Das historische Dilemma der CVP. Urs Altermatt

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Название Das historische Dilemma der CVP
Автор произведения Urs Altermatt
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198641



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Katholiken. 1991 gingen erstmals junge Katholiken zur Wahl, die in urbanen Agglomerationen lebten und in ihren Familien und Schulen wenig oder nichts mehr von der früheren katholischen Lebenswelt und ihren Werten erfahren hatten. Weder in der Familie noch in den Vereinen und schon gar nicht in der Schule lernten sie kennen, was früher mit dem Begriff «katholische Weltanschauung» bezeichnet worden war; und zur Kirche gingen sie nach der Schulzeit mehrheitlich kaum noch. Diese jungen Menschen beurteilten die Parteien nach anderen Kriterien als ihre Väter und Mütter – mehr utilitaristisch als wertorientiert, mehr situativ als traditionell. Mit anderen Worten kann man in der Generationenfolge einen wichtigen Faktor des Niedergangs der CVP sehen. Der CVP sterben ihre Wähler aus, und es stossen nicht genügend neue dazu.27

      Die CVP entkonfessionalisierte sich, doch – und das ist das Dilemma der Partei – die öffentliche Wahrnehmung nahm diese Wandlungen nicht zur Kenntnis. Im kollektiven Gedächtnis blieb die CVP eine Katholikenpartei, obwohl sich die Partei selbst säkularisiert hatte und kulturkämpferische Ressentiments hüben und drüben im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nach aussen praktisch verschwanden. Mentalitätsstrukturen verändern sich äusserst langsam. Deshalb gelang es der Partei nicht, im evangelischen Volksteil wirklich Fuss zu fassen. Darin besteht eines der historischen Dilemmata. Mit den Statuten- und Programmreformen von 1970/71 öffnete sich die CVP konfessionell, doch die in jahrhundertealten konfessionellen Klischees blockierte Gesellschaft stellt die CVP nach wie vor in die katholische Ecke.

      Gemäss der Wahlstudie des Bundesamts für Statistik zu den Nationalratswahlen 2011 wählten 25 Prozent der katholischen Wähler die CVP. Verglichen mit dem gesamthaften Wähleranteil der CVP von 12,3 Prozent stimmten immer noch überproportional viele Katholiken christlichdemokratisch. Bei den Reformierten erreichte die CVP 4 Prozent der Stimmen, bei der Kategorie «Andere» 7 Prozent. Weitere 3 Prozent fallen auf die Gruppe mit dem Vermerk «konfessionslos». Das Wählerprofil der CVP bleibt katholisch.28

      In der politischen Landschaft der Schweiz behielt die Partei auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Image einer Katholikenpartei. Allerdings – und das ist die Kehrseite – verabschieden sich zunehmend katholische Stammwähler von der CVP, werden Wechselwähler oder wählen andere Parteien – gut ein Viertel der Katholiken SVP. Bei den Nationalratswahlen von 2011 gaben laut der BfS-Studie 26 Prozent der wählenden Katholiken ihre Stimme der SVP, 15 Prozent der FDP und 16 Prozent der SP.

      Der schleichende Exodus der Konservativen

      Die konservative Wende erfasste seit den 1990er-Jahren auch die Schweiz, obwohl dies zahlreiche Politbeobachter damals kaum bemerkten und unter dem Stichwort Populismus einordneten. Da sich die CVP in den «langen 60er-Jahren» (1958–1974) leicht nach links bewegte und sich von ihrer «konservativen» Vergangenheit bei den Parteireformen von 1970 distanzierte, öffnete sich ein neues Dilemma: Die bisherigen konservativ eingestellten Wählerschichten in den Stammlandkantonen entfremdeten sich von der Partei. Von der CVP begannen sich Katholikenkreise abzuwenden, die von der Partei eine dezidierte Ausrichtung im Sinn der christlich-konservativen Morallehre erwarteten. Ende 1994 gründeten katholische Integralisten mit der «Christlich-Konservativen Volkspartei der Schweiz», die sich später – typischerweise – in «Katholische Volkspartei» umbenannte, eine neue katholisch-konservative Partei, die eine bedeutungslose Splitterpartei verblieb, jedoch ein Symptom für die Krise der CVP darstellte.29

      In den 1990er-Jahren wanderten konservative Wähler zur SVP. Der national-konservativen SVP gelang es, wert- und strukturkonservative Segmente der katholischen Bevölkerung anzusprechen und der CVP zu entziehen. In den katholischen Stammlandkantonen gewann die SVP Stimmen bei «katholikalen» und rechtskonservativen Gruppen.

      Es wäre daher falsch, die Krise der CVP nur mit der Säkularisierung des Katholizismus und der Lockerung der Parteibindungen im katholischen Milieu in Zusammenhang zu bringen. Viel stärker, als man annimmt, haben die Wählerverluste der christlichdemokratischen Partei mit tief gehenden Umgruppierungen in der Parteienlandschaft zu tun.

      Mitte der 70er-Jahre gingen die Boomjahre der Nachkriegswirtschaft zu Ende, sodass es zu politischen Verteilkämpfen kam. Als Zentrumspartei hatte die CVP Schwierigkeiten, sich im polarisierten Umfeld thematisch zu profilieren. Die Mitteposition, die in den Jahren des Wirtschaftswunders attraktiv gewesen war und der Partei einen Spielraum für Allianzen nach rechts und nach links geboten hatte, entpuppte sich nun als Nachteil, weil das Parteiprofil undeutlich wurde.30

      Um das Dilemma der CVP besser zu verstehen, ist ein Blick in die Parteigeschichte notwendig. In der Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 verortete sich die «Konservative Volkspartei» als Säule des «Bürgerblocks» im rechten Bereich des nationalen Parteienspektrums und steuerte einen pointiert antisozialistischen Kurs, auch wenn ihr aufstrebender christlichsozialer Flügel gelegentlich einen Mittelinks-Kurs einschlug. Nach 1945 bewegte sich die Partei nach dem Vorbild ihrer westeuropäischen Schwesterparteien langsam in die Mitte. 1970 positionierte sich die CVP als gemässigt reformerische Kraft im bürgerlichen Lager und wurde mit dem Slogan «dynamische Mitte» in der öffentlichen Meinung wahrgenommen.31

      Mit dem demonstrativen Abschied vom konservativen Erbe 1970/71 gaben die Christlichdemokraten ein Terrain frei, das sie vom 19. Jahrhundert bis in die 1950er-Jahre unangefochten – zusammen mit der bernisch geprägten Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei – besetzt gehalten hatten.32 Die durch die moderne Zeit verunsicherten konservativen Bevölkerungsgruppen, die in Volksabstimmungen über die Migrations- und Asyl- sowie über die Europa- und Aussenpolitik wiederholt Achtungserfolge errangen, irrten zunächst desorganisiert als Protestler gegen den modernen Zeitgeist umher, denn die rechtspopulistischen und ausländerfeindlichen Ein-Themen-Parteien von James Schwarzenbach und Valentin Oehen boten den Katholisch-Konservativen keine dauerhafte politische Heimat. Immer noch geprägt von einem christlichen Humanismus, wollten sie eigentlich keine Rassisten sein und hatten daher moralische Hemmungen, in diese rechtsradikalen Parteien einzutreten, selbst dann, wenn sie gelegentlich in Volksabstimmungen mit diesen stimmten.

      In den 90er-Jahren fanden diese heimatlosen Konservativen einen Parteiführer, dem sie auf dessen national-konservativen Pfaden folgen und damit ihrer Opposition gegen die Modernisierung und die «classe politique» Ausdruck verleihen konnten.33 Der Unternehmer und evangelische Pfarrerssohn Christoph Blocher wandelte die Zürcher und später die gesamtschweizerische SVP in eine national-konservative Partei um, die Fremdenfeindlichkeit mit Fragen der nationalen Identität verband.

      Als entscheidendes Element kam hinzu, dass Teile der christlichdemokratischen Basis dem europafreundlichen Kurs der CVP in den 90er-Jahren nicht folgten und in der EWR-Abstimmung vom 6. Dezember 1992 Blochers Parole übernahmen. Da die neue SVP ohne Scheu populistische Mittel gegen die «classe politique» anwandte und enorme Finanzmittel zur Verfügung hatte, verstärkte sich ihre Wirkung als Protestpartei. Als Retterin einer unabhängigen Schweiz wuchs die SVP rasch über ihre bisherigen Hochburgen in der ursprünglich protestantisch geprägten deutschen Schweiz hinaus und konnte in katholischen Regionen Fuss fassen, wo sie bisher erfolglos gewesen war. Die Erosion der CVP hängt – und dies ist ein wesentliches Element – mit der Geschichte des politischen Konservativismus zusammen, der sich unter der Fahne der SVP neu sammelte. In einem gewissen Sinn gelang der SVP, was die Konservativen schon im 19. Jahrhundert erfolglos angestrebt hatten: die Gründung einer überkonfessionellen konservativen Partei. Darin liegt das strukturell Neue des Parteiensystems, das in der Regel zu wenig Beachtung findet.

      Wie überall in Europa zersplitterte sich die Mitte. Mit der neu gegründeten BDP, die eine Restpartei der alten BGB darstellt, erhielten die CVP – wie auch die FDP – 2011 eine Konkurrentin, was in der politischen Mitte zu einer komplizierten Gemengelage führt, zumal auch die Grünliberalen dort ihre Wähler abholen.

      Verlust des Vermittlermonopols

      Seit 1970 positioniert sich die CVP im Zentrum des politischen Parteienspektrums, in der Ära der Zauberformel-Regierung von 1959 bis 2003 besass sie eine zentrale Ausgleichsfunktion. Da die Ausgleichspolitik zur Identität der CVP gehört, ist ihr Politikstil bereits seit 1900 auf Kompromiss und nicht auf Konfrontation ausgerichtet. Mit