Das historische Dilemma der CVP. Urs Altermatt

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Название Das historische Dilemma der CVP
Автор произведения Urs Altermatt
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198641



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stützen.

      Diese unterschiedlichen Strukturen hatten zur Folge, dass in der Landespartei zwei Katholizismen mit unterschiedlichen Zielen und Strategien entstanden. Als Bindemittel wirkte die katholische Konfession, die den weltanschaulichen Zusammenhalt vermittelte, der die soziökonomischen und kulturellen Gegensätze zu überwinden half. Dabei entwickelten die Vorgängerparteien der CVP spezielle neokorporativistische Ausgleichsmechanismen, die die Eliten steuerten, um die Einheit der Landespartei zu erhalten.

      Vom Ende der hundertjährigen Alleinherrschaft in den konservativen Stammlanden

      In der konkreten Politik waren die im Bürgerkrieg unterlegenen Katholisch-Konservativen nach 1848 bestrebt, die von der Siegerpartei aufgezwungenen radikal-liberalen Regimes so rasch als möglich abzulösen. Traumatisiert durch den Bürgerkrieg und die Willkür der freisinnigen Bundesgewalt, verbanden sich katholische Konfession und Regionalismus zu einer Allianz, die die Machtstellung der Katholisch-Konservativen im Zeichen eines gegen Bundes-Bern gerichteten Affekts über mehr als ein Jahrhundert am Leben erhielt.

      Mit Hilfe der katholischen Kirche gelang es so der katholisch-konservativen Bewegung, die Herrschaft in den Landsgemeindekantonen Uri, Schwyz und Ob- und Nidwalden in kürzester Zeit zurückzugewinnen. Berühmt geworden ist der Fall des liberalen Nidwaldner Nationalrats Johann Melchior Joller, der nach inszenierten Spukgeschichten in seinem Stanser Haus aus seiner Heimat emigrierte und in die päpstliche Armee in Rom eintrat.6 In Freiburg erfolgte der Umschwung 1856 und im Kanton Luzern im Jahr 1871.

      Als die neue Bundesverfassung 1874 in Kraft trat, waren die Regierungen aller Sonderbundskantone wieder in den Händen der katholisch-konservativen Partei, die ihre Kantone zu Bollwerken im Bundesstaat ausbauten, in denen sich die katholisch-konservativen Kräfte zurückziehen und sich regenerieren konnten. Die Erfolge hatten ihre Kehrseite und förderten den defensiven Réduitgeist, der sich nicht nur gegen Zentralisierungen des Bundesstaats wandte, sondern aus Angst vor zentralistischen Organisationen sogar die Gründung einer eigenen Landespartei hemmte.

      Erst die kulturelle Integration der Katholiken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschütterte die katholisch-konservativen Hegemoniestellungen. In den 1990er-Jahren gelang der SVP der Einbruch in die Stammlande, indem die Nationalkonservativen die in Jahrzehnten gewachsene Abwehrhaltung gegen jedwelche Zentralisierung in einen Protest gegen das Europa Brüssels umfunktionierten und im kollektiven Gedächtnis an den Kampf der Alten Eidgenossen gegen fremde Vögte appellierten. Damit lockte die SVP Teile der Katholisch-Konservativen, die durch das Bindemittel des katholischen Milieus nicht mehr genügend zusammengehalten wurden, in die nationalkonservative Partei.

      Mit Verspätung auf die Mittelland-Schweiz entfaltete die Moderne auch in den katholisch-konservativen Stammlanden ihre Erosionskräfte.7 In Freiburg büsste die Partei 1966 im Grossen Rat und 1981 in der Regierung die absolute Mehrheit ein, und 1982 folgte als erster Innerschweizer Kanton das wirtschaftlich aufstrebende Zug. Um die Mitte der 1980er-Jahre besassen die Christlichdemokraten noch in den Kantonen Luzern, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Wallis und Appenzell Innerrhoden die absolute Mehrheit.

      Doch schon 1987 verlor die Luzerner CVP die Mehrheit im Kantonsparlament, während sie diese in der Regierung bis 2005 halten konnte. Ende der 90er-Jahre brachte der SVP-Aufstieg auch die Parteienlandschaft in der Urschweiz durcheinander. In Schwyz verlor die CVP 1988 die Mehrheit im kantonalen Parlament, 2004 in der Regierung.

      Diesen Verlusten in den Kantonsregierungen gingen Rückschläge bei den doppelten Ständeratsvertretungen voraus.8 Den Anfang machte der Kanton Luzern mit der Wahl des freisinnigen Christian Clavadetscher im Jahr 1955. Das war eine Zäsur, denn bis in die Mitte des 20.Jahrhunderts hatte die CVP in den ehemaligen Sonderbundskantonen alle vierzehn Ständeratsmandate inne, eine Regel, von der es temporäre Ausnahmen gab. Gerade weil die CVP in den Stammlanden über hundert Jahre stabile Hochburgen besass, stellte der Verlust der Doppelmandate in der Kleinen Kammer ein Alarmzeichen dar, das als Fanal für das Ende einer Ära gedeutet werden konnte.

      1971 büssten die Christlichdemokraten einen Ständeratssitz in Zug ein, 1979 in Freiburg und 1991 in Schwyz. 1998 verloren sie in Obwalden das einzige Ständeratsmandat. Der Tiefpunkt war erreicht, als die Christlichdemokraten 2011 wegen innerparteilicher Streitigkeiten den einzigen ihnen verbliebenen Ständeratssitz im Kanton Schwyz an die SVP abgeben mussten. Zum ersten Mal seit 1848 stellt die CVP Schwyz keinen Ständerat. Der Kanton Wallis ist der letzte Kanton, in welchem die Christlichdemokraten mit ihren beiden Flügeln 2011 die zwei Ständeratssitze halten konnten. Nur dank der kleinen Urschweizer Kantone konnte die CVP 2011 im Ständerat ihre relative Stärke von 13 Sitzen aufrechterhalten.

      Nachhaltiger Aufstieg der Christlichsozialen in den paritätischen und Diasporakantonen

      Die 1880er-Jahre bildeten eine «Sattelzeit», die die Gesellschaft und damit auch die Politiklandschaft von Grund auf veränderte. Die Binnenwanderung und der Ausbau der Volksrechte zeitigten Rückwirkungen auf das Parteiwesen. So hatten die ansteigenden Katholikenzahlen ausserhalb der Stammlande neue Parteigründungen zur Folge; und es waren die sogenannten Diasporakatholiken, die um 1900 mit Vehemenz eine Landespartei forderten.

      Der Aufstieg des Diasporakatholizismus kann in drei Phasen eingeteilt werden. In den paritätischen Kantonen Graubünden und St. Gallen kamen die Katholisch-Konservativen schon vor 1874 in die Regierung. In diesen Kantonen mit starken katholisch-konservativen Minderheiten entwickelte sich bereits im 19. Jahrhundert eine Art freiwilliger Proporz. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden die Aargauer, Solothurner, Thurgauer und Glarner ebenfalls regimentsfähig, 1885 im Aargau, 1887 in Solothurn, 1895 im Thurgau. Diese Erfolge verliefen parallel zum erstmaligen Einsitz im Bundesrat im Jahr 1891.

      Bereits Ende der 1860er-Jahre war es im politisch turbulenten Kanton Tessin den Konservativen gelungen, während einer Periode die Mehrheit zu erobern. Nach den Tessiner Unruhen, die dem katholisch-konservativen Regierungsrat Luigi Rossi 1890 das Leben gekostet hatten, führte der vom Bundesstaat erzwungene Proporz 1892 zu einer permanenten Regierungsbeteiligung im Südkanton.

      Um die Zeit des Ersten Weltkriegs setzte die zweite Phase ein. Die Einführung des Proporzwahlrechts auf eidgenössischer Ebene ermöglichte es den christlichdemokratischen Diasporakatholiken in den städtischen Zentren der reformierten Schweiz, Vertreter in den Nationalrat zu entsenden. 1917 kam der bekannte Basler Advokat Ernst Feigenwinter und 1919 der Redaktor an den «Neuen Zürcher Nachrichten» Georg Baumberger in den Nationalrat. 1928 entsandten auch die Baselbieter einen Katholisch-Konservativen in die Volkskammer. Schwieriger war es für die Christlichdemokraten in diesen Kantonen, einen Vertreter in die Kantonsregierung zu entsenden. In Basel und Genf gelang dies für gewisse Perioden am Ende des Ersten Weltkriegs, in Baselland 1936.

      Erst 1963 – und das war die dritte Phase – eroberten auch die Zürcher Christlichsozialen einen Regierungssitz, den sie allerdings 1975 wieder abgeben mussten, bis sie ihn 1993 zurückgewannen und 2011 wieder verloren. Bisher waren die Christlichdemokraten in den Kantonen Bern, Schaffhausen, Waadt, Neuenburg und Appenzell Ausserrhoden nicht in den Kantonsregierungen vertreten.

      Die Nichtberücksichtigung der christlichdemokratischen Nordjurassier in der Berner Regierung war eine der Antriebsfedern für die Gründung des Kantons Jura. Ohne dass die Medien dies speziell beachten, nimmt die CVP im Kanton Jura daher eine starke Stellung ein, was mit ihren Verdiensten bei der Kantonsgründung 1978 zu erklären ist.

      Heimliche Macht der Stammlande über den Ständerat

      Wenn ich die Entwicklung seit 1848 überblicke, komme ich zu folgenden Schlussfolgerungen:

      1. Die total revidierte Bundesverfassung von 1874 bildete für die Christlichdemokraten eine Zäsur. Diese hatte zur Folge, dass in den Volksabstimmungen jede Stimme zählte. Damit verloren die auf sich bezogenen kantonalen Bastionen der Stammlande in der Partei ihre unbestrittene Vormachtstellung. Die Stimme des katholisch-konservativen Solothurners zählte ebenso viel wie diejenige des Innerschweizers und Wallisers. Erst die Referendumsstärke gab den Katholisch-Konservativen das notwendige Gewicht,