Aufgreifen, begreifen, angreifen. Rudolf Walther

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Название Aufgreifen, begreifen, angreifen
Автор произведения Rudolf Walther
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895508



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und Kinder der Not – wo sie sich nicht als Winkelzüge zur Machterhaltung entlarvten –, aber ihrer Wirksamkeit hat dies nicht geschadet.

      Burke kritisierte die Französische Revolution nicht wegen ihrer Exzesse, sondern an ihren Prinzipien. Ob mit der Idee staatsbürgerlicher Gleichheit oder individueller Freiheit, die Revolutionäre befinden sich nach Burke »im Krieg mit der Natur«. In »die natürliche Ordnung der Dinge« sind Individuen, politische Institutionen, Traditionen, Religion, Werte und Normen fest eingebunden und aufeinander abgestimmt. In solchen Gesellschaften erfolgt die Identitätsbildung kollektiv, dauerhaft und von oben; es gibt eine institutionelle Identitätsbestimmung durch rigide, im europäischen Raum christlich-theologisch gerechtfertigte, ständisch begründete Rollenzuteilung. Diese Rollenidentitäten stärken weniger das Individuum als die Kontinuität, den Zusammenhalt und die Stabilität korporativer Gebilde und des Ganzen. Dessen durch Tradition und Herkommen, Formen und Normen, Stabilität und Alter gesicherte Macht soll sich – religiös bekräftigt – in den Köpfen der Untertanen als unantastbar und ewig festfressen. Burke insistierte darauf, dass es nicht die Menschen sein dürften, die ihre Geschichte machen: »Wenn die Bürger eines freien Staates sich von allem Kitzel kurzsichtiger Begierden gereinigt haben, welches ohne Religion schlechterdings nie geschehen wird, wenn sie sich bewusst sind, dass sie eine Macht besitzen, die nur so lange rechtmäßig bleibt, als sie mit den Gesetzen einer ewigen unwandelbaren Ordnung, in welcher Wille und Vernunft eins sind, zusammenstimmt, und dass sie vielleicht ein höheres Glied in der geheimnisvollen Kette ausmachen, an welcher diese Macht von einer Stufe zur anderen heruntergeleitet wird, dann werden sie sich sorgfältig hüten, das Geringste davon einer unwürdigen oder einer untauglichen Hand anzuvertrauen.« Meint: Aufklärung und Revolution sind untauglich und unwürdig. Semantisch (»higher link« bzw. »höheres Glied in der geheimnisvollen Kette«) spielt Burke auf den Topos der »great chain of beings« (Arthur O. Lovejoy 1933) an, um jeden Spalt abzudichten, durch den Veränderungspotentiale in das vorausbestimmte Verhältnis von Untertan und Gesellschaft hätten eindringen können. Radikalisiert eines der konstitutiven Elemente des Zusammenlebens (Untertanen, politische Institutionen, Traditionen, Religion, Werte und Normen) seine Ansprüche, beginnen für Burke je nachdem allgemeines Chaos, monarchische Tyrannis oder Anarchie. Am schlimmsten kommt es, wenn die Untertanen modern werden und sich zum politischen Demos, zum Souverän machen: »Seit der Aufhebung der Stände gibt es kein Grundgesetz, keinen strengen Vertrag, keine hergebrachte Sitte mehr, die dieser Versammlung Einhalt tun könnten.«

      Es ist das Verdienst von Jürgen Habermas, anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises (1974) Licht in notorisch trübe Vorstellungen gebracht zu haben. Er stellte sich die Frage: »Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?« Die alten Gesellschaften konnten zu ihrer Stabilisierung und zur Integration ihrer Mitglieder auf Traditionsbestände, Religionen, allgemein akzeptierte Werte- und Normenkanons zurückgreifen. Damit vermochten sie, den vielen Einzelnen einen fixen Status bzw. eine Rollenidentität anzudienen. Mit der Universalisierung der Ansprüche des Einzelnen im Namen von Freiheit, Gleichheit, Menschen- und Bürgerrechten sind Rückgriffe auf traditionale religiöse und politische Werte und Normen, die zwischen Allgemeinem und Besonderem (vorab!) feste Vermittlungen und institutionelle Sicherungen vorsehen, problematisch geworden. Da egalitäre Rechte und Ansprüche des Subjekts rational und verallgemeinerungsfähig nicht mehr zu bestreiten sind, werden Positionen, von denen aus dies in religiöser oder politischer Absicht trotzdem gefordert wird, zu reaktionären Parteistandpunkten. Moderne Gesellschaften und die dazu gehörenden Staaten können sich nicht mehr auf unstrittige, allgemein akzeptierte traditionelle Werte, religiöse Bindungen oder überkommene politische Normen berufen und diese den Individuen als Status oder Rollenidentität einfach überstülpen. Seit der Aufklärung sind diese Bindungen und Normen subjektiver Überprüfung und Kritik ausgesetzt und unterliegen den Kriterien von rationaler Begründbarkeit und demokratischer Verallgemeinerungsfähigkeit – aber nicht länger traditional begründeter, autoritativer Geltung. Könige und Priester sind nicht mehr unter sich. Die Untertanen und Laien spielen jetzt mit und verteidigen ihre Rechte, nicht dynastische Herkunftslegenden, ethnische Abstammungsgeschichten, »kollektive Identitäten« oder andere Mythen: Rechtsstaat, Bürger- und Menschenrechte, Demokratie, Verfassung zu verteidigen – im definitionsbedürftigen Extremfall unter dem Einsatz des Lebens –, ist Bestandteil der Bürgerrechte und -pflichten. Es gibt keine demokratisch akzeptable Begründung dafür, der beliebig herzitierbaren »Nation« den gleichen oder auch nur annähernd gleichen Status zuzusprechen – aber jede Menge guter Gründe, endlich darauf zu verzichten. Horaz’ Maxime, wonach es »süß und ehrenvoll« sei, »fürs Vaterland zu sterben«, meinte im Übrigen mit »patria« eine Rechtsgemeinschaft, nicht jenes dumpfe Gefühl, aus dem moderne Nationen sprießen.

      Ausgehend von einem filigran geknüpften Netz kommunikationstheoretischer und entwicklungspsycholgischer Kategorien, hat Habermas die historisch und gesellschaftlich bedingten Formen der Identitätsbildung im Anschluss an G. H. Mead untersucht. Er fasst »die Ich-Identität des Erwachsenen« als »Fähigkeit, neue Identitäten aufzubauen und zugleich mit den überwundenen zu integrieren, um sich und seine Interaktionen zu einer unverwechselbaren Lebensgeschichte zu organisieren«; und er benennt auch die normativen Implikationen einer so begriffenen Identität: »nur eine universalistische Moral, die allgemeine Normen (und verallgemeinerungsfähige Interessen) als vernünftig auszeichnet, kann mit guten Gründen verteidigt werden«, d. h. »nur der Begriff einer Ich-Identität, die zugleich Freiheit und Individuierung des einzelnen in komplexen Rollensystemen sichert, kann heute eine zustimmungsfähige Orientierung für Bildungsprozesse abgeben.« Wenn man Großgruppen mit diesen Ansprüchen konfrontiert, leuchtet sofort ein, dass es niemals Gebilde gegeben hat, die den universalistischen Normen auch nur halbwegs entsprochen haben – am wenigsten herkunftsdefinierte »Nationen«. »Nationen« können keine Basis für vernünftige »kollektive Identität« abgeben, weil es jenseits des »plébiscit de tous les jours« kein Verfahren gibt, um zu bestimmen, was eine Nation ist. »Nationale Identitäten« sind deshalb projektive Wahnbilder, die Großgruppen von sich selbst und anderen ausbilden, um in deren Windschatten in jeder Hinsicht partikulare Interessen durchzusetzen. Entwicklungspsychologisch handelt es sich um pathologische Regressionsphänomene. Darin, was im Namen kollektiver Wahnbilder faktisch passiert, unterscheiden sich Großgruppen enorm, in der Strickart und Funktion ihrer Projektionen überhaupt nicht. Als Handlungsnormen für die Begründung politischer Ziele haben »kollektive Identitäten« eine ebenso erbärmliche wie kriminelle Geschichte und keinerlei rational begründbare und sozial verträgliche Zukunft.

      Sozialwissenschaft, die sich ihre Realitäten aus Legosteinchen zusammenbaut, ficht das wenig an. Ein Kolloquium über »Konsensmuster und Formen nationaler Identität« verzichtete der Einfachheit halber auf die erste Frage, ob es denn so etwas wie »nationale Identität« überhaupt gebe. Das verwundert nicht, erfährt man doch vom mittelhessischen Kleinmeister (und Referenten) Bernhard Giesen Unerhörtes über den historischen Frischling »Nation«: »Das, was eine Nationalität ausmacht, liegt unverrückbar und unveränderbar fest – Geschichte und Geburt, Kultur und Sprache lassen sich nicht im nachhinein verändern.« Die Begründung dafür liest sich in der Gießener Verballhornung von Wittgensteins letztem Satz – zu schweigen, worüber man nicht sprechen könne – wie die Betriebsanleitung für die diskursive Windmaschine: »Man weiß, was es (die Nation, RW) ist, kann aber nicht darüber argumentieren« – aber Bücher schreiben und Vorträge halten.

      Postscriptum I (1998): »Die Identität«, sagte das Pferd

      Das Ungemach mit dem Begriff »Identität der Nation« hat bereits jener Schweizer Romancier vorausgesehen, der ihn zum ersten Mal überhaupt gebrauchte. An neun Stellen taucht der Begriff in der ersten Fassung von Gottfried Kellers »Der Grüne Heinrich« von 1854/55 auf. Allein sieben Mal benutzt Keller den Begriff in dem berühmten Kapitel (Buch IV, 7), in dem Heinrich Lee seine Heimkehr im Traum vorwegnimmt. Heinrich überquert hoch zu Ross eine überdachte »Prachtbrücke« aus Marmor. An den Innenwänden der Brücke leuchten Fresken, die »die ganze fortlaufende Geschichte und alle Tätigkeiten des Landes« darstellen. Auf der Brücke bewegt sich »das lebendige Volk«, und zwar so, dass es mit der »tüchtigen Verständlichkeit und Gemeingenießbarkeit« der »alten Freskomalerei … eines war.« Der träumende Heinrich hat sogar den Eindruck, die Figuren träten aus den Bildern heraus und