Aufgreifen, begreifen, angreifen. Rudolf Walther

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Название Aufgreifen, begreifen, angreifen
Автор произведения Rudolf Walther
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895508



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erst ermöglicht. Ob bei der Investitionsberatung multinationaler Konzerne, bei staatlichen Entwicklungsprojekten oder als »Ratgeber von Staatschefs« – für alles stellt »die Geographie« nach Lacoste »ein ausgezeichnetes Herrschaftsmittel« bereit (»Den Boden denken«, Autrement, Nr. 152, 1995). Der Formel à la mode entsprechend, wird da zwar »bodennah« platt geredet, aber wenig gedacht – schon gar nichts zu Ende. In der Zeitschrift »Hérodote«, die den Untertitel »Revue de géographie et géopolitique« erst seit 1982 trägt, hieß die Zielgruppe 1976 noch etwas anders: »für die Unterdrückten«. Was jedoch den Gegenstand und die Methode der aufgewärmten Geopolitik ausmacht, so ist alles beim Alten geblieben: Kein einziger Beitrag in 20 Jahren, der die Grundlagen klärte. Vielmehr tischt das Organ unentwegt Ladenhüter auf, die in ihrer Schlichtheit auch von Haushofer stammen könnten. »Die geopolitische Methode« bezieht »ihre Argumente aus der geographischen Logik, und als Arbeitsgrundlage dienen ihr Karten« (Yves Lacoste 1990). Allenfalls kann man von einem Rückzugsmanöver sprechen, wenn Lacoste einräumt, dass »es ja nicht eine Geopolitik, sondern verschiedene Geopolitiken« gibt – und zwar so viele wie Nationalstaaten. Das war die Einbruchstelle für den mit Ressentiments gegen Deutsche unterlegten Salon-Nationalismus, in den Lacoste und die gesamte Zeitschrift nach 1989 umkippten. Die Zeitschrift bietet heute nur noch nationale Propaganda, unter dem Vorwand, man dürfe die »Idee der Nation« nicht der »nationalistischen extremen Rechten« (Hérodote, Nr. 72/73, 1994) überlassen. Fazit: Zu den »geopolitischen« kamen die post-Jetons hinzu (»Westen«, »Zivilisation«, »Identität« und »kollektives Bewußtsein«). Geopolitik aber blieb, was sie immer war: Leutnants-Latein in Form militärischer Geländekunde, die bestimmt wird durch logistische, taktische und strategische Plausibilitätserwägungen oder Leitartikel-Prosa, die ihre nationale Borniertheit hinter begrifflichen Nebeln verbirgt. Nur lächerlich wirkt, wenn derlei von der deutschen Anhängerschaft als »Hérodote-Schule« beweihräuchert wird.

      Der italienischen Linie der Geopolitik fehlt jede intellektuelle Eigenständigkeit. Sie schwimmt mit ihrer Zeitschrift »Limes« im Pariser Schlepptau. »Limes« ist hemmungsloser – da darf man auch das »Italien ohne Helden« oder den »Genozid an der Nation« bejammern. Ein Teil der Autoren gehörte einst zur kommunistischen Linken. Nachdem diese aus der Mode kam, bleiben vielen nur »unsere wahren nationalen Interessen« (Federico Rampini) und Nationalismus übrig. Mit Carlo Jean hat die Zeitschrift ein Mitglied im »wissenschaftlichen« Beirat, das im Stil wilhelminischer Generäle über die »nationale Idee der Sicherheit« und »gerechte Kriege« schwadroniert. Andere machen die »Entnationalisierung« der Linken für den Zustand der staatlichen Institutionen verantwortlich, nicht etwa Parteiensumpf, Mafia und Korruption. »Die Mäßigung«, die sich »Limes« auferlegt, nachdem »wir immer zu groß oder zu klein sein wollten«, endet bei der blutsrechtlichen Eingemeindung aller emigrierten Italiener: »Dann kommen wir auf etwa 100 Millionen«, d. h. auf »ein geopolitisches Vorkommen, das darauf wartet, ausgebeutet zu werden« (Limes 4/1994). Aus dem Editorial der Zeitschrift »Geopolitica« von 1939 tönte die »Mäßigung« ähnlich: »Die Grenze Italiens liegt in den Karpaten.« Geopolitik ist in Italien eine Schöpfung der faschistischen Regierung, was die heutigen Adepten nicht zu stören scheint. Man redet einfach von »der Gewohnheit unserer Kultur, sich bei der Analyse verschiedenster Bereiche des räumlichen oder territorialen Schlüssels« zu bedienen. Im publizistischen Handgemenge dominieren Seichtigkeiten und Vereinfachungen: Deutschland sei »besessen von einem Gefühl der Unsicherheit ...: dem Fehlen eines Selbstbewusstsein stiftenden Kollektivgedächtnisses und einer sicher definierten geographischen Lage. Daher sein unruhiger Charakter, die ständige Versuchung, auf geopolitische Wanderschaft zu gehen, immer auf der Suche nach der eigenen Identität« (Angelo Bolaffi) – wie gehabt, Verdun und Stalingrad als Folge der Leidenschaft für »geopolitische Wanderschaft«.

      In der Bundesrepublik hat es drei Versuche gegeben, die Geopolitik wiederzubeleben. Mit dem ersten brachten die alten Kämpen die »Zeitschrift für Geopolitik« von 1951-56 wieder heraus. Das Unternehmen driftete so weit nach rechts, dass bald Autoren und Leser fehlten. Der zweite Versuch begann 1981 parallel mit Kohls »geistig-moralischer Wende«. Konservative Historiker führten in tagespolitisch motivierten Beiträgen alte »geopolitische« Klischées und simple Denkmuster »stillschweigend« und ohne »stichhaltige Argumente« (Hans-Ulrich Wehler 1982) in die Debatte ein. Vereinzelt fand Michael Stürmer damit zwar Nachahmer in Leitartikeln und Feuilletons, aber der Vorstoß versandete. Der dritte Anlauf, Geopolitik salonfähig zu machen, setzte nach 1989 ein. Neokonservative Nachwuchshistoriker bliesen zur Planierung der Brüche in der deutschen Geschichte und zu deren »Normalisierung« im Namen der Nation (B. Seebacher-B.). Mit dem »Rückruf in die Geschichte« sollte die Geopolitik als »Orientierungswissenschaft« (Karlheinz Weißmann) installiert werden. Die Trommler der »selbstbewussten Nation« entdeckten die »Mittellage« bzw. Haushofers »Zerrzone« und empfahlen gleich die Rückkehr zu den »Erfahrungen der Großväter und Urgroßväter« (Karl-Eckard Hahn). Karl Schlögel sah Berlin »an einer Magistrale, ... die Westeuropa mit dem Pazifik verbindet« und mahnte ultimativ die Beschäftigung mit »Erdkunde und Geopolitik« an.

      Mittlerweile ist diese Agitation in offenen Nationalismus und Revisionismus umgeschlagen, die sich in Sammelbänden zur »Westbindung« und zur »selbstbewussten Nation« ausleben. Es geht nicht darum, jedem, der sich am restlos ausgedroschenen nationalen oder geopolitischen Stroh zu schaffen macht, eine alte Schelle umzuhängen. Nachzufragen ist, ob einer überhaupt Sinnvolles und Sachhaltiges ausdrückt, wenn er Geopolitik sagt oder schreibt. Die Beweislast dafür liegt bei den Autoren, und diese sind die Belege bislang schuldig geblieben.

      So wie in Frankreich und Italien ortlos gewordene Linke in der Geopolitik neue Orientierung suchten, so auch hierzulande. Mit Haushofer will man zwar nichts mehr zu tun haben, aber damit »keineswegs ... pauschal den Stab über alle Varianten geopolitischen Denkens brechen« (Dan Diner). Derlei Beteuerungen werden nicht überzeugender mit dem Hinweis auf »die Schule von Yves Lacoste«, denn auch für sie gilt, dass von den vielen Varianten, in denen der Begriff »Geopolitik« auftaucht, keine diskutablen Standards genügt – von Modischem in der Preislage einer »Geopolitik multikultureller Gesellschaften« (Claus Leggewie) abgesehen.

      Viele ostdeutsche Politologen fielen nach Abwicklung und Warteschleife nicht nur in ein existentielles Loch. Sie verloren gleichzeitig ihre zum Katechismus verkommene methodologische Grundausstattung – den Marxismus-Leninismus. In zwei ostdeutschen Zeitschriften (»Berliner Debatte INITIAL« und »WeltTrends«) schufen sich einige dieser Wissenschaftler Foren der theoretischen und politischen Selbstverständigung. Beide suchten nach »neuen Sichten«, »neuen Diskursnetzen« und »intellektuellen Freiräumen«, landeten aber zügig in einer Sackgasse: Unter westdeutscher und ausländischer Beteiligung machte man sich an die Wiederbelebung einer Totgeburt und prüfte »die Erklärungsmächtigkeit geopolitischen Denkens«. An den Zeitläuften wie ihrem früheren Dogmatismus und Determinismus irre geworden, griffen sie zum geopolitischen Dogmatismus, der gegenüber dem alten den Vorteil intellektuell noch anspruchsloserer Handhabbarkeit aufweist. Yves Lacoste und Étienne Sur dürfen sich und die französische »Géopolitique« in den »WeltTrends« gleich selbst loben, und der Doyen der deutschen »Geopolitik« – Hans-Adolf Jacobsen – bügelt deren Geschichte wieder einmal glatt. Andere Autoren möbeln das Vokabular zeitgeistig auf und empfehlen den »Geopolitikern«, sich »als Wissenschaftler zu profilieren.«

      »Raum und Zeit« werden zu »an sich bedeutungslosen Termini« erklärt. Demnach könne man zwischen »Zeit- und Raumlogik« wählen wie zwischen Wein und Bier. Die Pointe dieser These: Der Marxismus-Leninismus war der »Zeitlogik« verfallen, also muss man fortan auf »Raumlogik« umschalten. Die Begründung liest sich rührend: »In einem dunklen Kerker oder in moderner Isolationshaft hat man alle Zeit der Welt, doch man kann daran nur irre werden. Und warum ziehen es begüterte Schichten stets vor, in großen Wohnungen ... zu wohnen, und warum haben auch Honecker & Co. sich eher selten mit einer sozialistischen Einraumwohnung als ihrem Domizil begnügt? Warum sind ... ganze Altbaustadtviertel in Westdeutschland von ehemaligen 68ern mit Beschlag belegt? (...) Doch wohl genau deshalb, weil alle diese Gruppen wissen und täglich spüren, dass man Platz und Raum braucht, um sich zu entwickeln oder um sich wohlzufühlen« (Berliner Debatte INITIAL 3/1995). »Geopolitische Raumlogik« beruht auf suggestiven Fragen mit Binsenwahrheiten als Lösungen – »man braucht Platz«. Geopolitisch nichts