Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
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Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
Die Prometheus-Ode entstand 1773 oder 1774 und wurde erstmals 1785 veröffentlicht.22 Die von Prometheus in Anspruch genommene Freiheit findet ihre formale Entsprechung in den freien Rhythmen des Rollengedichts, das auf ein Reimschema verzichtet. Das lyrische Ich spricht als die mythologische Figur des Prometheus. GoetheGoethe, Johann Wolfgang greift damit ein Selbstbild der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Autoren auf. PrometheusPrometheus reklamiert mit emanzipatorischer Geste eine eigene, selbstgeschaffene Welt für sich. Die Possessivpronomen in den ersten beiden Strophen zeigen dies an: von ‚meiner Erde‘, ‚meiner Hütte‘ und ‚meinem Herd‘ ist da die Rede (vgl. V. 6, 8, 10)23.
Gleich der erste Satz wird mit einem Imperativ abgeschlossen, der Befehl ist an den Göttervater selbst gerichtet, drohend richtet sich der rebellierende Göttersohn Prometheus auf gegen Zeus. Prometheus ist nicht ein „liebender Forscher des Wahren, Guten und Schönen“24, wie es in einem 1622 von Tommaso CampanellaCampanella, Tommaso publizierten und 1802 von HerderHerder, Johann Gottfried übertragenen Gedicht hieß. Eher trifft eine Äußerung – folgt man der Darstellung Heinrich Leopold WagnersWagner, Heinrich Leopold, des Übersetzers von MerciersMercier, Louis-Sébastien Nouvel EssaiNouvel Essai25 – von Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold über die Hauptfigur von Goethes PrometheusPrometheus-Dramenfragment26 zu, die auch den Prometheus des Gedichts zu charakterisieren in der Lage ist: „Dieser Prometheus ist ein Götterverächter“27. Bei Goethe geht es um Machtanspruch und Machtverteilung, ja Gebietsverteilung: den Himmel dem Zeus, die Erde dem Prometheus. Damit wird das Gedicht eröffnet. Die Stiftung der Kulturgüter Hausbau und Feuermachen wird von Prometheus beansprucht; aus dem Zeus unterstellten Neid auf diese Leistung kann man schließen, dass er selbst dessen unvermögend ist. Der Göttervater wird als keineswegs allmächtig entlarvt. Die ersten beiden Strophen setzen die Erkenntnis frei, dass die Welt der Götter längst nicht die Erwartungen einzulösen vermag, die mit dem Anspruch auf Allwissenheit und Allmacht verbunden sind. Die wahre kulturelle Tat leistet der Nicht-Gott Prometheus. Deutlich distanziert er sich von Zeus und allen anderen Göttern, er fühlt sich ihnen nicht mehr zugehörig. Es geht nicht um den Kampf der Titanen, nicht um die Psychomachie „Gott gegen Gott“28, wie es LenzLenz, Jakob Michael Reinhold in seiner Catharina von SienaCatharina von Siena formuliert hatte, es geht vielmehr um die alte aischyleischeAischylos Frage: „Herr sein, oder Knecht“29. PrometheusPrometheus rechnet auf, zivilisatorische Tat gegen Opfertribute und Gebetsbeteuerungen. Von Kindern und Bettlern (vgl. V. 18) sind die Götter abhängig, von der Narrheit der Menschen, die einfältig an die Götter glauben. Aus diesem exklusiven Kreis grenzt sich Prometheus also deutlich aus. Prometheus macht sich selbst zum Menschen – ist Prometheus am Ende wahrer Mensch, wobei dieser Begriff durchaus christologische Implikationen als ‚wahrer Mensch und wahrer Gott‘ enthält?
Dreimal führt Prometheus den Hinweis auf die Kindheit an. In der ersten Strophe fordert er in einem Lebensalter-Vergleich Zeus auf, „Knabengleich“ (V. 3) das Köpfen von Eichen und Bergspitzen zu üben; in der dritten Strophe sind es unter anderem die Kinder, welche die Allmacht und „Majestät“ (V. 17) der Götter sichern helfen; und in der vierten Strophe verweist Prometheus auf seine eigene Kindheit, die Erfahrung von Zeus‘ Untätigkeit, als er Hilfe brauchte, lehrt ihn den Betrug (vgl. V. 34), der an den Gläubigen begangen wird. Den „Schlafenden“ (V. 35) nennt Prometheus Zeus, der sich um die Geschicke und Nöte der Halbgötter oder der Menschen nicht kümmert. Die Formulierung „Als ich ein Kind war“ (V. 20) lässt an 1. Korinther 13, 11 denken: „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind“30 und eröffnet damit förmlich eine Reihung von Bibelzitaten und Anspielungen auf biblisch-theologische Redemuster. Diese Hinweise auf die Kindheit sind insofern wichtig, als sie eine Entwicklung hin zur Rebellion unterstreichen, die ihren Ursprung in der maßlosen Enttäuschung hat, Zeus als schwachen, nicht helfenden und hilflosen Gott erfahren zu haben. Prometheus handelt also nicht im Affekt, wenn er sich von der Welt der Götter abkehrt, sondern planmäßig, aufgrund lang andauernder Erfahrung und Selbstbeobachtung.
Fast schon biblisch ist die Klage zu nennen, die Prometheus in der vierten Strophe vorträgt. GoetheGoethe, Johann Wolfgang kombiniert hier die theologischen Topoi der Klage mit Prometheus‘ Selbstbefund. „Ein Ohr zu hören“ (V. 24) verweist auf Matthäus 11, 15, wo es heißt: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Die in den Befehl ausgewichene Bitte „Herr, neige deine Ohren und höre!“ (2 Kön 19, 16) ist in dieser Strophe ebenso gegenwärtig wie der konterkarierte Psalmist „Laß deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens“ (Ps 130, 2). Das Wort „Klage“ (V. 24) selbst ist weniger dem Sprachschatz des Juristen Goethe entnommen – wie dies in anderem Zusammenhang für das Gedicht Willkomm und AbschiedWillkomm und Abschied nachgewiesen werden konnte –, als vielmehr dem zeitgenössischen biblisch-protestantischen Wissen. Schließlich ist die Herkunft des Wortes „Herz“ (V. 25) aus dem theologischen Begriffsinventar, das ja von zentraler Bedeutung für die Sprachhandlungen und die Ästhetik der empfindsamenEmpfindsamkeit Literatur ebenso wie des Sturm und DrangSturm und Drang ist, hervorzuheben. Auch hier liegen natürlich die Ursprünge im Bibelwort selbst. Das „bedrängte“, das „zerbrochene Herz“ und das „reine Herz“ des Menschen gehören zu den elementaren Theologumena biblischer Tradition. Goethes Gedicht spielt also förmlich mit den Mustern religiöser Sinnverständigung.
Der Begriff des „bedrängten“ (V. 26), als den sich PrometheusPrometheus selbst sieht, impliziert aber auch die Ambivalenz des Begriffs Sturm und Drang, wonach der Drang nicht nur das Intentionale des subjektiven Handelns bezeichnet, sondern eben auch jenen Drang meint, der sich zum Objekt das selbsttätige Individuum wählt und dann als Bedrängnis erfahren wird. Ab Vers 27 trägt Prometheus denn auch konsequent das Programm des Selbsthelfertums vor. Diese vierte Strophe erweist sich somit als die, von Form und Inhalt her gesehen, traditionellste Strophe innerhalb des Gedichts. Das fällt umso mehr auf, sind doch die anderen Strophen durchaus kühn in Konstruktion und Sprachmächtigkeit. Dies zeigt einen Wendepunkt im Gedicht an, Prometheus verabschiedet sich hier endgültig von seiner Herkunft oder allgemeiner von der Tradition. Die Klage wird nun gewendet in ein Programm, aus der Enttäuschung wird Kraft zum Handeln. Am Anfang des Gedichts steht die tränengleiche Klage, am Ende exponiert Goethe Prometheus’ Hinweis, ein Geschlecht wie er selbst geschaffen zu haben, das fähig ist zu „genießen“ und sich zu „freuen“ (V. 54). Das Gedicht spielt an dieser Stelle mit der biblischen Verheißung: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“ (Ps 126, 5). Aus dem bedrängten Herzen wird in der fünften Strophe nun das „Heilig glühend Herz“ (V. 32), das mit allen Attributen eines autonomen Individuums ausgestattet wird; es ist jung, gut, dankbar, es bringt zu Ende, was anderweitig und von anderen nicht mehr getan wird, es glüht und ist heilig. Die Frage aber bleibt, gleichsam jenseits der mythologischen Genealogie: Wer sind die Götter?
Die sechste Strophe bringt die eigentliche Rebellion. Die Fragekette der fünften Strophe geht nun über in eine Anklage. Vorwurfsvoll wird der Ton. Nicht die Götter haben PrometheusPrometheus erwachsen gemacht, sondern die Zeit hat das getan. Prometheus ist erwachsen (V. 42: „die allmächtige Zeit“) und hart geworden (V. 41: „zum Manne geschmiedet“, bereits die Metapher signalisiert die Anstrengung und Gewalt, die nötig waren, um aus Prometheus das zu machen, was er geworden ist). Auch Zeus selbst muss sich letztlich der Herrschaft der Zeit unterwerfen. Schonungslos deckt damit Prometheus auf, dass die Macht der Götter keineswegs allumfassend ist, dass es mächtigere Mächte gibt, nämlich die Zeit und das Schicksal und den rebellierenden Sohn. Prometheus bringt damit einen tragischen Aspekt mit in das Gedicht ein. Dem Schicksal (‚moira‘) vermag sich nach griechischer Auffassung niemand zu entziehen, es ist jene Macht, die einen Geschehensverlauf als tragischen bestimmt, wenn es kein Entrinnen und keine Entscheidungsalternativen gibt. Gleichgültig, wie sich