Aufgreifen, begreifen, angreifen. Rudolf Walther

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Название Aufgreifen, begreifen, angreifen
Автор произведения Rudolf Walther
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895508



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Verbrechen«) beschrieben. Aus der Fülle des Materials greife ich nur ein Beispiel heraus. Die venezianische Regierung erpresste von ihren eigenen Kaufleuten Schutzgelder in einer Weise, die nicht zu unterscheiden ist von der Schutzgelderpressung gewöhnlicher Krimineller; die Regierung installierte sich während Jahrhunderten förmlich als Sicherheits- und Schutzverkäufer – mit entsprechenden Provisionen. Freilich schlachtete man die Kuh nicht, von deren Milch man lebte und sorgte mit militärischen und politischen Attacken auf den Konkurrenten – allen voran Genua – dafür, dass auch dort die Schutz- und Sicherheitskosten anstiegen. Die heimischen venezianischen Kaufleute sollten ja konkurrenzfähig bleiben. In dem Maße, wie sich das Sicherheits- und Schutzgeschäft auf größere Territorien ausdehnte und an stehende Heere vergeben wurde, stiegen die Kosten. Staaten wurden so zu Großschuldnern und damit zu lukrativen Partnern der Financiers und Banken. Als Ludwig XIV. 1715 starb, betrug die kriegsbedingte Verschuldung drei Billionen Francs, das entspricht dem königlichen Steuerertrag von 18 Jahren. Diese symbiotische Verbindung von militärischer Gewalt, Staatsapparat, Finanz- und Steuerwesen treibt zwischen Mittelalter und Neuzeit den modernen Staat mit Gewaltmonopol hervor. Die Gewalt gegen eigene und fremde Bürger sowie die gewaltsame Durchsetzung von Interessen gegenüber Dritten waren dabei nicht zufälliges Beiwerk, sondern konstitutive Momente und wichtige Triebkräfte. Wenn man Elias’ These, dass Soziogenese des Staates und Psychogenese der »zivilisierten« Menschen sich ergänzende und bedingende Prozesse sind, wortwörtlich nähme, dürfte man sich über den Verlauf der letzten 500 Jahre Geschichte gar nicht mehr wundern. Auf jeden Fall ist es ratsam, die These nicht ganz wörtlich zu nehmen und sich im Übrigen an Kant zu halten, der 1784 in einer unerhörten Formulierung von der »barbarischen Freiheit der schon gestifteten Staaten« sprach. Oberflächlich mögen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesem wechselseitigen Prozess von Staats- und Zivilisationsbildung einen »zivilisatorischen« Firnis als Schutz zugelegt haben. Allzu kratzfest durfte dieser schon allein deshalb nicht sein, weil bislang fast jeder Staat »seine« Bürgerinnen und Bürger schon einmal dazu aufrief und verpflichtete, Angehörigen anderer Gemeinwesen den Status des »Zivilisierten« zuerst abzusprechen, dann mit rabiaten Methoden wegzunehmen. Und wo Staaten zögerten, halfen gesellschaftliche Agenturen nach.

      Es wäre jedoch töricht zu bestreiten, dass es das, was Elias in einem nach wie vor faszinierenden Tableau als »Prozess der Zivilisation« beschreibt, gegeben hat. Rationalität und Haltbarkeit der Ergebnisse dieses Prozesses jedoch hat er ohne Zweifel überschätzt, dessen fundamentale Doppeldeutigkeit und Doppelbödigkeit weitgehend übersehen.

      Und genau daraus will Hans Peter Duerr Norbert Elias einen Strick drehen, indem er ihn in die Nähe jener Kolonialideologen rückt, die »westliche Zivilisation« normativ verstanden und verstehen, um diese dem Rest der Welt aufzuherrschen. Zwar konzediert er, dass Elias »keine expliziten Werturteile gefällt« habe und kolonialistischem bzw. eurozentrischem Überlegenheitsdünkel fernstehe, befürchtet aber, dass man Elias Thesen so verstehen könnte. Was gilt? Bei Duerr kann ziemlich oft »genauso gut das Gegenteil der Fall sein«. Diese krude Argumentationsweise kann man vergessen. Für unseren Zusammenhang relevant ist, wie Duerr sein Vorhaben versteht. Im Prinzip will er Elias nicht zum Kolonialisten stempeln: »Mir geht es vielmehr darum, die Behauptung, ›westlichen‹ Menschen sei innerhalb der letzten fünfhundert Jahre das, was Nietzsche ›die Tierzähmung des Menschen‹ genannt hat, wesentlich besser gelungen ist als den Orientalen, den Afrikanern oder Indianern, als falsch aufzuweisen.« Ein vernünftiges Vorhaben. Wer wollte es bestreiten? Duerr breitet im vorerst letzten Band seiner Studie zum »Mythos vom Zivilisations-Prozess« (»Obszönität und Gewalt«) auf über 700 Seiten ein immenses Material aus. Mit einer Beispiel an Beispiel reihenden Belegsammlung ohne jeden erkennbaren theoretischen Anspruch, größere historische Zusammenhänge herzustellen oder gar zu analysieren, will Duerr gleichsam kasuistisch darlegen, dass jener »Prozess der Zivilisation«, den Elias untersuchte, eigentlich gar nicht stattgefunden habe bzw. nicht stattfinden konnte, weil »in sämtlichen menschlichen Gesellschaften die gleichen elementaren Gefühls- und Verhaltensdispositionen anzutreffen sind«, die die Menschen zu immer gleichem Verhalten bringen. Alles läuft immer auf ungefähr dasselbe hinaus, alle Kulturen werden gleich und alle Katzen grau. Duerr rechtfertigt das aparte Vorgehen: »Selbstverständlich vernachlässigt derjenige die Unterschiede, der nach den Gemeinsamkeiten sucht. Das ist das Wesen der Abstraktion.« Richtig, aber es kommt schon noch ein wenig darauf an, wovon abstrahiert wird und welche Unterschiede man vernachlässigt. Wenn man von sozialen Prozessen die für jeden einzelnen charakteristische Differenzen wegstreicht oder einfach identische Handlungsmotive in sie hineinprojiziert, kommt man zum bündigen Ergebnis, dass alle Kulturen gleich sind. Im Grunde dreht Duerr Elias’ positiv besetzten Zivilisationsbegriff nur um und akzentuiert ihn negativ. Das ist nicht Duerrs Erfindung, sondern hat einen Grund in der Sache selbst.

      Begriffsgeschichtlich lässt sich zeigen, dass mit demselben Begriff ein und derselbe Prozess positiv oder negativ charakterisiert oder seine Existenz gar bestritten werden kann. Die Doppeldeutigkeit ist konstitutiv für den Begriff »Zivilisation«, und diese Doppeldeutigkeit allein macht ihn unbrauchbar für eine theoretisch konsistente Argumentation. Wenige sozialwissenschaftliche Grundbegriffe sind nach wie vor so mit historischen Mystifikationen verbunden wie der Begriff »Zivilisation«. An der zählebigsten dieser Mystifikationen hat Elias selbst mitgestrickt. Es geht dabei um die Rückprojektion der erst Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden und im Ersten Weltkrieg kulminierenden Kontroverse um die »Ideen von 1789« und die »Ideen von 1914«. 1789 steht dabei für »Zivilisation«, die von deutscher Seite als seichte Vorstufe der Barbarei abgewertet wurde; 1914 steht für »Kultur«, die von Frankreich her als Ausbund von Nationalismus und Militarismus dargestellt wurde. In modifizierter Form hat Elias die Ansätze dieser Kontroverse ins 18. Jahrhundert zurückverlegt: demnach war »Kultur« eine »gegen den Adel gerichtete Schöpfung der politisch ohnmächtigen deutschen Bildungsschicht« und betonte das Nationale, »während sich in ›civilisation‹ die französische höfische Gesellschaft artikuliert habe«, mit einem Vorrang für das Übernationale. Der Zürcher Historiker Jörg Fisch hat die unhaltbare Konstruktion eines wesentlichen Unterschieds zwischen dem französischen und dem deutschen Sprachgebrauch im 18. und 19. Jahrhundert fundiert zurückgewiesen.

      Entgegen solchen Anachronismen ist von einer weitgehend gleichen und positiven Bedeutung der beiden Begriffe auszugehen, die vor dem Ende des 19. Jahrhunderts weder national akzentuiert waren noch eine hierarchische Ordnung unterstellten. In den beiden artikulierte sich aber andererseits ein klarer Überlegenheitsanspruch gegenüber Nicht-Europäern. Gegenbegriffe zu »Kultur« und »Zivilisation« sind »Natur« und »Barbarei«, übergeordnet werden ihnen gelegentlich »Bildung« (etwa bei Humboldt) oder »Moral« (z. B. bei Kant).

      Bevor die beiden Begriffe zu Synonyma wurden, bezeichnete das lateinische Wort »cultura« die Bestellung des Bodens in der Landwirtschaft und erst sekundär die Erziehung des Menschen (»cultura animi«). »Zivilisation« bzw. das lateinische »civilitas« dagegen verlor nie ganz die Verbindung mit dem Stammwort »civis«/Bürger bzw. »civitas«/ Bürgerschaft, Staat. Doch hat sich der Gegensatz zwischen landwirtschaftlich und politisch verstandenem Begriff schnell zersetzt, weil die Wörter »civilitas«, »civilité«, »civility« und – in geringerem Maße – »civiltà« gleichsam entpolitisiert wurden und seit der frühen Neuzeit »Höflichkeit« und »gutes Benehmen« bedeuten.

      Spätestens mit der Aufklärung werden »Kultur« und »Zivilisation« in allen europäischen Sprachen zu Synonyma und in dem Maße geschichtsphilosophisch aufgeladen, wie die theologisch begründeten Weltbilder verblassen oder ganz verschwinden. »Kultur« und »Zivilisation« bilden jetzt das Telos der Geschichte. Als geschichtsphilosophische Zielprojektionen haben sie kaum empirisch bestimmbare Gehalte und dienen vor allem dazu, die Menschen von der Natur und natürlicher Evolution abzuheben und auf die Zukunft auszurichten. In dieser Perspektive geraten »Kultur« und »Zivilisation« zur zweiten Natur der Menschen, zu dem, was diese von der Natur grundsätzlich unterscheidet.

      Mit der geschichtsphilosophischen Ladung handeln sich die beiden Begriffe eine Doppeldeutigkeit ein: »Kultur« und »Zivilisation« werden zwar im allgemeinen als aufsteigende Linie oder Fortschritt konzipiert, doch muss aus plausiblen Gründen und bloßer Erfahrung eingeräumt werden, dass die einzelnen Schritte der Kultivierung und Zivilisierung positive und/oder negative