Das historische Dilemma der CVP. Urs Altermatt

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Название Das historische Dilemma der CVP
Автор произведения Urs Altermatt
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198641



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und stiegen zum gleichberechtigten Partner in der nunmehr wieder bürgerlichen Landesregierung auf. Endlich hatte die Partei die lang erstrebte Parität mit dem freisinnigen Seniorpartner erreicht.

      Die 1954er-Formel war eine Übergangslösung. Der Rücktritt von vier Bundesräten im Jahr 1959 schuf die Voraussetzung für eine vollständige Umkrempelung der parteipolitischen Zusammensetzung der Landesregierung. Als Stratege wirkte im Hintergrund der Generalsekretär der Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei Martin Rosenberg. Die «Zauberformel» aus zwei Freisinnigen, zwei Christlichdemokraten, zwei Sozialdemokraten und einem Vertreter der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei war geboren.

      Die neue Regierungszusammensetzung schloss einen langen Prozess ab und entsprach den gesellschaftspolitischen Entwicklungslinien, die durch einen wachsenden Pluralismus gekennzeichnet waren und auf eine Beruhigung der politischen Verhältnisse und damit auf eine Proportionalisierung der Landesregierung hinausliefen. Keine Partei war fortan in der Lage, die Regierungsgeschäfte allein zu führen. Die Regierungsarbeit musste möglichst breit abgestützt werden.

      Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der freiwillige Proporz Schritt für Schritt auch in der Bundesverwaltung Einzug hielt.4 1969 gaben sich 29 Prozent der Chefbeamten als freisinnig aus, 8 Prozent als christlichdemokratisch, 3 Prozent als sozialdemokratisch und 5 Prozent als BGB. Der Rest, rund die Hälfte, war parteilos. Noch kam die Zauberformel in der Bundesadministration nicht voll zum Tragen. Man sprach vom magischen Sesseltanz der Zauberformel bei der Vergabe der Posten.

      Historisch gesehen bestand das grosse Verdienst der Zauberformel darin, dass sie die beiden klassischen Minderheiten auf der Basis des freiwilligen Proporzes endgültig in den Bundesstaat einbezog. In der zeitlichen Abfolge versöhnte sich zunächst der ländlich-bäuerlich und gewerblich geprägte Konservativismus in der Form der Katholisch-Konservativen und der BGB mit dem Bundesstaat. Die gesamtgesellschaftliche Säkularisierung beschleunigte nach dem Zweiten Weltkrieg den Abbau letzter Reste des Kulturkampfes. 1963 traten die Christlichdemokraten in die Zürcher Kantonsregierung ein und schlossen damit ihren langen Marsch durch die Kantonalregierungen vorläufig ab.

      Nach dem politischen Katholizismus integrierte sich die Sozialdemokratie in die moderne pluralistische und kapitalistische Schweiz. Die wirtschaftliche Hochkonjunktur der Nachkriegszeit ermöglichte den Ausbau des sozialen Wohlfahrtsstaats, der durch ein breites Netz sozialer Einrichtungen den Anliegen der früher klassenkämpferischen Arbeiterbewegung entgegenkam.

      Alles in allem besteht die helvetische Konkordanzdemokratie aus einer Koalition wechselnder Minderheiten. Diese Kraftfeldervielfalt darf indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wege der drei grossen Regierungsparteien zur Zauberformel unterschiedlich waren. Während sich die konservativen Katholiken aus ihrer spezifischen Konfessionslage heraus von Anfang an mit dem Minderheitenstatus begnügten, hatten die Freisinnigen und Sozialdemokraten zunächst Schwierigkeiten, die Minderheitenrolle zu akzeptieren. Die Freisinnigen, weil sie noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den goldenen Zeiten freisinniger Machtherrlichkeit träumten, und die Sozialdemokraten, weil sie im klassenkämpferischen Marsch zur Macht dem Traum einer antikapitalistischen Volksmehrheit in einer besseren Zukunft nachhingen.

      Zauberformel oder Formelzauber?

      Die ersten Jahre der Zauberformel-Regierung fielen in die Zeit der Hochkonjunktur. Der Wirtschaftsboom brachte die Finanzen ein, mit denen die Anspruchsgesellschaft befriedigt und die Profite auf die Gesellschaftspartner verteilt werden konnten. Das helvetische Wirtschaftswunder förderte die Flucht vor der Politik ins Private. Man sprach von der Entideologisierung der Politik. Heftige Parteienkonflikte waren unschicklich und störten die Wohlstandsidylle. Der Bundesrat verwaltete als zentrale Schaltstelle das Land und erliess die Regeln der «formierten Gesellschaft».

      In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre schlich sich Kritik ins Konkordanzsystem ein. Nonkonformistische Störenfriede sprachen vom «helvetischen Malaise» (Max Imboden). Die Zauberformel geriet ins Gerede und setzte Patina an. Im Überschwang des Reformismus sprachen politische Kommentatoren um die Wahlen von 1971 und 1975 von einer möglichen Mitte-links-Regierung unter Einbezug des «Landesrings der Unabhängigen». Realpolitischen Wert besassen diese intellektuellen Spielereien nicht, da keine der Bundesratsparteien die Zauberformel ernsthaft in Frage stellte.

      Die eigentliche Wende kam erst, als 1973/74 eine Rezession über das Land hereinbrach. Das helvetische Malaise begann nun konkrete Formen anzunehmen. Damit wurde das Zauberformel-Kartell brüchig. Die zunehmende Polarisierung der Politik erhöhte die Spannungen zwischen den Bundesratsparteien. Auf der rechten und auf der linken Seite des parteipolitischen Spektrums gewannen Oppositionsbewegungen an Bedeutung. Wie in anderen westlichen Industriestaaten entstanden Alternativbewegungen, die die bewährten politischen Institutionen und Spielregeln fundamental in Frage stellten und eine Art Antipolitik gegen das bestehende System betrieben. Die Sozialdemokraten und die Freisinnigen schlugen eine schärfere Gangart ein, und die auf den Ausgleich ausgerichteten Christlichdemokraten gerieten erstmals ins Wanken.

      Die auf Konsens und Harmonie ausgerichtete Zauberformel-Regierung wurde einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt, denn das viel gerühmte Konkordanzsystem konnte die «neuen sozialen Minderheiten» wie zum Beispiel einen Teil der ausländischen «Gastarbeiter», die xenophoben Anti-«Überfremdungs»-Bewegungen und die Jugendbewegungen von 1968 und 1980 nicht mehr richtig integrieren. Eine steigende Zahl von Staatsbürgern misstraute dem Staat, den Parteien und Verbänden und der «classe politique» in Bern. Bei einer schweigenden Volksmehrheit – denken wir an die niedrige Wahl- und Abstimmungsteilnahme – machten sich über die abgekarteten Spiele der «Filzokratie» von Parteien- und Interessenlobbys Argwohn und Verdrossenheit breit. Man diagnostizierte eine Legitimationskrise des politischen Systems. Doch die Zauberformel blieb bestehen und wurde zum Zauberberg, ja zu einer Notformel der helvetischen Konkordanz.

      Scharnier im Machtkartell der Vierparteien-Regierung

      Von der Minderheitspartei par exellence im Jahr 1848 war die CVP seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in einem langen Marsch durch die politischen Institutionen zur zuverlässigen Regierungspartnerin herangewachsen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Zauberformel-Regierung den Christlichdemokraten wie keiner andern Regierungspartei auf den Leib, auf ihre ideologischen Traditionen und – was nicht unwichtig war – auf ihr Sozialprofil geschrieben.

      Als klassische Minderheitspartei trat die CVP seit der Gründung des Bundesstaats für Parität und Proporz aller politischen und sozialen Gruppen in der Gesellschaft ein. Vom sozialen Profil der Wählerschaft her umfasste die Partei von Anfang an ein breites Spektrum; vom Bauern, Gewerbler und Arbeiter bis zum Beamten, Akademiker und Manager. Diese soziale Bandbreite zwang die CVP stets zu einem komplizierten innerparteilichen Konfliktregelungsverfahren. In der Zauberformel-Regierung konnte sie diesen internen Ausgleichsmodus auf die Versöhnung von Gegensätzen in Staat und Gesellschaft anwenden.

      Als Partei von Randregionen – ich erinnere an den «Sonderbund» – war die CVP eine konservative Partei, die im politischen Alltag die Politik der kleinen Schritte jener der grossen Entwürfe vorzog. Die konservative Grundhaltung entsprach später dem Politikstil der Zauberformel-Regierung, die auf dem Weg zum helvetischen Kompromiss in der Regel eine Politik der kurzen Schritte und der langen Bank betrieb.

      Alle diese Faktoren machten die CVP in den 1950er-Jahren – wie ich schon am hundertjährigen Jubiläum der CVP-Fraktion 1983 festhielt – zur Architektin und bis Ende des 20. Jahrhunderts zum Amalgam der Zauberformel, die in der Vierparteien-Regierung so etwas wie eine Scharnierstellung einnahm und als Mittlerin zwischen dem Freisinn und der Sozialdemokratie politisierte.5 Es verwundert daher nicht, dass die christlichdemokratischen Regierungs- und Parlamentspolitiker daran interessiert waren, das zunehmende Konsensdefizit der Zauberformel seit den 1970er-Jahren durch formelle Absprachen und Mechanismen wie zum Beispiel durch Legislaturziele zu vermindern.

      Umgekehrt stärkte die Zauberformel die Stellung der CVP in der Bundespolitik. Die sozial- und wirtschaftspolitische Brückenfunktion nach rechts und nach links ermöglichte ihr einen geradezu spektakulären Positions- und Imagewechsel. Die