, unentschieden, ob er einsteigen oder zu Fuß gehen sollte. Die Sonne knallte ihm auf den Schädel, aber im Auto würde es noch schlimmer sein, denn er hatte keinen Parkplatz im Schatten gefunden. Der Anblick des üppig blühenden Parks der Villa Bonanno gab den Ausschlag. Das war seiner Meinung nach der schönste Platz der Stadt, besonders bei diesem Licht. Und wenn man bedachte, dass die Stadtplaner einmal wer weiß wie auf die Schnapsidee gekommen waren, die sehr hohen Palmen und die großen Platanen ausreißen zu wollen, um einen kahlen, einsamen Waffenplatz daraus zu machen. Dennoch beschloss er, nicht durch den Park zu gehen, sondern die schattigen Gassen vorzuziehen.

      Er passierte die Fassade mit der leeren Rosette, das einzige Überbleibsel der Kirche Sant’Annunziata dello Scutino, halbverborgen von einer jungen Großblättrigen Feige, die sich da illegal eingenistet hatte und früher oder später ihr Werk vollbringen und auch die wenigen verbliebenen Mauerreste zum Einsturz bringen würde. Weiter überquerte er die Piazza San Giovanni Decollato, ging unter dem Torbogen jenseits des Palazzo Sclafani hindurch und bog in die Via dei Biscottari ein, wo er unmittelbar das Tempo drosselte. Jetzt bewegte er sich mit der Gemächlichkeit eines Kreuzfahrtdampfers voran, die niemand aus seinem Büro bei ihm für möglich gehalten hätte. Für gewöhnlich legte Spotorno den typischen Schritt eines Bullen an den Tag, der Hindernisse nicht umgeht, sondern sie überrennt. Von Zeit zu Zeit aber gönnte er sich eine Pause. Die Sandsteinplatten, mit denen die Gassen in den Quattro Mandamenti, den vier Altstadtbezirken Palermos, gepflastert sind, schienen wie geschaffen für Entschleunigung und kontemplatives Spazieren, getragen vom Rhythmus der auf Stein schlagenden Absätze. Er schüttelte den Gedanken ab, dass diese Verlangsamung heute nichts weiter als die Verlängerung des Reflexes eines ganzen Vormittags sein könnte, nämlich den Moment des Trauerbesuchs hinauszuschieben. Nein, dachte er, es ist purer Genuss.

      Sein Weg führte ihn durch die Via Puglia und über die Piazza Santa Chiara hinweg. Die Zahl der sudanesischen, nigerianischen, ghanaischen, ivorischen, mauretanischen, senegalesischen und kapverdischen Familien in diesem Viertel wuchs beständig. Sie hatten sich vor einigen Jahren in den von Einheimischen verlassenen, heruntergekommenen Häusern niedergelassen und zahlten dafür oft Wuchermieten. Die Nordafrikaner konzentrierten sich vor allem auf die Gegend unterhalb der Via Maqueda, im Bezirk Tribunali-Castellammare. Ein Teil der Sri Lanker verteilte sich rings um den Borgo Vecchio, ein anderer Teil in der Gegend der Poliklinik oder im Umkreis der Zisa.

      Durch den weitgeöffneten Laden einer ebenerdigen Behausung fiel sein Blick auf einen Schwarzen in weißem Kaftan, der Anstalten machte, einem anderen Schwarzen, der ebenfalls in weißem Kaftan auf einem zerfledderten Barbierstuhl saß, die Haare zu schneiden.

      Dieses Bild sorgte bei ihm unerklärlicherweise für ein Gute-Laune-Kribbeln unter der Haut. Er legte einen Schritt zu. Jetzt konnte er es kaum erwarten, das zu erledigen, was er mit einem Anflug von schlechtem Gewissen innerlich zur »Angelegenheit Brancato« erklärt hatte.

      Er bog auf die Salita Raffadali ab, ging bis zur Chiesa del Gesù hinunter und weiter auf der Via del Ponticello. Die Frangipani reckten in voller Blüte und nach Licht dürstend ihre schlängelnden Zweige von den Balkonen zur Straßenmitte hin. Spotorno erhaschte eine fallende Blüte und sog ihren noch immer kräftigen Duft ein. Nur wenige Personen waren unterwegs, vorwiegend Männer, die allermeisten Schwarze.

      Vor allem deswegen bemerkte er die Frau. Sie stach ins Auge wie die weiße Flagge der Kapitulation vor dem niedergebrannten Hintergrund der gefallenen Festung. Spotorno kam der Anfang eines alten Gedichts über die Lippen:

      Hoch lebe Venedig, grausam und stolz …

      Er strengte seine grauen Zellen an, konnte aber nur noch weitere zwei Zeilen aus der Versenkung holen:

      … die Pest wütet, es mangelt an Brot,

      auf der Brücke, da weht die weiße Flagge.

      Bianca – weiß – war die Vokabel, die in einem freien Assoziationsspiel im Geiste derer aufblühen würde, die dieser Frau begegneten. Sie hatte den weißesten Teint, der Spotorno jemals begegnet war. Zu diesem Weiß hatte sich noch eine zusätzliche Blässe gesellt, möglicherweise das Ergebnis einer heftigen Emotion, die die Frau nur mühsam zu beherrschen schien. Ihre Augen waren so gerötet, als hätte sie gerade sämtliche, ihr zur Verfügung stehenden Tränen geweint.

      Spotorno hatte das deshalb feststellen können, weil die Frau aus einem der Häuser in der Via del Ponticello heraus direkt auf ihn zu kam und sich ihre Wege kreuzten, bevor sie in einen nachtblauen Lancia Y10 einstieg. Aus der Nähe und dank des pechschwarzen glatten und bis auf die Schulter reichenden Haars und ihrer eher schlichten Kleidung leuchtete das reine Weiß noch mehr. Sie war gewiss keine Schönheit. Ihre Figur war etwas eckig, als wäre sie bereits mehrfache Mutter, und ihre Gesichtszüge hätten bei einem oberflächlichen Blick als nichtssagend gelten können. Amalia wiederum hätte sie ganz sicher als interessant bezeichnet.

      Die Frau fuhr los und hinterließ bei Spotorno das Echo einer verhaltenen und doch unbefriedigten Neugier. Er schätzte sie auf etwa fünfunddreißig. Für ihn war es fast wie ein Reflex: Sämtliche Anomalien wurden in seinem Polizistenhirn sofort klassifiziert und archiviert.

      Nach der Via Maqueda bog er in die Via Calderai ab, die wie verwaist war – ein völlig ungewohnter Anblick. Die Handwerkerläden waren alle geschlossen, bis auf einen, der Särge verkaufte. Im Vorbeigehen nahm er im Innern etwa ein Dutzend Särge von unterschiedlicher Machart und Größe wahr, die da nebeneinander aufgereiht und übereinander gestapelt standen. Zwei Exemplare waren sogar vor der Ladentür ausgestellt, direkt auf dem Asphalt, der als Resultat einer missverstandenen Modernisierung den alten Straßenbelag überdeckte.

      Zu Zeiten des Gymnasiums hatte er sich ausgiebig philosophischen Spekulationen hingegeben und war seither dauerhaft immun gegenüber missbräuchlich eingesetzten allegorischen Konstrukten, für die die Intellektuellen von seiner Insel ein solches Faible zu haben schienen. Also ging er bedenkenlos weiter und beschränkte sich auf ein paar verhaltene Beschwörungen, letzte Reste einer glühenden, jugendlichen Bewunderung für Benedetto Croce. Der Philosoph hatte behauptet, er glaube nicht an den bösen Blick … aber man könne ja nie wissen.

      Signora Rosa Brancato Alamia hatte Wohnung und Geschäft in der Via Zara. Es war ein unauffälliges Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert, mit schönen hohen Räumen. Seit Spotorno die Familie Brancato Alamia kannte, wohnte sie hier, mit Ausnahme der Sommermonate; dann mieteten sie sich ein Haus in den alten Fischerorten an der Ostküste. Vororte, die der Vergangenheit angehörten, vereinnahmt von der Stadt im Expansionsrausch und mit einer Küste, die seit Jahrzehnten nur noch eine riesige plattgewalzte Erdfläche war, die auf bessere Zeiten hoffte.

      In einem dieser Ferienmonate hatte Vittorio die Geschwister Rosario und Maddalena sowie ihre Eltern kennengelernt. Als Maddalena später dann erkrankte und der Arzt ihr einen ausgedehnten Aufenthalt in Meeresnähe verordnete, waren die Brancato Alamia für ein paar Jahre in eine kleine Villa an der Küste umgezogen. Und Rosario war Vittorios Banknachbar geworden.

      Die Familie Spotorno hatte, abgesehen von der kurzen Unterbrechung in Norditalien, während Vittorios Kindheit immer in einem dieser Vororte gewohnt. Dann waren sie in die Stadt, in das Haus in der Via Venezia umgezogen.

      Das Portal des Hauses der Brancato Alamia stand sperrangelweit offen, und Spotorno bemerkte beim Eintreten sofort das mit einem schwarzen Tuch bedeckte Tischchen samt des darauf aufgeschlagenen