Das historische Dilemma der CVP. Urs Altermatt

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Название Das historische Dilemma der CVP
Автор произведения Urs Altermatt
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198641



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in eine Zunahme der Wählerstimmen umzufunktionieren. Die CVP bleibt die klassische Koalitionspartnerin für andere Parteien, verliert aber dadurch an Profil.34

      In den Wahlen von 2011 verstärkte sich die Fragmentierung des Parteiensystems. Im Nachhinein bilden die Jahre von 1995 bis 2011 eine «Sattelzeit», in der eine neue Parteienarchitektur entstand. Das mit der ersten Proporzwahl 1919 beginnende 20. Jahrhundert ging 1999 zu Ende. Im Zusammenhang mit der CVP ist bedeutungsvoll, dass sich 2011 eine «neue Mitte» mit der CVP (und der EVP) als Absteiger und der BDP und GLP als Aufsteiger etablierte.

      Die von den Christlichdemokraten im Nationalrat initiierte Fraktionsgemeinschaft CVP/EVP/GLP/BDP war insgesamt erfolgreich, zahlte sich aber für die CVP nicht aus. Im Gegenteil: Mit den «neuen» Mitteparteien, die sich bisher im programmatischen Profil wenig voneinander unterschieden, erwuchsen der CVP Konkurrenten, die sich alle auf irgendeine Weise als «Mediatoren» im Konkurrenzkampf der Parteilager anbieten.35 Im Kräfteparallelogramm der Parteien erhielt die CVP Konkurrenz. Als klassische Mittepartei zog sie keinen Gewinn aus der Polarisierung, von der seit den 1990er-Jahren die Polparteien SVP und SP profitierten.

      Ebenso negativ wirkte sich der neue Trend zur Mitte aus. Je länger desto mehr hängt die Zukunft der CVP davon ab, ob es der Partei gelingt, ihre politische Kernkompetenz, die «Nachfrage nach politischer Mediation»36 für die Wähler als Anziehungsfaktor herauszustreichen. In der Vergangenheit politisierte sie erfolgreich als Vermittlerin in der Sozialpolitik. Nun stellt sich die Frage, ob sie ihre Kompromissqualitäten auch bei den neuen Themen – Umweltschutz, Migration, Europa – anwenden kann. Der Atomausstieg, die sogenannte Energiewende, erfordert von den Parteien die Bereitschaft zum Kompromiss zwischen Wirtschaft und Umweltschutz. Mit Bundesrätin Doris Leuthard als Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation besetzt die CVP in der Landesregierung eine Schlüsselposition. Laut Claude Longchamp besteht die Gefahr, dass die GLP den Christlichdemokraten in den urbanen Ballungsgebieten von Zürich, Bern, Basel und Lausanne und die BDP auf dem Land die Wählerinnen und Wähler der jüngeren Generation und der neuen Mittelschicht entzieht.37

      Auf mittlere Sicht gesehen muss sich die politische Mitte neu definieren und konstruieren, denn das Wählerreservoir reicht nicht für vier Parteien. Diese Regruppierung wird schlussendlich – so meine Einschätzung – nur über Fusionen oder Zusammenbrüche (siehe Landesring der Unabhängigen) laufen. Mit ihrer protestantisch geprägten Wählerschaft wäre die reformiert-konservative BDP für die CVP eine ideale Partnerin, zumal beide Parteien eine ländlich-kleinstädtische Verankerung aufweisen und sich konfessionell ergänzen.

      Nur dreizehn Jahre, von 1957 bis 1970, führte die CVP einen Namen, der eigentlich auf treffende Weise die soziale Identität der Partei umschrieb, wenn man die Partei nicht – fälschlicherweise – auf das Schlagwort «Katholikenpartei» reduzieren will: «Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei».

      Durch das ganze 20. Jahrhundert charakterisierte der innerparteiliche Antagonismus zwischen dem konservativen und dem christlichsozialen Flügel die Parteigeschichte. Die Begriffe «konservativ» und «christlichsozial», die übrigens auch die CSU Bayerns für sich in Anspruch nimmt, gehen in ihren Ursprüngen auf die Sozialgeschichte des Schweizer Katholizismus zurück. Dahinter verbergen sich zwei Schwerpunktspole, die die Partei noch im 21. Jahrhundert in sich trägt. Auf dieses Faktum spielte der Zuger Nationalrat Gerhard Pfister wahrscheinlich an, als er in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» 2012 erklärte: «Im Moment haben wir den Status einer Sonderbundpartei, das müssen wir ändern.»1

      In der Tat: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren in der Volkspartei Interessenkonflikte zwischen den Katholiken in den «Stammlanden» und in der «Diaspora» prägende Faktoren. Hat der Politgeograf Michael Hermann Recht, wenn er in einer Zeitungsanalyse die CVP als «eine Partei aus Flügeln, jedoch ohne Rumpf» bezeichnet hat?2

      Konfession als Bindemittel zweier Welten

      Die Verfassung von 1848 brachte die Niederlassungs- und Religionsfreiheit für die Christen aller Bekenntnisse, für die Juden erst 1866 beziehungsweise 1874.3 Dank der rasanten Industrialisierung führte die Personenfreizügigkeit zu einer fortschreitenden Binnenwanderung. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebten mehr Katholiken ausserhalb der früheren Sonderbundskantone Luzern, Freiburg, Wallis, Uri, Ob- und Nidwalden, Schwyz und Zug.

      Die Kulturkämpfe der 1840er-Jahre bewirkten eine Verkonfessionalisierung der Politik, was zur Folge hatte, dass sich die kirchentreuen und politisch aktiven Katholiken der gesamten Schweiz zusammenschlossen. Während die altkonservativen Eliten der Sonderbundskantone die Stärkung der Stammland-Bollwerke als oberstes Ziel verfolgten, nutzte die junge Schule des «Studentenvereins», der als einziger Verein die Sonderbundskatastrophe von 1847 überlebt hatte, die liberal-demokratischen Freiheitsrechte, um das weitgehend zerstörte Vereins- und Zeitungswesen wieder aufzubauen.

      Aus diesen sozialen und politischen Entwicklungen entstanden zwei Katholizismen, die bis zum Ersten Weltkrieg die katholisch-konservative Politik prägten: der Stammland- und der Diasporakatholizismus. Nach ihrer Niederlage mussten sich die Eliten der Sonderbundskantone den politischen Realitäten anpassen. Der Luzerner Politiker Philipp Anton von Segesser und die Urschweizer Landammänner waren der Meinung, die katholisch-konservative Politik erlange nur dann gestaltende Kraft im Bundesstaat, wenn katholische Kantonalstaaten als modernisiertes «corpus catholicum» mit ihrem Gewicht die schweizerische Politik mitbestimmten. Daraus folgerten sie einerseits eine klare Opposition zum freisinnig dominierten Bundesstaat und andererseits die politische Rückeroberung der katholischen Sonderbundskantone, die sie «Stammlande» nannten.4

      Hinter dem Begriff «Stammlande» verbarg sich die politische Strategie der im Bürgerkrieg geschlagenen und von den Posten des Bundesstaats weitgehend ausgeschlossenen Sonderbündler, ihre regionale Identität im Bundesstaat zu erhalten. In der national-liberalen Geschichtsschreibung wurde dieses Stammland-Konzept zu lang als hinterwäldlerischer und rückwärtsgewandter Hyperföderalismus gedeutet.

      Als Diasporakatholizismus bezeichnete man die Glaubens- und Lebenswelt der Katholiken ausserhalb der Stammlande. Wie der Kirchenhistoriker Franz Xaver Bischof schreibt, nimmt der aus dem Griechischen stammende Begriff «Diaspora» auf die zahlenmässigen Konfessionsverhältnisse Bezug und steht für «jede unter einer andersgläubigen Mehrheit lebende religiöse Minderheit».5 In der Terminologie der katholisch-konservativen Eliten bezog sich allerdings Diaspora nicht in erster Linie auf die zahlenmässige Stärke des katholischen Volksteils, sondern auf die Stellung des parteipolitischen Katholizismus in den Kantonen. Wichtiger als die konfessionelle Minderheitensituation war die Tatsache, dass die Katholisch-Konservativen ausserhalb der Stammlande in keinem Kanton eine stabile Regierungsmehrheit besassen und als Minderheitspartei Oppositionspolitik betreiben mussten.

      Neben den klassischen Diasporakatholizismen in den ursprünglich protestantischen Kantonen Zürich, Bern (mit dem 1815 dazu gekommenen katholischen Nordjura und dem Laufental), Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden, Waadt, Neuenburg und Genf (mit den 1815 zugeteilten katholischen Gemeinden) zählten auch die Katholizismen der konfessionell gemischten (d. h. paritätischen) Kantone Glarus, Graubünden, Aargau, Thurgau und St. Gallen sowie die ursprünglich katholischen Nicht-Sonderbundskantone Tessin und Solothurn (mit dem reformierten Bucheggberg) dazu. Je nach ihrer zahlenmässigen Stärke waren hier die Katholisch-Konservativen als Minderheit in der Regierung vertreten oder standen völlig ausserhalb der kantonalen Regierung.

      Mit der Industrialisierungswelle am Ende des 19. Jahrhunderts wanderten Innerschweizer, Freiburger und Walliser als erste Migranten in die industrialisierten Zentren des Mittellandes aus. Sie waren für die protestantischen Einheimischen «Fremde», was in der Geschichtsschreibung lange übersehen worden ist. Die dem politischen Katholizismus verbundenen Einwanderer bauten in der Diaspora katholische Vereine und Parteien auf, die einen sozialreformerischen, das heisst christlichsozialen Kurs einschlugen. Im Unterschied dazu konnten sich die Parteien in den Stammlanden