Название | Aufgreifen, begreifen, angreifen |
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Автор произведения | Rudolf Walther |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783941895508 |
Eine pfiffige Variante des Rekurses auf »die« Zivilisation präsentierte 1993 der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington. Nachdem der Osten und dessen Herrschaftsideologie zusammengebrochen sind, sieht er die nächsten Konflikte entlang der Grenzen der »Kulturen« und »Zivilisationen« ausbrechen (The Clash of Civilizations – Der Zusammenprall der Kulturen). Die erste »zivilisatorische« Tat Huntingtons besteht darin, dass er sich im Schutz einer billigen Polemik gegen den »Menschenrechtsimperialismus« von universalistischen Normen verabschiedet, um die Abschottung der eigenen »Kultur« legitimieren zu können. Begriffsgeschichtlich dokumentiert er seine Vernagelung dadurch, dass er auf den weit gefassten angelsächsischen Zivilisationsbegriff verzichtet und stattdessen auf »culture« setzt – im Amerikanischen allemal nur ein Synonym für den »American way of life«. Insofern steht die deutsche Übersetzung des Aufsatzes den wahren Absichten des Autors näher als das Original und entlarvt dessen Chauvinismus. Was der »westlichen« Besitzstandswahrung dient, kommt gerade recht, so auch ein paar frisch angestrichene geopolitische Ladenhüter: Der Brennpunkt künftiger Konflikte liege, so Huntington, »zwischen dem Westen und mehreren islamisch-konfuzianischen Staaten«, denn »der Westen ist westlich und modern«. In jeder Hinsicht ein weites Feld.
Besonders beliebt ist neuerdings die Schuldzuweisung für den »zivilisatorischen« Verfall an lasche Lehrerinnen und Lehrer sowie an deren emanzipatorische Erziehungsmethoden. Falls die Geltung »zivilisatorischer Standards« allein oder auch nur primär vom Tun oder Nichttun des Schulpersonals abhängen sollte – wie die Schuldzuweisung unterstellt –, sollte man den Zivilisationsladen lieber gleich dichtmachen. Garantie für »zivilisatorische Standards« – das schafft kein Schulsystem; zum Glück übrigens, sonst hätte die Demokratisierung nach 1945 wenig Chancen gehabt, denn das damals angeblich mit der »Zivilisierung« betraute Lehrpersonal kam direkt aus dem Krieg und blieb noch sehr lange im Amt. Statt bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit larmoyant den Verlust »zivilisatorischer Standards« zu beklagen, ohne jede Reflexion darauf, was »Zivilisation« bedeutet, käme es darauf an zu untersuchen, wie die empörenden gesellschaftlichen Realitäten historisch, politisch, wirtschaftlich und sozialpsychologisch mit dem vermeintlich rundum Akzeptablen und Positiven zusammenhängen. Die sonntägliche Beschwörung »zivilisatorischer Standards« verschleiert nur, was jede historisch bestimmte Art zu leben und zu arbeiten, zu regieren und regiert zu werden an Hässlichem und Alltäglichem hervorbringt. Das ist Teil und Moment des widersprüchlichen Ganzen und lässt sich nicht anachronistisch verrechnen mit irgendwelchen »zivilisatorischen«, »westlichen« oder wie auch immer beschworenen Kassenbeständen oder Überschüssen aus besseren Tagen, im Jargon »Werten«. Als Horkheimer in wahrlich finsterer Zeit (1944/45) vom »Zusammenbruch dieser Zivilisation« und etwas ungeschützt von »Werten«, die »zu neuem Leben« gebracht werden müssten, sprach, notierte Adorno am Rand des Textes: »Vorsicht, klingt zu kulturkonservativ. Sagen, dass die Werte bewahrt werden, wenn man sie nicht bewahrt, sondern weitertreibt.« Die Vorstellung einer universalgeschichtlich aufsteigenden Linie »der« Zivilisation ist nicht falsch, aber einseitig, denn solch aufsteigender Fortschritt betrifft nicht »die« Zivilisation, sondern vor allem jene Bereiche, in denen sich starke Interessen mit Macht und Herrschaft verschwistern: »Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe« (Th. W. Adorno). Mit anderen Worten: Was Menschen sind, was aus ihnen geworden ist und weiterhin wird, bleibt ziemlich ungewiss und vielfältig verflochten mit dem geschichtlichen Prozess, d. h. dem Auf und Ab von Kontinuität und Diskontinuität, Entwicklung und Stagnation, Zivilisierung und Barbarisierung. Unbestreitbar ist jedoch der massive technologische Fortschritt in der Welt der Mittel; diese werden mehr und perfekter und dies in jeder Hinsicht. Jene Menschen und Institutionen, die mit Hilfe dieser Mittel Macht, Herrschaft und Gewalt verwalten, kriegen immer ungeheuerlichere und unberechenbarere Arsenale in die Hand. Und die Zwecke, denen diese Mittel zu Diensten stehen, tragen immer neue Verkleidungen. Mit einem lupenreinen Gesinnungsbegriff von »Verantwortung« wird versucht, der (vielleicht!) berechtigten und angemessenen militärischen Intervention ein zivilisatorisches Motivkostüm umzubinden. Die Welt der Herrschafts- und Gewaltmittel hat sich teilweise verselbständigt und kann jenen, die über sie legal verfügen, jederzeit ganz oder teilweise über den Kopf wachsen oder sie zu hilflosen Zauberlehrlingen und Marionetten machen. Greifen jedoch Einzelne zur Gewalt und verüben entsetzliche Taten, sieht der common sense immer schon »die« Zivilisation untergehen, so als ob das schlechthin Böse als eine Art Heimsuchung von außen in eine sonst friedliche Gesellschaft eingedrungen wäre. In dem Moment, in dem sich Siebzehnjährige bewaffnen oder von interessierten Bürgerkriegshäuptlingen bewaffnet werden, stellen sich viele und komplexe Fragen, aber nicht die simple und simplifizierende nach dem Verbleib »zivilisatorischer Standards«. Genauso wenig, wenn zwei zehnjährige Buben ein dreijähriges Kind eineinhalb Stunden durch Liverpool schleppen und dann ermorden: »Vielleicht sagt der scheinheilige Aufschrei über den Kindsmord mehr aus über das Land als über die Tat« (Reiner Luyken, DIE ZEIT 3.12.93).
Auf allen drei Ebenen werden »Zivilisation« und »Barbarei« entknotet und einzelnen bzw. Gruppen zugeordnet statt in ihrem gesellschaftlich und historisch bestimmten Zusammenhang gesehen. Diese tagespolitische Debatte durchzieht auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung darüber, ob es einen »Prozess der Zivilisation« überhaupt gebe, oder ob man das Ganze als »Mythos« abtun könne.
Welche Konfusion die pauschale Berufung auf »Zivilisation« und »zivilisatorische Standards« oder die Unterstellung eines mehr oder weniger linearen »Prozesses der Zivilisation« hervorruft, lässt sich an der Kontroverse um die Bücher von Norbert Elias und Hans Peter Duerr zeigen. Elias begreift »zivilisiertes Verhalten« als Resultat historisch permanent zunehmender Affektkontrolle der Menschen. Diese Selbstkontrolle ist verbunden mit einer Privatisierung bzw. Intimisierung körperlicher Funktionen. Begleitet wird dieser »Prozess der Zivilisation« zunächst mit der Konzentration, dann mit der Monopolisierung der Gewalt in staatlicher Hand. Gewalt wird durchorganisiert und arbeitsteilig verschiedenen Trägern übergeben. »Man kann die Zivilisation des Verhaltens und den entsprechenden Umbau des menschlichen Bewusstseins- und Triebhaushalts nicht verstehen, ohne den Prozess der Staatenbildung und darin jene fortschreitende Zentralisierung der Gesellschaft zu verfolgen« (Norbert Elias). Ohne Zweifel beruhigt die staatliche Konzentration der Gewalt – unter bestimmten Bedingungen – das gesellschaftliche Gewaltgeschehen. Überzogen ist jedoch die Vermutung, der Prozess der Institutionalisierung der Gewalt und die Verwandlung von Fremd- in Selbstzwang durch die Verinnerlichung »zivilisatorischer« Normen laufe immer und automatisch auf eine Rationalisierung der Gewalt hinaus. Rationalisierung verstanden in dem Doppelsinne von Beschränkung und vernunftgeleiteter Anwendung der Gewalt. Die Institutionalisierung von Gewalt, so viel lehrt ein rascher Blick auf die Geschichte allemal noch, kann die Gewaltanwendung berechenbarer, rationaler in ihrer Ziel-Mittel-Relation und gerechter machen. Haltbare Garantien dafür gibt es aber noch nicht sehr lange und längst nicht überall. Was die im einzelnen Menschen verankerten »zivilisatorischen Standards« dazu beitragen, ist weitgehend ungeklärt. Empirisch erwiesen ist jedoch, dass jene Standards nachhaltigem wirtschaftlichem Druck und andauernder sozialer Not nicht lange standhalten. Ganz zu schweigen vom förmlichen Verschwinden jeglicher »zivilisatorischer Standards«, wenn marodierende Männerbanden unter staatlicher Aufsicht Bürgerkriege ausfechten. Aber auch die Haltbarkeit rechtsstaatlicher Begrenzung der Gewalt steht nirgends ein für allemal fest; dass staatliche Gewalt berechenbar, rational und neutral eingesetzt wird von den sie verwaltenden Institutionen, ist jedenfalls auch in demokratischen Rechtsstaaten kein Naturgesetz.
Das hängt mit der Begründung von Staatsmacht zusammen. Viel eher als in der Form von Vertragsabschlüssen oder anderen konsensualen Verfahren ist die Begründung von Staaten historisch wie aktuell als organisiertes Verbrechen darstellbar (einen matten Abglanz davon