Das historische Dilemma der CVP. Urs Altermatt

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Название Das historische Dilemma der CVP
Автор произведения Urs Altermatt
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198641



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und 2011 in St. Gallen. Ausserhalb der Sonderbundskantone errang die Partei 2011 nur noch in folgenden Kantonen Ständeratssitze: Appenzell Innerhoden, Graubünden, Jura, Solothurn, Thurgau und Tessin. Seit den 1970er-Jahren ist der Abwärtstrend auch in der Kleinen Kammer eindeutig, auch wenn die CVP derzeit immer noch die stärkste Gruppe stellt.

      Verschwinden der katholischen Meinungspresse

      Wie lässt sich das Schrumpfen der Wählerbasis der CVP um über einen Drittel im Zeitraum von 1983 bis 2011 erklären? Diese Frage versuche ich mit einigen Thesen zu beantworten, die sich zum Teil an die Wahlstudien des Bundesamts für Statistik (BFS), der Swiss Electoral Studies (Selects-FORS), des GfS-Forschungsinstituts und anderer anlehnen und diese mit Bezug auf die CVP ergänzen.17

      Zunächst ist festzuhalten, dass politische Ereignisse die Wahlen beeinflussen, die von der Wahlforschung zuweilen erst im Nachhinein gewürdigt werden. Die berühmte Abstimmung von 1992 über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) war eine solche Zäsur, die dem Aufstieg der SVP das entscheidende Momentum gab. Die superpatriotischen Europa-Skeptiker liefen der CVP scharenweise davon. Der populistische Protest der SVP gegen das Berner Politestablishment sprach vielen Unzufriedenen in den alpinen und ländlichen Randgebieten aus der Seele. 1992 war das politische «Marignano» der CVP, die in der Europafrage zwischen Progressiven und Konservativen tief gespalten war. Im Wahlkampf von 1995 ging die bisher einigermassen funktionierende bürgerliche Allianz zwischen FDP, CVP und SVP in die Brüche.18

      Ein zweites Argument: Der steigende Wohlstand der Konsum- und Freizeitgesellschaft, der seit den 50er-Jahren unaufhaltsam voranschritt, erhöhte nicht nur die soziale, sondern auch die geistige Mobilität der Schweizerinnen und Schweizer, die unter dem Einfluss von Radio und Fernsehen und von Forumszeitungen ihre Denk- und Lebensweisen einander anpassten. Als Folge lösten sich die traditionellen Parteibindungen auf. Das Prinzip der Konsumgesellschaft hielt auch in der Politik Einzug. Die Parteien wurden zu Warenhäusern, in denen man sich nach Gutdünken bediente. Als Konsequenz wurden die Wähler und Wählerinnen beweglicher, mobiler und stimmungsabhängiger; sie wurden zu Wechselwählern. Wie Mark Ruff auch für Westdeutschland festgestellt hat, entstand nach 1945 so etwas wie eine einheitliche nationale Kultur, in der sich die regionalen, konfessionellen und klassenmässigen Fragmentationen der Vorkriegszeit auflösten.19

      In der Schweiz äusserte sich die ideologische Nivellierung in einer fortschreitenden Entkonfessionalisierung des Alltags, was zunächst kaum bemerkt wurde. Eine zentrale Rolle spielten die elektronischen Medien wie Radio und Fernsehen und die Boulevardpresse, die mit dem «Blick» 1959 in der Schweiz Einzug hielt.20 Säkulare Ideen über Demokratie und Religionsfreiheit und über das Verhältnis der Geschlechter stiessen in den Binnenraum des katholischen Kirchenvolkes vor. Die Katholiken übernahmen die Wertvorstellungen ihrer Umwelt, die sich mit den Verlautbarungen der Kirche nicht deckten. Wie in Deutschland versuchten die Katholiken in der Schweiz mit einer Kombination von wirtschaftlichem Modernismus und kulturellem Konservativismus das Überleben ihres Sozialmilieus zu retten, was indessen fehlschlug. Damit verlor der Katholizismus als Weltanschauung seine Homogenität und seine bisherige Abwehrstellung gegen die Moderne. In einem gewissen Sinn bedeutete die kulturelle Anpassung an die dominante Leitkultur eine «Protestantisierung» des schweizerischen Katholizismus.21

      Dieser Prozess lässt sich gut an der Entwicklung des katholischen Pressewesens illustrieren, das im 19. Jahrhundert in der ganzen Schweiz aufgebaut worden war und ein breites Netz von lokalen Zeitungen als Unterstützung der katholischen Sondergesellschaft herausgebracht hatte.22 Von dem Konzentrationsprozess in der Schweizer Presse, der Ende der 1960er-Jahre einsetzte, waren neben den sozialdemokratischen die katholisch ausgerichteten Zeitungen besonders stark betroffen, denn sie vermochten ihren steigenden Kapitalbedarf nicht mehr zu decken und litten darunter, dass sie von Grossinserenten zunehmend übergangen wurden. Rund um das Luzerner «Vaterland», das führende Blatt der CVP-nahen Zeitungen in der deutschen Schweiz, entstand im Verlauf der 1970er- und 80er-Jahre ein Kopfblattsystem, das sich auf seinem Höhepunkt vom Wallis bis in die Ostschweiz erstreckte.

      Neben diesen strukturellen Veränderungen im Zuge der Pressekonzentration sah sich die katholische Presse in ihrem Selbstverständnis herausgefordert. Carl Mugglin meinte 1973 rückblickend auf seine «Vaterland»-Redaktionstätigkeit in den Jahren 1953–1963: «Damals war alles noch schön eingeteilt: Auf der einen Seite die Kirche, auf der anderen Seite die Partei.»23 Die junge Journalistengeneration stellte dieses Denken in Frage. 1964 wurde das Seminar für Journalismus an der Universität Freiburg gegründet. Die Arbeitsgemeinschaft der katholischen Presse führte bis 1970 jährlich Fortbildungskurse durch.

      All diese Kooperationsinitiativen vermochten jedoch laut David Luginbühl nicht zu verhindern, dass die partei- und konfessionsorientierten Tageszeitungen verschwanden, indem sie mit regionalen Rivalen fusionierten wie 1991 das «Vaterland» in Luzern oder eingestellt wurden wie 1997 die «Ostschweiz» in St. Gallen. In der Westschweiz konnte sich die Freiburger «La Liberté» halten, öffnete sich aber politisch zur Forumszeitung.

      Das Ende der katholischen Presse bedeutete einen nachhaltigen Einschnitt. Der CVP fehlten fortan Presseorgane, die sich in der Vielfalt der Presse durchzusetzen vermochten und als Meinungsmacher auch zur Stabilisierung des eigenen Lagers dienten.

      Endgültiges Ende des Kulturkampfes

      Für die CVP war wegweisend, dass in den 1960er- und 70er-Jahren der Kulturkampf des 19. Jahrhunderts endgültig zu Ende ging. 1963 stellte man im Kanton Zürich die katholische der evangelisch-reformierten Landeskirche gleich. 1973 wurden in einer hitzigen nationalen Volksabstimmung die konfessionellen Ausnahmeartikel, die die Jesuiten diskriminiert und die Errichtung von Klöstern erschwert hatten, aus der Bundesverfassung gestrichen.24 1999 wurde das Wahlverbot für Geistliche und 2001 schliesslich der sogenannte Bistumsartikel aufgehoben. Damit fielen die letzten klassischen Postulate des politischen Katholizismus weg, die der Katholikenpartei ein Jahrhundert lang die Raison d’être gegeben hatten.

      Fast ein Jahrhundert hatten die kirchentreuen Katholiken für die Abschaffung der gegen die katholische Kirche gerichteten Ausnahmebestimmungen gekämpft. Die heute übliche Sicht der säkularisierten Gesellschaft unterschätzt dieses Postulat als Petitesse und übersieht die jahrzehntelange emotionale Mobilisationswirkung, die diese konfessionellen Diskriminierungen ausgeübt hatten. Die Volksabstimmung von 1973 förderte im Übrigen überraschende Resultate zu Tage, die auf das unterschwellige Fortwirken konfessioneller Ressentiments hindeuteten. So lehnten sechs Kantone die Aufhebung der Ausnahmeartikel ab, nämlich Zürich, Waadt, Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden, Neuenburg und Bern. Gesamtschweizerisch lautete das Resultat 54,9 Prozent Ja- und 45,1 Prozent Nein-Stimmen.

      Auflösung des katholischen Sozialmilieus

      Die Modernisierung nach dem Zweiten Weltkrieg beendete die klassische Epoche des Milieukatholizismus, der in der Schweiz wie in anderen Ländern Westeuropas von 1850 bis 1950 die Mentalität und Kultur der Mehrheit der Katholiken geprägt hatte. Nach Mitte der 1960er-Jahre wurden die traditionellen Sozialmilieus, nicht nur das katholische, durchlässiger; die soziokulturellen Abgrenzungen lösten sich auf.25

      Dank der religiösen Bindung der kirchentreuen Katholiken wies die CVP über Jahrzehnte hinweg eine stabile Stammwählerschaft auf, die der Partei auch dann noch die Stange hielt, als die katholische Kirche im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils Krisen durchmachte. So blieben Katholiken, die sich der Kirche entfremdet hatten, oft noch treue Katholiken im wahlsoziologischen Sinn und wählten christlichdemokratisch, wodurch die CVP bis gegen Ende der 1980er-Jahre ihren Wähleranteil bei 20 Prozent zu halten vermochte. Der eigentliche Einbruch erfolgte erst am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts.26

      Mit der Verzögerung von einer Generation wirkte sich die gesellschaftliche Säkularisierung auf die Wahlresultate der CVP aus. Während ein Teil der älteren Generation in den 80er-Jahren der Partei noch die Treue hielt, nahm die CVP-Sympathie unter den jüngeren Schweizerinnen und Schweizern stark ab.

      Diese