Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
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Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
Als Säugling seines Geists, der unverweht
Von Zeit und Neides Wind in Tausend blüht,
Ihn Vater grüßen mit den Thaten Lied.“ (W, S. 119f.)
Natürlich sind diese Verse nicht ohne das große Vorbild KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb zu denken. Doch es ist fast schon ein pindarisch-hölderlinscher Ton, den MerckMerck, Johann Heinrich da anklingen lässt. Wer sich hinter den Adressaten ‚A.‘ und ‚W.‘ verbirgt, ist bislang nicht entschlüsselt. Über die Bedeutung des Buchstabens W belehrt uns ein Barockautor. Von Abraham a Sancta ClaraAbraham a Sancta Clara stammt das Buch Mercks WiennMercks Wienn (1680).31 Das ist eine sogenannte Pestschrift, eine Mischung aus Pestbeschreibung, Predigt und einem Totentanz, die einem strengen rhetorischen Ordnungsprinzip gehorcht. In Mercks Wienn ist nun zu lesen:
„W. Ist endlich der allerschwäreste Buchstab; nichts als W.W. widerholte jener armer Tropff der etlich 30. Jahr als ein verlassener Krippel bey dem Schwem-Teuch zu Jerusalem lage: nichts als W.W. sagte jener vnberschambte Gast vnd gastige Bößwicht Malchus / als ihme der behertzhaffte Petrus ein Ohr abgehauen / vermeinend / der ohne Ehr ist / soll auch ohne Ohr seyn; nichts als W.W. sagte jener starcker Samson / da ihme die Philisteer auß Anlaitung der liebkosenden Dalilæ die Augen außgestochen / vnd als er nun Stockblind war / hat er erst gesehen / das einem liederlichen Weib nicht zutrauen; W.W. sagte jener hipsche Printz Absolon / da er mit seinen Haaren am Aichbaum hangen gebliben: fürwar hat nicht bald ein Baum schlimmere Frucht tragen / als diser: mit einem Wort W.W. ist ein schmertzlicher Buchstab / ein lamentirlicher Buchstab / vnd auß allen der jenige / so der Menschen Gmüther hefftig entrüstet / vnd selbige Trostloß machet.
Liebster Leser / solchen widerwärtigen vnd trangseeligen Buchstaben wirst du folgsamb antreffen / nicht ohne Verwunderung.“32
Widerwärtig und drangseelig, schmerzlich und lamentierlich sei dieser Buchstabe – bei Merck jedenfalls oder zumindest im Kontext von Mercks Darmstadt bekommt das W eine andere, weniger pejorative Bedeutung. Mercks A und W scheinen ein Paar zu sein. Eingangs wird ein Gebäude imaginiert („Zauberschloß“), das als Ausdruck von Sesshaftigkeit, von Schutz wie auch von materiellem und immateriellem Reichtum verstanden werden kann. Das angesprochene Du erweist sich durch die „EngelsKlarheit“ als Frau. Damit ist am Ende des Eingangssatzes das Rollenverhältnis aufgespannt. Der männliche Seher erschafft sich in der Imagination ein zukünftiges weibliches Du, das als Engel verklärt wird und damit einen empfindsamenEmpfindsamkeit ToposTopos zitiert. Der Seher und Imaginator hofft und lächelt, wird also mit grundsätzlich positiven Begriffen beschrieben. Als wehmütig indes charakterisiert der Dichter die Stimmung des Mannes. Positive Gefühle wie Sympathie und Liebe sind bedroht, die Wehmut scheint Besitz zu ergreifen von diesem Mann. Der Grund für diese Missstimmung wird sogleich benannt: „Statt KörperSchöne, flache WandGestalt“, statt der geliebten Frau selbst teilhaftig zu werden vermag der Mann sie nur zu imaginieren, gleichsam als Projektion an die Wand zu werfen. Das „Gewebe des verkehrten Teppichs“ kann als MercksMerck, Johann Heinrich Metapher für Texturen verstanden werden, womit jene literarischen Imaginationen gemeint sind, die über die reale Liebessehnsucht des Mannes nicht hinweghelfen. Führt man diesen Gedanken weiter, dann thematisiert Merck an dieser Stelle des Gedichts die grundlegende Bedeutung von Kunst, ihre Imaginationskraft und ihren defizitären Modus, der darin besteht, nichts als eben dies, Imagination zu sein. Denn noch befinden wir uns ja gleichsam im Zauberschloss, das ebenfalls imaginiert wurde, und dessen Bewohnerin, die engelsgleiche Frau, nur ein Simulakrum der wirklichen Geliebten ist. Als unvergleichlich schön wird sie beschrieben, selbst PlatonPlaton und der griechische Bildhauer AlcamenesAlcamenes träumten von diesem Vexierbild des Körperschönen. Das ‚Coische Gewand‘ spielt, für die zeitgenössischen Leser deutlich zu erkennen, auf die Nacktheit des Frauenkörpers an. Doch allein dem Imaginator war es bislang weder in der Realität noch in der Fantasie vergönnt, den Körper der Schönen unverhüllt zu erblicken. Nun wird vom Dichter die Adressatin des Gedichts angesprochen, sie solle ihren Geliebten erlösen und die sonst reichlich fließenden Tränen – auch dies selbstverständlich eine Anspielung auf die empfindsamenEmpfindsamkeit Tränen – zur Linderung seiner Sehnsucht und seines BegehrensBegehren vergießen. Die Frau solle den Mann erhören, bevor dieser wieder gehe („seine Straße zieht“). ‚Die große Sklav- und Narren-Erde‘ verschuldet ursächlich die peinigenden Qualen der Liebenden. Ist dies am Ende Mercks Abrechnung mit dem Problem der empfindsamen Sublimation? Das Gedicht lässt diese Interpretation durchaus zu, wenn es auch darauf nicht zu reduzieren ist. Der Autor fordert von der Frau, nicht länger den Konventionen der Zeit zu gehorchen und dem schamhaften Blick zu folgen, sondern dem Geliebten direkt ins Auge zu sehen, und ihm die ‚Liebe ihres Augs‘ als ‚Bild‘ in die Seele zu senken. Dieses Bild habe bis über den Tod hinaus Bestand. Die Bedeutung der Imaginationskraft von Kunst im Allgemeinen und von Literatur im Besonderen findet dort ihre Grenzen, wo sie die großen Gefühle der Menschen eben nur imaginiert, ohne dass diese Gefühle durch Realien unterfüttert sind. Vielleicht ist dieses Gedicht ein Rollengedicht, und MerckMerck, Johann Heinrich spricht verschlüsselt von sich selbst, mithin rührten diese Zeilen dann aus Mercks Brautzeit her. Vielleicht beziehen sich die Verse aber auch auf HerderHerder, Johann Gottfried und Caroline FlachslandFlachsland, Caroline – dann wären allerdings die Initialen A und W nur schwer zu erklären – oder auf ein anderes Paar aus seinem Umfeld. Der Buchstabe W ist, um Abraham a Sancta ClaraAbraham a Sancta Clara nochmals zu zitieren, durchaus ein ‚allerschwäreste[r]‘, ein ‚schmertzlicher‘ und ‚lamentirlicher‘ Buchstabe. Auch wenn man dieses Rätsel der unaufgelösten Buchstaben nicht lösen kann, so bleibt doch jedenfalls die Erkenntnis, dass Im MerzIm MerzMercks schönstes und bestes Gedicht ist, es ist einzigartig in seinem lyrischen Werk.
Merck gehörte wie viele andere, junge Autoren der Zeit zu den KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb-Begeisterten und beteiligte sich maßgeblich an einer ersten Sammlung der bis dahin verstreuten und teils nur in Abschriften zirkulierenden Gedichte dieses Dichters. Das Ergebnis war das Projekt einer Darmstädter Ausgabe der OdenOden (Klopstock) Klopstocks. Im Brief vom 29. Dezember 1770 an seinen Gießener Freund Julius HöpfnerHöpfner, Julius macht Merck auf diesen Druck von Klopstocks OdenOden (Klopstock) aufmerksam, der unter seiner Regie in einer limitierten Auflage von 34 Exemplaren entsteht, Höpfner möge das Register der Oden durchsehen (vgl. Br, S. 43). Diese Darmstädter Ausgabe von 1771, mithin das Darmstädter Exemplar der Landgräfin, wurde 1974 von Jörg-Ulrich Fechner als Faksimile, reich kommentiert, neu gedruckt.33 Der Anlass dieser Ausgabe, die von Herder wegen ihrer vielen Fehler herb gescholten wurde (u.a. rügte er die Rechtschreibschwäche der Hessen in toto),34 war der 50. Geburtstag der Landgräfin am 9. März 1771. In seiner KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb-Begeisterung verfasste MerckMerck, Johann Heinrich selbst eine Ode im nämlichen Stil, betitelt Bey der Sammlung der Klopst.Bey der Sammlung der Klopst. Oden in D. Oden in D. In Mercks Rezension von Klopstocks OdenOden (Klopstock), die in den von ihm betreuten Frankfurter gelehrten Anzeigen vom 28. Januar 1772 erschien, ist Mercks Begeisterung für Klopstock zu erkennen: „Er, der Schöpfer unsrer Dichtkunst, des deutschen Numerus, der Seelensprache des Vaterländischen Genius […]“ (W, S. 527f.). Seine Oden (1771) seien Werke der Ewigkeit (vgl. W, S. 528), die weder gelobt noch getadelt gehörten. Man könne diese Poesie nicht zergliedern, analysieren, sondern: „Man trete herzu und empfinde!“ (W, S. 529) Klopstock gilt ihm als Muster für jüngere Poeten, seine Verse seien von feinster dichterischer Diktion gekennzeichnet, Klopstock sei „der gröste lyrische Dichter der Neuern“ (W, S. 531). Ein Jahr später am 7. Februar 1773 schickt er Friedrich Heinrich JacobiJacobi, Friedrich Heinrich „die versprochene Revision meines eigenen Urtheils“ (Br, S. 83). Sie sollte in WielandsWieland, Christoph Martin Teutschem Merkur erscheinen, doch kam der Abdruck von Mercks Manuskript nicht zustande. Merck distanziert sich darin nicht grundsätzlich von seiner überschwänglichen Beurteilung von 1772, kritisiert jedoch den jugendlichen, pathetischen und gelegentlich übers Ziel hinausschießenden Ton.35 Doch in nur zwölf Monaten ändert sich diese Einschätzung. Nach einem Besuch Klopstocks in Darmstadt Anfang Oktober 1774 heißt es zunächst wieder emphatisch: „Ich wandle unter den großen Eichen und Fichten, wie unter Antiken“ (Br, S. 120). Aus der Rückschau überrascht dieser geradezu plötzlich vollzogene Wechsel in der Beurteilung Klopstocks. An Friedrich NicolaiNicolai,