Das historische Dilemma der CVP. Urs Altermatt

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Название Das historische Dilemma der CVP
Автор произведения Urs Altermatt
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198641



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und grüne Kleinparteien dazu, wobei die Grünen den nachhaltigsten Erfolg erzielten.11

      Diese Oppositions- und Protestbewegungen von rechts und von links führten zum Schrumpfen der vier Traditionsparteien. Der Rückgang der Christlichdemokraten bewegte sich bis Ende der 80er-Jahre parallel zu den Verlusten der vier Regierungsparteien. Wer der CVP damals einen Niedergang voraussagte, wurde nicht ernst genommen.

      Neue Parteienlandschaft seit den neunziger Jahren

      Seit den 1990er-Jahren veränderte sich die Parteienlandschaft fundamental.12 Ausgangspunkt war der aussergewöhnliche Aufstieg der SVP, die sich unter der Führung des Zürcher Nationalrats Christoph Blocher zu einer national-konservativen Partei wandelte. Die SVP vermochte ihren jahrzehntelangen Stimmenanteil von rund 11 Prozent von 1991 bis zu den Nationalratswahlen 2007 auf 28,9 Prozent zu steigern. Erst 2011 kam dieser Aufstieg – vorläufig? – zum Stillstand und führte zu leichten Verlusten. Dies machte die SVP innerhalb weniger Jahre zur grössten Partei der Schweiz. Als Folge dieser Entwicklung polarisierte sich die Parteienlandschaft. Es entstand in den Worten des Politologen Claude Longchamp ein «tripolares» Parteigefüge.

      In einer gegenläufigen Bewegung zur SVP verloren zwischen 1995 und 2011 vor allem die «bürgerlichen» Traditionsparteien FDP und CVP dramatisch Wähler. Bei den Wahlen 2003 sank die CVP auf das historische Tief von 14,4 Prozent. Ein solches verzeichnete auch die FDP, die auf 17,3 Prozent einbrach. 2007 vermochte sich die CVP bei 14,5 Prozent zu stabilisieren, während die FDP mit 15,8 Prozent erneut verlor. 2011 war es umgekehrt: Die CVP büsste erneut ein und landete bei 12,3 Prozent.

      Die Analyse des Bundesamts für Statistik unter der Leitung von Werner Seitz zeigt auf, dass CVP und FDP von 1979 bis 2011 um die 9 Prozent einbüssten.13 Aus den Wahlen von 2011 gingen die Parteien der sogenannten «neuen Mitte» als relative Wahlsieger hervor: Die Grünliberalen (GLP) steigerten sich auf 5,4 Prozent, und die 2008 aus der Abspaltung von der SVP hervorgegangene «Bürgerlich-Demokratische Partei» (BDP) erreichte auf einen Schlag 5,4 Prozent. 2007 und 2011 musste auch die SP ein Wahlresultat unter der 20-Prozent-Marke verzeichnen. In der längeren Perspektive befanden sich die Grünen im Aufwind, die 2007 auf 9,6 Prozente zulegten, dieses Resultat jedoch 2011 mit 8,4 Prozent nicht zu halten vermochten. In den Wahlen von 2011 kam – wie Claude Longchamp und sein Team festhalten – der Polarisierungszyklus, der mit der EWR-Abstimmung 1992 begann, zum Ende.14 Das Drei-Pole-Parteiensystem mit flexiblen Koalitionen blieb bestehen.

      Einbrüche

      Wie Werner Seitz und Madeleine Schneider in ihrer Wahlanalyse feststellen, veränderte sich die regionale Verankerung der CVP nicht wesentlich.15 Noch immer tragen die Kantone Luzern, St. Gallen und Wallis am meisten zur nationalen Stärke bei. Die stärksten Kantonalparteien stellten 2011 das Wallis (39,9%), der Jura (33,2%) und Luzern (27,1%). Allerdings verloren seit 1979 Luzern, Schwyz und St. Gallen über 20 Prozent der Wähler. In welchen Regionen und Kantonen erfolgten die nachhaltigsten Einbrüche der Christlichdemokraten? Gibt es in der zeitlichen Abfolge besondere Entwicklungen?

      Die Stagnation der CVP manifestierte sich – erstens – in den städtischen Ballungszentren ausserhalb der traditionellen Hochburgen. Seit den 1970er- und 80er-Jahren wechselten in den städtischen Agglomerationen der Kantone Zürich, Basel und Bern zahlreiche Sozialaufsteiger katholischer Konfession, die als schweizerische «Secondos» nicht mehr von den moralischen und gesellschaftlichen Bindekräften des katholischen Milieus ihrer familiären Herkunftskantone gehemmt wurden, zum bürgerlichen Freisinn und zur Linken über, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wählbar geworden waren. Als Resultat des veränderten Wahlverhaltens bisheriger Stammwähler in der klassischen Diaspora wurde das bevölkerungsreiche Mittelland von Zürich bis Lausanne für die CVP zum wahlpolitischen Ödland. In den grossen, von ihrer Geschichte her protestantisch geprägten Mittellandkantonen Zürich, Bern und Waadt, wo die Katholikenpartei aus historischen Gründen nie eine starke Position besessen hatte, schrumpfte ihr ohnehin kleiner Anteil zusammen. Von den insgesamt 78 Sitzen dieser drei Kantone im Nationalrat hielt sie 2011 nur noch 3; 1963 waren es von 84 immerhin noch deren 8 gewesen. Selbst in Zürich, wo die Christlichsozialen in einem langsamen, aber stetigen Aufstieg in die Regierung gelangt waren, liefen jüngere Wähler der Partei davon. Für die Generationenthese stellt Zürich das beste Beispiel dar, da die Zwingli-Stadt im Jahr 2009 mit 112 000 Katholiken den grössten Anteil aller Schweizer Städte aufweist.

      Eine zweite Beobachtung: In den 1980er-Jahren erfasste der Erosionsprozess auch in unterschiedlichem Ausmass die alten Kulturkampfkantone St. Gallen, Aargau, Thurgau, Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Genf. Der neue Kanton Jura blieb eine Ausnahme, da sich dort die Christlichdemokraten als aktive Gründungspartei des Kantons profiliert hatten. Die jurassische CVP erhielt 1979 37,7 Prozent und konnte diesen Stand über die Jahrzehnte hinweg halten (2011: 33,2%). Damit begannen die Christlichdemokraten in jenen Gebieten zu verlieren, in denen sie seit über hundert Jahren als Partei des politischen Katholizismus fest verankert waren. Aus historischer Perspektive wogen die Sitzverluste in diesen Kantonen schwerer als diejenigen in den früheren Diasporakantonen Zürich, Waadt und Bern, denn mehr als anderswo verdeutlichten sie den Zusammenbruch parteipolitischer Loyalitäten.

      Als Beispiele verweise ich auf die Kantone St. Gallen, Aargau und Solothurn. In St. Gallen stellte die CVP 1963 6 von 13 Nationalratssitzen, im Aargau 3 von 13 und in Solothurn 2 von 7. 1983 sah das Bild folgendermassen aus: St. Gallen 5 von 12, Aargau 4 von 14 und Solothurn 2 von 7. Der eigentliche Einbruch in diesen Kantonen erfolgte mit unterschiedlichen Zeitrhythmen und lokalen Besonderheiten im letzten Jahrzehnt des 20. und im ersten des 21. Jahrhunderts. 2003 eroberten die Christlichdemokraten im Kanton St. Gallen nur noch 3 von 12, im Aargau 2 von 15 und im Kanton Solothurn 1 von 7 Nationalratssitzen. 2011 sah die Statistik wie folgt aus: St. Gallen 3 von 12, Aargau nur noch 1 von 15 und Solothurn dank geschickten Listenverbindungen 2 von 7 Sitzen. Alles in allem büssten die Christlichdemokraten seit 1963 fast 50 Prozent ihrer Nationalratsmandate in den alten Kulturkampfkantonen der Schweiz ein. Am besten hielten sich mandatsmässig die Christlichdemokraten Solothurns.

      Und schliesslich der dritte Punkt: Die katholischen Stammlandkantone Schwyz, Luzern, Zug, Obwalden, Nidwalden, Uri, Freiburg und Wallis waren für die CVP seit dem 19. Jahrhundert als Reaktion auf die bittere Niederlage im Bürgerkrieg von 1847 Hochburgen, ja Bollwerke der Partei. Seit den Nationalratswahlen von 1999 verlor die Partei auch in diesen Kantonen in dramatischer Weise Wählerstimmen. 2011 stellte die CVP nur noch 10 von total 34 Nationalräten in den Stammlandkantonen.

      Wie in den Kulturkampfkantonen war primär die national-konservative SVP Nutzniesserin dieser Entwicklung. 1991 hatte die SVP in den Zentralschweizer Kantonen sowie in Freiburg und im Wallis insgesamt lediglich einen Nationalratssitz inne. 1995 waren es zwei und 1999 bereits deren vier. Bei den Nationalratswahlen vom Herbst 2003 steigerte sich die SVP mit insgesamt acht Mitgliedern und 2007 mit neun. Im Jahr 2011 verlor sie zwei Sitze, was auf eine gewisse Instabilität der Wählerbasis hinweist. Dennoch: Die Wählerverluste in den alten Stammlanden alarmierten die Eliten. Am besten hielt sich die CVP des stark urbanisierten Kantons Luzern, in Zug errang sie immerhin einen von drei Sitzen.

      Herbe Verluste in der Kleinen Kammer

      Im Ständerat konnte die CVP jahrzehntelang von der Tatsache profitieren, dass die kleinen Stammlandkantone ebenfalls zwei Senatoren entsenden wie die Grosskantone Zürich, Bern und Waadt. Deshalb blieb der Ständerat bis heute eine stark christlichdemokratisch gefärbte Kammer.

      Doch der Rückgang in ihren Stammlanden zeigte sich auch bei den Ständeratswahlen. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts stellte die Partei in den ehemaligen Sonderbundskantonen alle vierzehn Ständeratsmandate.16 Da zwei der acht Sonderbundskantone Halbkantone sind, die jeweils lediglich einen Ständerat stellen, beläuft sich die Sitzzahl dieser acht Kantone im Ständerat auf insgesamt vierzehn.

      Das erste Doppelmandat ging der CVP schon 1955 in Luzern verloren. Seit den 70er-Jahren büsste die CVP in den Urschweizer Kantonen immer wieder Ständeratssitze ein, 2011 sogar beide in Schwyz.

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